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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Crailsheim-Riedel-Feilitzsch reich den bisherigen Erfahrungen gewiß nicht fertig
geworden.

Zu diesem innerpolitischen Imponderabile trat noch ein persönliches Ereignis,
bei dem Graf Crailsheim nicht glücklich gewesen ist. Als der Justizminister Baron
Leonrod in Pension ging, war es der Wunsch der höchsten Stelle, den Neichsrat
von Thelemann. der protestantischer Konfession ist. auf diesen Posten ernannt zu
sehen. Der Ministerpräsident erlangte hiervon auch Kenntnis; die höchste Stelle
wollte, wie es heißt daß bei der Ernennung des neuen Justizministers keine kon¬
fessionellen Erwägungen mitspielten, aber das Ministerium sprach sich aus politischen
Gründen gegen die Aufnahme eines weitern Protestanten in den Mwistcrrat ans.
Herr von Thelemann, den auch einige klerikale Parteiführer gern als Jnstizrmmster
gesehen hätten. und der als Staatsmann und Redner sür einen außerordentlich be¬
gabten Mann gilt, wurde dem Ministerium ferngehalten. So zog sich die Er¬
nennung des neuen Justizministers geraume Zeit hiu, sodaß sogar ausländische
Blätter ihre Glossen über die kleinzügige bayrische Politik machten. Als ^ustiz-
ministcr wurde dann bekanntlich Neichsgcrichtsrat Millner, der katholischer Kon¬
fession ist. früher schon im bayrischen Justizministerium beschäftigt gewesen war und
ein hervorragender Jurist ist, von Leipzig berufen. Dieser Vorgang scheint >edoch
Nachwirkungen zurückgelassen zu haben. Ju protestantischen Kreisen hatte es Ver¬
stimmung erregt, daß sich in einem paritätischen Staate drei protestantische Münster
^ Crailsheim, Riedel, Feilitzsch -- gegen die Aufnahme einer geeigneten Persönlichkeit
in das Ministerium wegen deren protestantischer Konfession ausgesprochen hatten,
die Politische Medisance aber bemächtigte sich des Vorfalls und sprach davon daß
nicht bloß die protestantische Konfession, sondern auch persönliche oder schliche
Aversionen eine Rolle gespielt hätten. -

in<"Kurz. diese innerpolitischeu Vorkommnisse vereinigten sich mit den Nachwirkungen
der Swinemünder Depesche. Gerade hier aber muß der Mythenbildnng gegenüber,
die sich allmählich über den Sturz des Grafen Crailsheim verbreitet hat. vor einer
Mißdeutung gewarnt werdeu. Das bayrische Herrscherhaus ist. wie es eigeutbch
keiner Erwähnung bedarf, reichstreu, und jede Besorgnis, daß unter Baron Pode-
wils eine Änderung der Beziehungen Bayerns zum Reiche eintreten konnte ist ganzlich
"nsgeschlossen. Aber bei aller Reichstreue. und hier vereinigen sich die Empfin-
d"ngen der katholischen wie der protestantischen Landesangehörigen, will man die
Selbständigkeit und die Reservatrechte unsers engern Vaterlandes unangetastet wissen.
Wenn man' auf die Empfindlichkeit der Bayern hierin Rücksicht nähme, wurden manche
Verstimmungen und manche Agitationen verhindert werden. Nun hatte der Priuzregent
dem Reichskanzler Grafen Bülow seine Anerkennung über dessen Reichstagsrede
bei der Debatte über die Swindemünder Depesche aussprechen lassen. Das war
ein interner Vorgang ohne parteipolitisches Gepräge. Am Tage vor dem Beginn
des Zentrumsparteitags in München wurde die Tntsache dieser Anerkennung oder,
wie es damals hieß, dieses Dankes in den Münchner Neusten Nachrichten an der
Spitze des Blattes veröffentlicht. Ganz abgesehen davon, ob der Prinzregent diesen
internen Vorgang an die Öffentlichkeit gebracht wissen wollte, wirkte die mindestens
nicht opportune Verösientlichnng ans das Zentrum wie eine Fanfare. Das Weitere
'se bekannt. Aus den Differenzen im Ministcrrate heraus, wo die Opportun, a
dieser Veröffentlichungen beanstandet wurde. und wo Graf Crailsheim keine Mawr.tat
unter seinen Kollegen fand, reichte er sein Demissionsgesuch ein, auf dessen Ablehnung er
hoffte - so wenig war er über den Wechsel der Stimmung bei Hofe informiert

Die politischen Folgen dieser Entlassung werden sich nur ans das innerpvlM che
Gebiet erstrecken. Die nächste Folge wird ein frischerer Luftzug in der baynfchen
Staatsverwaltung sein denn wir stehn vor einer sich allmählich vollziehenden
Umgestaltung des bayrischen Stantsministeriums. Die Stagnation, die nach und
"ach in unsern politischen Verhältnissen eingetreten war, wird zu Ende gehn. Wir
lebten nachgerade in einen Zustand hinein, wo sich die politische Voraussicht fast
von Laudtagsperivde zu Laudtagsperiode erschöpfte. Wohl ist es begreiflich, daß


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Crailsheim-Riedel-Feilitzsch reich den bisherigen Erfahrungen gewiß nicht fertig
geworden.

Zu diesem innerpolitischen Imponderabile trat noch ein persönliches Ereignis,
bei dem Graf Crailsheim nicht glücklich gewesen ist. Als der Justizminister Baron
Leonrod in Pension ging, war es der Wunsch der höchsten Stelle, den Neichsrat
von Thelemann. der protestantischer Konfession ist. auf diesen Posten ernannt zu
sehen. Der Ministerpräsident erlangte hiervon auch Kenntnis; die höchste Stelle
wollte, wie es heißt daß bei der Ernennung des neuen Justizministers keine kon¬
fessionellen Erwägungen mitspielten, aber das Ministerium sprach sich aus politischen
Gründen gegen die Aufnahme eines weitern Protestanten in den Mwistcrrat ans.
Herr von Thelemann, den auch einige klerikale Parteiführer gern als Jnstizrmmster
gesehen hätten. und der als Staatsmann und Redner sür einen außerordentlich be¬
gabten Mann gilt, wurde dem Ministerium ferngehalten. So zog sich die Er¬
nennung des neuen Justizministers geraume Zeit hiu, sodaß sogar ausländische
Blätter ihre Glossen über die kleinzügige bayrische Politik machten. Als ^ustiz-
ministcr wurde dann bekanntlich Neichsgcrichtsrat Millner, der katholischer Kon¬
fession ist. früher schon im bayrischen Justizministerium beschäftigt gewesen war und
ein hervorragender Jurist ist, von Leipzig berufen. Dieser Vorgang scheint >edoch
Nachwirkungen zurückgelassen zu haben. Ju protestantischen Kreisen hatte es Ver¬
stimmung erregt, daß sich in einem paritätischen Staate drei protestantische Münster
^ Crailsheim, Riedel, Feilitzsch — gegen die Aufnahme einer geeigneten Persönlichkeit
in das Ministerium wegen deren protestantischer Konfession ausgesprochen hatten,
die Politische Medisance aber bemächtigte sich des Vorfalls und sprach davon daß
nicht bloß die protestantische Konfession, sondern auch persönliche oder schliche
Aversionen eine Rolle gespielt hätten. -

in<»Kurz. diese innerpolitischeu Vorkommnisse vereinigten sich mit den Nachwirkungen
der Swinemünder Depesche. Gerade hier aber muß der Mythenbildnng gegenüber,
die sich allmählich über den Sturz des Grafen Crailsheim verbreitet hat. vor einer
Mißdeutung gewarnt werdeu. Das bayrische Herrscherhaus ist. wie es eigeutbch
keiner Erwähnung bedarf, reichstreu, und jede Besorgnis, daß unter Baron Pode-
wils eine Änderung der Beziehungen Bayerns zum Reiche eintreten konnte ist ganzlich
"nsgeschlossen. Aber bei aller Reichstreue. und hier vereinigen sich die Empfin-
d"ngen der katholischen wie der protestantischen Landesangehörigen, will man die
Selbständigkeit und die Reservatrechte unsers engern Vaterlandes unangetastet wissen.
Wenn man' auf die Empfindlichkeit der Bayern hierin Rücksicht nähme, wurden manche
Verstimmungen und manche Agitationen verhindert werden. Nun hatte der Priuzregent
dem Reichskanzler Grafen Bülow seine Anerkennung über dessen Reichstagsrede
bei der Debatte über die Swindemünder Depesche aussprechen lassen. Das war
ein interner Vorgang ohne parteipolitisches Gepräge. Am Tage vor dem Beginn
des Zentrumsparteitags in München wurde die Tntsache dieser Anerkennung oder,
wie es damals hieß, dieses Dankes in den Münchner Neusten Nachrichten an der
Spitze des Blattes veröffentlicht. Ganz abgesehen davon, ob der Prinzregent diesen
internen Vorgang an die Öffentlichkeit gebracht wissen wollte, wirkte die mindestens
nicht opportune Verösientlichnng ans das Zentrum wie eine Fanfare. Das Weitere
'se bekannt. Aus den Differenzen im Ministcrrate heraus, wo die Opportun, a
dieser Veröffentlichungen beanstandet wurde. und wo Graf Crailsheim keine Mawr.tat
unter seinen Kollegen fand, reichte er sein Demissionsgesuch ein, auf dessen Ablehnung er
hoffte - so wenig war er über den Wechsel der Stimmung bei Hofe informiert

Die politischen Folgen dieser Entlassung werden sich nur ans das innerpvlM che
Gebiet erstrecken. Die nächste Folge wird ein frischerer Luftzug in der baynfchen
Staatsverwaltung sein denn wir stehn vor einer sich allmählich vollziehenden
Umgestaltung des bayrischen Stantsministeriums. Die Stagnation, die nach und
«ach in unsern politischen Verhältnissen eingetreten war, wird zu Ende gehn. Wir
lebten nachgerade in einen Zustand hinein, wo sich die politische Voraussicht fast
von Laudtagsperivde zu Laudtagsperiode erschöpfte. Wohl ist es begreiflich, daß


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[0629] Maßgebliches und Unmaßgebliches Crailsheim-Riedel-Feilitzsch reich den bisherigen Erfahrungen gewiß nicht fertig geworden. Zu diesem innerpolitischen Imponderabile trat noch ein persönliches Ereignis, bei dem Graf Crailsheim nicht glücklich gewesen ist. Als der Justizminister Baron Leonrod in Pension ging, war es der Wunsch der höchsten Stelle, den Neichsrat von Thelemann. der protestantischer Konfession ist. auf diesen Posten ernannt zu sehen. Der Ministerpräsident erlangte hiervon auch Kenntnis; die höchste Stelle wollte, wie es heißt daß bei der Ernennung des neuen Justizministers keine kon¬ fessionellen Erwägungen mitspielten, aber das Ministerium sprach sich aus politischen Gründen gegen die Aufnahme eines weitern Protestanten in den Mwistcrrat ans. Herr von Thelemann, den auch einige klerikale Parteiführer gern als Jnstizrmmster gesehen hätten. und der als Staatsmann und Redner sür einen außerordentlich be¬ gabten Mann gilt, wurde dem Ministerium ferngehalten. So zog sich die Er¬ nennung des neuen Justizministers geraume Zeit hiu, sodaß sogar ausländische Blätter ihre Glossen über die kleinzügige bayrische Politik machten. Als ^ustiz- ministcr wurde dann bekanntlich Neichsgcrichtsrat Millner, der katholischer Kon¬ fession ist. früher schon im bayrischen Justizministerium beschäftigt gewesen war und ein hervorragender Jurist ist, von Leipzig berufen. Dieser Vorgang scheint >edoch Nachwirkungen zurückgelassen zu haben. Ju protestantischen Kreisen hatte es Ver¬ stimmung erregt, daß sich in einem paritätischen Staate drei protestantische Münster ^ Crailsheim, Riedel, Feilitzsch — gegen die Aufnahme einer geeigneten Persönlichkeit in das Ministerium wegen deren protestantischer Konfession ausgesprochen hatten, die Politische Medisance aber bemächtigte sich des Vorfalls und sprach davon daß nicht bloß die protestantische Konfession, sondern auch persönliche oder schliche Aversionen eine Rolle gespielt hätten. - in<»Kurz. diese innerpolitischeu Vorkommnisse vereinigten sich mit den Nachwirkungen der Swinemünder Depesche. Gerade hier aber muß der Mythenbildnng gegenüber, die sich allmählich über den Sturz des Grafen Crailsheim verbreitet hat. vor einer Mißdeutung gewarnt werdeu. Das bayrische Herrscherhaus ist. wie es eigeutbch keiner Erwähnung bedarf, reichstreu, und jede Besorgnis, daß unter Baron Pode- wils eine Änderung der Beziehungen Bayerns zum Reiche eintreten konnte ist ganzlich "nsgeschlossen. Aber bei aller Reichstreue. und hier vereinigen sich die Empfin- d"ngen der katholischen wie der protestantischen Landesangehörigen, will man die Selbständigkeit und die Reservatrechte unsers engern Vaterlandes unangetastet wissen. Wenn man' auf die Empfindlichkeit der Bayern hierin Rücksicht nähme, wurden manche Verstimmungen und manche Agitationen verhindert werden. Nun hatte der Priuzregent dem Reichskanzler Grafen Bülow seine Anerkennung über dessen Reichstagsrede bei der Debatte über die Swindemünder Depesche aussprechen lassen. Das war ein interner Vorgang ohne parteipolitisches Gepräge. Am Tage vor dem Beginn des Zentrumsparteitags in München wurde die Tntsache dieser Anerkennung oder, wie es damals hieß, dieses Dankes in den Münchner Neusten Nachrichten an der Spitze des Blattes veröffentlicht. Ganz abgesehen davon, ob der Prinzregent diesen internen Vorgang an die Öffentlichkeit gebracht wissen wollte, wirkte die mindestens nicht opportune Verösientlichnng ans das Zentrum wie eine Fanfare. Das Weitere 'se bekannt. Aus den Differenzen im Ministcrrate heraus, wo die Opportun, a dieser Veröffentlichungen beanstandet wurde. und wo Graf Crailsheim keine Mawr.tat unter seinen Kollegen fand, reichte er sein Demissionsgesuch ein, auf dessen Ablehnung er hoffte - so wenig war er über den Wechsel der Stimmung bei Hofe informiert Die politischen Folgen dieser Entlassung werden sich nur ans das innerpvlM che Gebiet erstrecken. Die nächste Folge wird ein frischerer Luftzug in der baynfchen Staatsverwaltung sein denn wir stehn vor einer sich allmählich vollziehenden Umgestaltung des bayrischen Stantsministeriums. Die Stagnation, die nach und «ach in unsern politischen Verhältnissen eingetreten war, wird zu Ende gehn. Wir lebten nachgerade in einen Zustand hinein, wo sich die politische Voraussicht fast von Laudtagsperivde zu Laudtagsperiode erschöpfte. Wohl ist es begreiflich, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/629>, abgerufen am 27.11.2024.