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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

In dem Vortrage über Individuum und Jenseits lesen wir: "Es heißt den
Individualismus in volkswirtschaftlicher sgemeint ist wohl soziales und auch in
ethischer Hinsicht zu weit treiben, wenn man verlangt, daß sich jeder Mensch frei
ausleben, d. h. so lange umhertasten dürfe, bis er alle seine Anlagen gleichmäßig
vollkommen entwickelt habe. Der literarische Individualismus, der dies anstrebt,
rechnet nicht mit den Menschen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. sAuch
nicht einmal das; der Mensch soll schon darum kein sich allein lebendes Sonder¬
wesen sein, weil er als solches gnr nicht existieren, viel weniger Mensch sein könnte;
Individuen, d. h. unteilbare Wesen, sind wirklich vorhanden; von allen Beziehungen
-- und die menschliche Form der Beziehung ist die Verpflichtung -- losgelöste
Sonderwesen, Miniaturabsolute, gibt es nur in der verschrobnen Phantasie der so¬
genannten Individualisten, die den Sinn des Namens, den sie sich beilegen, gar
nicht verstehn.j Volkswirtschaftlich und ethisch hat jeder sich als dienendes Glied
eines großen Organismus zu fühlen und braucht in dieser Stellung keine Ent¬
würdigung jund keine Beeinträchtignngj der Menschenrechte zu erblicken. Nicht die
Selbstherrlichkeit ist das letzte Wort der Sittenlehre, sondern die Selbstbescheidung.
Es ist eine ganz unberechtigte Übertragung ästhetischer Auffassung auf das praktische
Leben, wenn man die Harmonie aller Kräfte, die ästhetisch befriedigt, in der Weise
zum Moralprinzip erhebt, daß man die Erziehung nicht eher abschließen will, als
bis alle in einem Menschen möglicherweise schlummernden Kräfte hervorgelockt sind.
Die große Zeitverschwendung, die mit der Durchführung dieses Prinzips in der
Pädagogik Platz griffe, würde in den meisten Fällen nicht die Kosten lohnen."

Die Dame ist so kühn, auch mit den Theologen anzubinden. Die folgende
Stelle aus dem letzten Vortrag wird den Beifall der Orthodoxen beider Konfessionen
finden. "Der Neukantianismus ist deswegen so bequem für die Theologen, weil
sie sich erstens mit der Berufung auf Kant ein philosophisches Ansehen geben können,
und weil er zweitens mit der Lehre von der Unbegreiflichkeit alles Übersinnlichen
jeder Dogmatik den Boden unter den Füßen wegzieht. sStatt Unbegreiflichkeit
müßte hier Unerkennbarkeit stehn. Die Kirche lehrt nicht, daß die Trinitnt be¬
greiflich, sondern nur, daß sie durch die Offenbarung, nicht durch die Vernunft,
erkennbar sei.s In diesem Vertrauen auf die Stärke ihrer Position geht die
Ritschlsche Schule so weit, der historischen Kritik Tür und Tor zu öffnen. Der
Verstand kann immer nur Endliches begreifen; daran mag er sich abmühn, so viel
er will, er wird vor dem Unendlichen als dein Unbegreiflichen doch Halt machen
müssen, und dieses Unbegreifliche bleibt dann der unbestrittene Alleinbesitz der Kirche.
Es wird also die Transzendenz des Übersinnlichen anerkannt, aber kein Versuch
gemacht, es dem Verstände annehmbar zu machen. Man macht dem lieben Gott
seine Verbeugung und geht zu andern Dingen über, die man seinem Einfluß ent¬
zogen glaubt. sSo meinen es die Leute nicht, die an Gott glauben, aber sein
Wesen für unerkennbar und unerforschlich halten; sie verschwenden nur keine Zeit
und Kraft auf unnütze Grübeleien, sind aber keineswegs der Ansicht, daß die Dinge,
mit denen sie sich beschäftigen, Gottes Einfluß entzogen seien, glauben vielmehr fest,
daß ohne den Willen Gottes kein Sperling vom Dache fällt, und sie mühen sich,
den Willen Gottes, soweit er erkennbar ist, zu erfüllen. So hält es, von den Theo¬
logen nicht zu reden, auch jeder christliche Bauers Die Religion begnügt sich mit
dem Gebiet der praktischen Ideale; die objektive Wahrheit hat damit so wenig zu
schaffen, wie etwa mit dem Reiche der Dichtung. sWieder schief aufgefaßt! Gott,
Schöpfung, Erlösung, Unsterblichkeit gelten uns als objektive Wahrheit. Aber diese
Dinge so zu erkennen, wie wir die Natur und unser eignes Ich erkennen, An¬
schauung und ein exaktes Wissen davon zu gewinnen, dazu ist unser Erkenntnis¬
vermögen nicht eingerichtet. Es reicht hin, den Willen Gottes zu erkennen und aus
der christlichem Hoffnung Kraft zur Erfüllung unsrer Pflichten zu schöpfen, also für
alle praktischen Zwecke, aber wenn wir theoretisch mehr als den bloßen Glaube"
an die Tatsachen des Jenseits verlangen, wenn wir sie beschrieben haben wollen,
dann müssen wir uns klar machen, daß jede Vorstellung der jenseitigen Dinge nur


Maßgebliches und Unmaßgebliches

In dem Vortrage über Individuum und Jenseits lesen wir: „Es heißt den
Individualismus in volkswirtschaftlicher sgemeint ist wohl soziales und auch in
ethischer Hinsicht zu weit treiben, wenn man verlangt, daß sich jeder Mensch frei
ausleben, d. h. so lange umhertasten dürfe, bis er alle seine Anlagen gleichmäßig
vollkommen entwickelt habe. Der literarische Individualismus, der dies anstrebt,
rechnet nicht mit den Menschen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. sAuch
nicht einmal das; der Mensch soll schon darum kein sich allein lebendes Sonder¬
wesen sein, weil er als solches gnr nicht existieren, viel weniger Mensch sein könnte;
Individuen, d. h. unteilbare Wesen, sind wirklich vorhanden; von allen Beziehungen
— und die menschliche Form der Beziehung ist die Verpflichtung — losgelöste
Sonderwesen, Miniaturabsolute, gibt es nur in der verschrobnen Phantasie der so¬
genannten Individualisten, die den Sinn des Namens, den sie sich beilegen, gar
nicht verstehn.j Volkswirtschaftlich und ethisch hat jeder sich als dienendes Glied
eines großen Organismus zu fühlen und braucht in dieser Stellung keine Ent¬
würdigung jund keine Beeinträchtignngj der Menschenrechte zu erblicken. Nicht die
Selbstherrlichkeit ist das letzte Wort der Sittenlehre, sondern die Selbstbescheidung.
Es ist eine ganz unberechtigte Übertragung ästhetischer Auffassung auf das praktische
Leben, wenn man die Harmonie aller Kräfte, die ästhetisch befriedigt, in der Weise
zum Moralprinzip erhebt, daß man die Erziehung nicht eher abschließen will, als
bis alle in einem Menschen möglicherweise schlummernden Kräfte hervorgelockt sind.
Die große Zeitverschwendung, die mit der Durchführung dieses Prinzips in der
Pädagogik Platz griffe, würde in den meisten Fällen nicht die Kosten lohnen."

Die Dame ist so kühn, auch mit den Theologen anzubinden. Die folgende
Stelle aus dem letzten Vortrag wird den Beifall der Orthodoxen beider Konfessionen
finden. „Der Neukantianismus ist deswegen so bequem für die Theologen, weil
sie sich erstens mit der Berufung auf Kant ein philosophisches Ansehen geben können,
und weil er zweitens mit der Lehre von der Unbegreiflichkeit alles Übersinnlichen
jeder Dogmatik den Boden unter den Füßen wegzieht. sStatt Unbegreiflichkeit
müßte hier Unerkennbarkeit stehn. Die Kirche lehrt nicht, daß die Trinitnt be¬
greiflich, sondern nur, daß sie durch die Offenbarung, nicht durch die Vernunft,
erkennbar sei.s In diesem Vertrauen auf die Stärke ihrer Position geht die
Ritschlsche Schule so weit, der historischen Kritik Tür und Tor zu öffnen. Der
Verstand kann immer nur Endliches begreifen; daran mag er sich abmühn, so viel
er will, er wird vor dem Unendlichen als dein Unbegreiflichen doch Halt machen
müssen, und dieses Unbegreifliche bleibt dann der unbestrittene Alleinbesitz der Kirche.
Es wird also die Transzendenz des Übersinnlichen anerkannt, aber kein Versuch
gemacht, es dem Verstände annehmbar zu machen. Man macht dem lieben Gott
seine Verbeugung und geht zu andern Dingen über, die man seinem Einfluß ent¬
zogen glaubt. sSo meinen es die Leute nicht, die an Gott glauben, aber sein
Wesen für unerkennbar und unerforschlich halten; sie verschwenden nur keine Zeit
und Kraft auf unnütze Grübeleien, sind aber keineswegs der Ansicht, daß die Dinge,
mit denen sie sich beschäftigen, Gottes Einfluß entzogen seien, glauben vielmehr fest,
daß ohne den Willen Gottes kein Sperling vom Dache fällt, und sie mühen sich,
den Willen Gottes, soweit er erkennbar ist, zu erfüllen. So hält es, von den Theo¬
logen nicht zu reden, auch jeder christliche Bauers Die Religion begnügt sich mit
dem Gebiet der praktischen Ideale; die objektive Wahrheit hat damit so wenig zu
schaffen, wie etwa mit dem Reiche der Dichtung. sWieder schief aufgefaßt! Gott,
Schöpfung, Erlösung, Unsterblichkeit gelten uns als objektive Wahrheit. Aber diese
Dinge so zu erkennen, wie wir die Natur und unser eignes Ich erkennen, An¬
schauung und ein exaktes Wissen davon zu gewinnen, dazu ist unser Erkenntnis¬
vermögen nicht eingerichtet. Es reicht hin, den Willen Gottes zu erkennen und aus
der christlichem Hoffnung Kraft zur Erfüllung unsrer Pflichten zu schöpfen, also für
alle praktischen Zwecke, aber wenn wir theoretisch mehr als den bloßen Glaube»
an die Tatsachen des Jenseits verlangen, wenn wir sie beschrieben haben wollen,
dann müssen wir uns klar machen, daß jede Vorstellung der jenseitigen Dinge nur


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[0694] Maßgebliches und Unmaßgebliches In dem Vortrage über Individuum und Jenseits lesen wir: „Es heißt den Individualismus in volkswirtschaftlicher sgemeint ist wohl soziales und auch in ethischer Hinsicht zu weit treiben, wenn man verlangt, daß sich jeder Mensch frei ausleben, d. h. so lange umhertasten dürfe, bis er alle seine Anlagen gleichmäßig vollkommen entwickelt habe. Der literarische Individualismus, der dies anstrebt, rechnet nicht mit den Menschen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. sAuch nicht einmal das; der Mensch soll schon darum kein sich allein lebendes Sonder¬ wesen sein, weil er als solches gnr nicht existieren, viel weniger Mensch sein könnte; Individuen, d. h. unteilbare Wesen, sind wirklich vorhanden; von allen Beziehungen — und die menschliche Form der Beziehung ist die Verpflichtung — losgelöste Sonderwesen, Miniaturabsolute, gibt es nur in der verschrobnen Phantasie der so¬ genannten Individualisten, die den Sinn des Namens, den sie sich beilegen, gar nicht verstehn.j Volkswirtschaftlich und ethisch hat jeder sich als dienendes Glied eines großen Organismus zu fühlen und braucht in dieser Stellung keine Ent¬ würdigung jund keine Beeinträchtignngj der Menschenrechte zu erblicken. Nicht die Selbstherrlichkeit ist das letzte Wort der Sittenlehre, sondern die Selbstbescheidung. Es ist eine ganz unberechtigte Übertragung ästhetischer Auffassung auf das praktische Leben, wenn man die Harmonie aller Kräfte, die ästhetisch befriedigt, in der Weise zum Moralprinzip erhebt, daß man die Erziehung nicht eher abschließen will, als bis alle in einem Menschen möglicherweise schlummernden Kräfte hervorgelockt sind. Die große Zeitverschwendung, die mit der Durchführung dieses Prinzips in der Pädagogik Platz griffe, würde in den meisten Fällen nicht die Kosten lohnen." Die Dame ist so kühn, auch mit den Theologen anzubinden. Die folgende Stelle aus dem letzten Vortrag wird den Beifall der Orthodoxen beider Konfessionen finden. „Der Neukantianismus ist deswegen so bequem für die Theologen, weil sie sich erstens mit der Berufung auf Kant ein philosophisches Ansehen geben können, und weil er zweitens mit der Lehre von der Unbegreiflichkeit alles Übersinnlichen jeder Dogmatik den Boden unter den Füßen wegzieht. sStatt Unbegreiflichkeit müßte hier Unerkennbarkeit stehn. Die Kirche lehrt nicht, daß die Trinitnt be¬ greiflich, sondern nur, daß sie durch die Offenbarung, nicht durch die Vernunft, erkennbar sei.s In diesem Vertrauen auf die Stärke ihrer Position geht die Ritschlsche Schule so weit, der historischen Kritik Tür und Tor zu öffnen. Der Verstand kann immer nur Endliches begreifen; daran mag er sich abmühn, so viel er will, er wird vor dem Unendlichen als dein Unbegreiflichen doch Halt machen müssen, und dieses Unbegreifliche bleibt dann der unbestrittene Alleinbesitz der Kirche. Es wird also die Transzendenz des Übersinnlichen anerkannt, aber kein Versuch gemacht, es dem Verstände annehmbar zu machen. Man macht dem lieben Gott seine Verbeugung und geht zu andern Dingen über, die man seinem Einfluß ent¬ zogen glaubt. sSo meinen es die Leute nicht, die an Gott glauben, aber sein Wesen für unerkennbar und unerforschlich halten; sie verschwenden nur keine Zeit und Kraft auf unnütze Grübeleien, sind aber keineswegs der Ansicht, daß die Dinge, mit denen sie sich beschäftigen, Gottes Einfluß entzogen seien, glauben vielmehr fest, daß ohne den Willen Gottes kein Sperling vom Dache fällt, und sie mühen sich, den Willen Gottes, soweit er erkennbar ist, zu erfüllen. So hält es, von den Theo¬ logen nicht zu reden, auch jeder christliche Bauers Die Religion begnügt sich mit dem Gebiet der praktischen Ideale; die objektive Wahrheit hat damit so wenig zu schaffen, wie etwa mit dem Reiche der Dichtung. sWieder schief aufgefaßt! Gott, Schöpfung, Erlösung, Unsterblichkeit gelten uns als objektive Wahrheit. Aber diese Dinge so zu erkennen, wie wir die Natur und unser eignes Ich erkennen, An¬ schauung und ein exaktes Wissen davon zu gewinnen, dazu ist unser Erkenntnis¬ vermögen nicht eingerichtet. Es reicht hin, den Willen Gottes zu erkennen und aus der christlichem Hoffnung Kraft zur Erfüllung unsrer Pflichten zu schöpfen, also für alle praktischen Zwecke, aber wenn wir theoretisch mehr als den bloßen Glaube» an die Tatsachen des Jenseits verlangen, wenn wir sie beschrieben haben wollen, dann müssen wir uns klar machen, daß jede Vorstellung der jenseitigen Dinge nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/694>, abgerufen am 27.11.2024.