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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Der Unkundige wunderte sich vielleicht dcibei, daß die Insekten nicht durch die
Elektrizität getötet wurden, aber das oltre "ur möglich gewesen, wenn sie eine Ver¬
bindung des Stroms hätten herbeiführen können, wie die Gans in Kemnitz, die
bei ihrem Auffliegen auf der Schooner-Grundstraße zugleich zwei Drahte der elek¬
trischen Licht- und Kraftleituug mit den Flügeln berührte. Aber auch sonst gab
der interessante Vorgang Anlaß zu mancherlei Betrachtungen und Kombinationen.
Mau erinnerte sich, wie die Bienen auch bisweilen die Telegraphenanlagen stören;
und daß einst ein Bienenschwarm einen beim Telegraphenamt in Karlsruhe auf¬
gestellten Weck- und Meldeapparat für einen passenden Unterschlupf hielt und den
leeren Raum innerhalb des hölzernen Schubkastens gänzlich mit Waben aufbaute,
ohne sich durch das häufige Anschlagen des Apparats stören zu lasse". Man ge¬
dachte, wie im verflossenen Sommer in der Hauptstadt des Staates Virginia, in
Richmond, das eherne Reiterstandbild des Generals Lee von einem Bienenschwarm
in Besitz genommen wurde, der durch die offnen Nüstern des Pferdes in die
metallne Höhle eindrang und sich dort ansiedelte; man wiederholte sich unwillkürlich
die schöne Geschichte aus seiner Kindheit: "Speise ging von dem Fresser und Süßigkeit
von dem Starken."

Das war bei der Stadt Thimuath, wo die Braut Simsons wohnte; hier zer¬
riß der starke Hebräer einen Löwen. Ein paar Tage darauf kam er wieder vorbei:
siehe, da war ein Bienenschwarm in dein Aas des Löwen und Honig, an dem er
sich gütlich tat. Das war der Anlaß, weshalb er das berühmte Rätsel machte,
jedenfalls eines der ältesten Rätsel, aber leider überhaupt kein Rätsel, weil es von
den Philistern gar nicht geraten werden konnte. Simson hatte die Geschichte wohl¬
weislich auch seinen Eltern gegenüber verschwiege". Die Bibelforscher haben sich
die Köpfe zerbräche", ob das überhaupt möglich gewesen sei, und ob das Aas schon
trocken gewesen sei, und ob es nicht vielmehr Hornissen als Bienen gewesen seien;
aber an sich hat das Vorkommnis weiter nichts Befremdendes, und es steht auch
gar uicht vereinzelt da. Herodot erzählt, im Jahre 498 v. Chr. sei auf der Insel
Cypern ein gewisser Onesilus in der Schlacht gefallen, seinen Kopf hätten die Einwoh"er
von Amathus abgeschnitten und über dem Stadttor aufgehängt. In diesen Kopf
hätten sich die Bienen gleichfalls eingebaut und ihn mit Honigwaben ausgefüllt.
Es ist das ungleich wahrscheinlicher, als daß sich dem schlummernden Platokinde
Bienen ans die Lippen gesetzt haben sollen; denn die Bienen werden den großen
Rednern und Dichtern von der Sage häufig zugeteilt, um die Süßigkeit ihrer Rede
sinnbildlich anzudeuten. Auch der hohe Ruhm des griechischen Dichters Pindar soll
durch einen Bienenschwarm, der sich ihm auf den Mund setzte, als er schlief,
wunderbar vorausvcrtundet worden sein; dasselbe wird vou dem heiligen Ambrosius
erzählt. Eines Tages, als er in einem Hose seines Vaters mit offnem Munde
schlief, schwärmte "in ihn ein Bienenschwarm, so heißt es. Die Bienen ließen sich
auf dem Angesicht des Knaben nieder u"V schwärmte" i" seinem Munde ein und
ans. Darauf erhoben sie sich hoch in die Luft, daß mau sie ganz ans dem Ange
verlor. Und diese Begebenheit, fährt der Berichterstatter fort, wurde als eine An¬
deutung der künftigen kraftvollen und sanften Beredsamkeit des Erzbischofs von
Mailand, des berühmten Kirchenlehrers, angesehen.

Daß dergleichen nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, ich meine, daß die
schwärmenden Bienen gelegentlich auch auf Kinder verfallen, beweist das folgende
Vorkommnis, von dem der "Elsässisch-Lothringische Bienenzüchter" im Jahre 1901
berichtete: Ein zehnjähriger Knabe stand barhäuptig nahe bei dem Bienenstande,
als eben ein Schwarm auszog. Nach einigem Hin- und Herfliegen nahm die
Königin ans dem Kopfe des Knaben Platz, und rasch war das ganze kleine Heer
dort versammelt. Der Vater, der die Sachlage sofort erkannte, rief dem Jungen.
der beim Schwarmfassen schon öfters zugesehen hatte, in aller Eile zu: "Ruhr dich
nicht, Haust! Mach den Mund zu und die Augen zu, ich werd den Schwarm
gleich taufen und einfassen!" Der Knabe gehorchte; der Vnder goß Wasser über
den von Bienen eingehüllten Kopf des Knaben, bog den Kopf etwas nach vorn und
strich die ganze Gesellschaft mit einem Flederwisch in einen untergehaltenen Stroh-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Der Unkundige wunderte sich vielleicht dcibei, daß die Insekten nicht durch die
Elektrizität getötet wurden, aber das oltre «ur möglich gewesen, wenn sie eine Ver¬
bindung des Stroms hätten herbeiführen können, wie die Gans in Kemnitz, die
bei ihrem Auffliegen auf der Schooner-Grundstraße zugleich zwei Drahte der elek¬
trischen Licht- und Kraftleituug mit den Flügeln berührte. Aber auch sonst gab
der interessante Vorgang Anlaß zu mancherlei Betrachtungen und Kombinationen.
Mau erinnerte sich, wie die Bienen auch bisweilen die Telegraphenanlagen stören;
und daß einst ein Bienenschwarm einen beim Telegraphenamt in Karlsruhe auf¬
gestellten Weck- und Meldeapparat für einen passenden Unterschlupf hielt und den
leeren Raum innerhalb des hölzernen Schubkastens gänzlich mit Waben aufbaute,
ohne sich durch das häufige Anschlagen des Apparats stören zu lasse». Man ge¬
dachte, wie im verflossenen Sommer in der Hauptstadt des Staates Virginia, in
Richmond, das eherne Reiterstandbild des Generals Lee von einem Bienenschwarm
in Besitz genommen wurde, der durch die offnen Nüstern des Pferdes in die
metallne Höhle eindrang und sich dort ansiedelte; man wiederholte sich unwillkürlich
die schöne Geschichte aus seiner Kindheit: „Speise ging von dem Fresser und Süßigkeit
von dem Starken."

Das war bei der Stadt Thimuath, wo die Braut Simsons wohnte; hier zer¬
riß der starke Hebräer einen Löwen. Ein paar Tage darauf kam er wieder vorbei:
siehe, da war ein Bienenschwarm in dein Aas des Löwen und Honig, an dem er
sich gütlich tat. Das war der Anlaß, weshalb er das berühmte Rätsel machte,
jedenfalls eines der ältesten Rätsel, aber leider überhaupt kein Rätsel, weil es von
den Philistern gar nicht geraten werden konnte. Simson hatte die Geschichte wohl¬
weislich auch seinen Eltern gegenüber verschwiege». Die Bibelforscher haben sich
die Köpfe zerbräche», ob das überhaupt möglich gewesen sei, und ob das Aas schon
trocken gewesen sei, und ob es nicht vielmehr Hornissen als Bienen gewesen seien;
aber an sich hat das Vorkommnis weiter nichts Befremdendes, und es steht auch
gar uicht vereinzelt da. Herodot erzählt, im Jahre 498 v. Chr. sei auf der Insel
Cypern ein gewisser Onesilus in der Schlacht gefallen, seinen Kopf hätten die Einwoh»er
von Amathus abgeschnitten und über dem Stadttor aufgehängt. In diesen Kopf
hätten sich die Bienen gleichfalls eingebaut und ihn mit Honigwaben ausgefüllt.
Es ist das ungleich wahrscheinlicher, als daß sich dem schlummernden Platokinde
Bienen ans die Lippen gesetzt haben sollen; denn die Bienen werden den großen
Rednern und Dichtern von der Sage häufig zugeteilt, um die Süßigkeit ihrer Rede
sinnbildlich anzudeuten. Auch der hohe Ruhm des griechischen Dichters Pindar soll
durch einen Bienenschwarm, der sich ihm auf den Mund setzte, als er schlief,
wunderbar vorausvcrtundet worden sein; dasselbe wird vou dem heiligen Ambrosius
erzählt. Eines Tages, als er in einem Hose seines Vaters mit offnem Munde
schlief, schwärmte »in ihn ein Bienenschwarm, so heißt es. Die Bienen ließen sich
auf dem Angesicht des Knaben nieder u»V schwärmte» i» seinem Munde ein und
ans. Darauf erhoben sie sich hoch in die Luft, daß mau sie ganz ans dem Ange
verlor. Und diese Begebenheit, fährt der Berichterstatter fort, wurde als eine An¬
deutung der künftigen kraftvollen und sanften Beredsamkeit des Erzbischofs von
Mailand, des berühmten Kirchenlehrers, angesehen.

Daß dergleichen nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, ich meine, daß die
schwärmenden Bienen gelegentlich auch auf Kinder verfallen, beweist das folgende
Vorkommnis, von dem der „Elsässisch-Lothringische Bienenzüchter" im Jahre 1901
berichtete: Ein zehnjähriger Knabe stand barhäuptig nahe bei dem Bienenstande,
als eben ein Schwarm auszog. Nach einigem Hin- und Herfliegen nahm die
Königin ans dem Kopfe des Knaben Platz, und rasch war das ganze kleine Heer
dort versammelt. Der Vater, der die Sachlage sofort erkannte, rief dem Jungen.
der beim Schwarmfassen schon öfters zugesehen hatte, in aller Eile zu: „Ruhr dich
nicht, Haust! Mach den Mund zu und die Augen zu, ich werd den Schwarm
gleich taufen und einfassen!" Der Knabe gehorchte; der Vnder goß Wasser über
den von Bienen eingehüllten Kopf des Knaben, bog den Kopf etwas nach vorn und
strich die ganze Gesellschaft mit einem Flederwisch in einen untergehaltenen Stroh-


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[0066] Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Unkundige wunderte sich vielleicht dcibei, daß die Insekten nicht durch die Elektrizität getötet wurden, aber das oltre «ur möglich gewesen, wenn sie eine Ver¬ bindung des Stroms hätten herbeiführen können, wie die Gans in Kemnitz, die bei ihrem Auffliegen auf der Schooner-Grundstraße zugleich zwei Drahte der elek¬ trischen Licht- und Kraftleituug mit den Flügeln berührte. Aber auch sonst gab der interessante Vorgang Anlaß zu mancherlei Betrachtungen und Kombinationen. Mau erinnerte sich, wie die Bienen auch bisweilen die Telegraphenanlagen stören; und daß einst ein Bienenschwarm einen beim Telegraphenamt in Karlsruhe auf¬ gestellten Weck- und Meldeapparat für einen passenden Unterschlupf hielt und den leeren Raum innerhalb des hölzernen Schubkastens gänzlich mit Waben aufbaute, ohne sich durch das häufige Anschlagen des Apparats stören zu lasse». Man ge¬ dachte, wie im verflossenen Sommer in der Hauptstadt des Staates Virginia, in Richmond, das eherne Reiterstandbild des Generals Lee von einem Bienenschwarm in Besitz genommen wurde, der durch die offnen Nüstern des Pferdes in die metallne Höhle eindrang und sich dort ansiedelte; man wiederholte sich unwillkürlich die schöne Geschichte aus seiner Kindheit: „Speise ging von dem Fresser und Süßigkeit von dem Starken." Das war bei der Stadt Thimuath, wo die Braut Simsons wohnte; hier zer¬ riß der starke Hebräer einen Löwen. Ein paar Tage darauf kam er wieder vorbei: siehe, da war ein Bienenschwarm in dein Aas des Löwen und Honig, an dem er sich gütlich tat. Das war der Anlaß, weshalb er das berühmte Rätsel machte, jedenfalls eines der ältesten Rätsel, aber leider überhaupt kein Rätsel, weil es von den Philistern gar nicht geraten werden konnte. Simson hatte die Geschichte wohl¬ weislich auch seinen Eltern gegenüber verschwiege». Die Bibelforscher haben sich die Köpfe zerbräche», ob das überhaupt möglich gewesen sei, und ob das Aas schon trocken gewesen sei, und ob es nicht vielmehr Hornissen als Bienen gewesen seien; aber an sich hat das Vorkommnis weiter nichts Befremdendes, und es steht auch gar uicht vereinzelt da. Herodot erzählt, im Jahre 498 v. Chr. sei auf der Insel Cypern ein gewisser Onesilus in der Schlacht gefallen, seinen Kopf hätten die Einwoh»er von Amathus abgeschnitten und über dem Stadttor aufgehängt. In diesen Kopf hätten sich die Bienen gleichfalls eingebaut und ihn mit Honigwaben ausgefüllt. Es ist das ungleich wahrscheinlicher, als daß sich dem schlummernden Platokinde Bienen ans die Lippen gesetzt haben sollen; denn die Bienen werden den großen Rednern und Dichtern von der Sage häufig zugeteilt, um die Süßigkeit ihrer Rede sinnbildlich anzudeuten. Auch der hohe Ruhm des griechischen Dichters Pindar soll durch einen Bienenschwarm, der sich ihm auf den Mund setzte, als er schlief, wunderbar vorausvcrtundet worden sein; dasselbe wird vou dem heiligen Ambrosius erzählt. Eines Tages, als er in einem Hose seines Vaters mit offnem Munde schlief, schwärmte »in ihn ein Bienenschwarm, so heißt es. Die Bienen ließen sich auf dem Angesicht des Knaben nieder u»V schwärmte» i» seinem Munde ein und ans. Darauf erhoben sie sich hoch in die Luft, daß mau sie ganz ans dem Ange verlor. Und diese Begebenheit, fährt der Berichterstatter fort, wurde als eine An¬ deutung der künftigen kraftvollen und sanften Beredsamkeit des Erzbischofs von Mailand, des berühmten Kirchenlehrers, angesehen. Daß dergleichen nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, ich meine, daß die schwärmenden Bienen gelegentlich auch auf Kinder verfallen, beweist das folgende Vorkommnis, von dem der „Elsässisch-Lothringische Bienenzüchter" im Jahre 1901 berichtete: Ein zehnjähriger Knabe stand barhäuptig nahe bei dem Bienenstande, als eben ein Schwarm auszog. Nach einigem Hin- und Herfliegen nahm die Königin ans dem Kopfe des Knaben Platz, und rasch war das ganze kleine Heer dort versammelt. Der Vater, der die Sachlage sofort erkannte, rief dem Jungen. der beim Schwarmfassen schon öfters zugesehen hatte, in aller Eile zu: „Ruhr dich nicht, Haust! Mach den Mund zu und die Augen zu, ich werd den Schwarm gleich taufen und einfassen!" Der Knabe gehorchte; der Vnder goß Wasser über den von Bienen eingehüllten Kopf des Knaben, bog den Kopf etwas nach vorn und strich die ganze Gesellschaft mit einem Flederwisch in einen untergehaltenen Stroh-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/66>, abgerufen am 24.11.2024.