Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin französischer Pessimist

deckt, die in diesem Jahre neu zuziehn. Gründliche Besserung kann nur erreicht
werden, wenn die Gesetzgebung geändert wird, und der Staat mit seinem Kredit
die Vaugesellschaften unterstützt. Das preußische Baufluchtliniengesetz vom
2- Juli 1875 keunt nur den polizeilichen Standpunkt, jeder soziale Gedanke
war den Vätern dieses Gesetzes fremd. Es muß der Bau der großen Miets¬
kasernen mit den engen Höfen eingeschränkt und dafür gesorgt werden, daß die
Menschen nach Möglichkeit wieder nebeneinander statt übereinander wohnen,
daß recht viele Arbeiter ein Heim bekomme:? und damit wieder eine Heimat.
Den gemeinnützigen Baugesellschaften müssen Staatsmittel zur Verfügung ge¬
stellt werden, geradeso wie das zur Förderung des Genossenschaftswesens durch
Gründung und Dotierung der Zentralgenossenschaftskasse schon geschehn ist.
Eine solche Förderung des Wohnungsweseus würde dein Staate nicht einmal
etwas kosten, weil die den Baugesellschaften gewahrten Mittel selbstverständlich
verzinst werden würden, und doch ist auf diesem Gebiete noch kein ernstlicher
Versuch der Besserung gemacht worden. Überall dieselbe Verwaltungsmanier des
l-UWW glisr. Nebenbei bemerkt, würde durch eine solche Reform des Wohnungs¬
wesens für die Hebung der Gesundheit in den arbeitenden Klassen wahrscheinlich
mehr geschehn, als durch die Gründung von Lungenheilstätten und andern
gemeinnützigen Bestrebungen, mögen diese auch noch so gut gemeint sein.

Neben einer gesunden Wohnung ist die Hauptsache im Leben des Arbei¬
ters eine wirtschaftliche Frau. Ju den Industriebezirken gehn die Mädchen
nach Beendigung der Schulzeit in die Fabrik, und aus der Fabrik heiraten
sie. Von Wirtschaftsführung, von Kochen und Nähen haben sie meist keine
Ahnung. Nur obligatorischer Unterricht in Haushaltungsschulen und Näh¬
schulen kaun das Fehlende ergänzen. Süddeutschland ist uns auf diesem Ge¬
biete weit voraus, namentlich in Baden wird Mustergiltiges geleistet, wo die
edle Großherzogin für die Erziehung der weiblichen Jugend unermüdlich tätig
ist. Sogar auf dem Lande gibt es dort zahlreiche Fraueuarbeitsschulen.

Diese und manche andre Aufgaben harren der Lösung. Es gibt über¬
genug zu tun für die Verwaltung des größten deutschen Vuudesftaates. Mögen
sich bald die Mäuner finden, die die unvermeidliche Reform der Verwaltung
durchzusetzen bereit sind, damit an die Stelle des Schreibwerks die Tat
treten kann.




Gin französischer Pessimist

er Satiriker geht von einer Ansicht der Dinge aus, die, allein ins
Auge gefaßt, den Beschauer zum Pessimisten macht, und wenn
der Pessimist kein humorloser trübseliger Tropf ist, so ist er selbst
Satiriker. Als solcher macht er von seiner verderblichen Philo¬
sophie einen nützlichen Gebrauch; wegen seiner Torheiten gegeißelt
SU werden, ist für den Menschen der unentbehrliche Bestandteil einer lebenerhal¬
tenden Diät. Und dn der französische Philosoph und Staatsmann (Challemel-


Grenzboten I 1903 K7
Lin französischer Pessimist

deckt, die in diesem Jahre neu zuziehn. Gründliche Besserung kann nur erreicht
werden, wenn die Gesetzgebung geändert wird, und der Staat mit seinem Kredit
die Vaugesellschaften unterstützt. Das preußische Baufluchtliniengesetz vom
2- Juli 1875 keunt nur den polizeilichen Standpunkt, jeder soziale Gedanke
war den Vätern dieses Gesetzes fremd. Es muß der Bau der großen Miets¬
kasernen mit den engen Höfen eingeschränkt und dafür gesorgt werden, daß die
Menschen nach Möglichkeit wieder nebeneinander statt übereinander wohnen,
daß recht viele Arbeiter ein Heim bekomme:? und damit wieder eine Heimat.
Den gemeinnützigen Baugesellschaften müssen Staatsmittel zur Verfügung ge¬
stellt werden, geradeso wie das zur Förderung des Genossenschaftswesens durch
Gründung und Dotierung der Zentralgenossenschaftskasse schon geschehn ist.
Eine solche Förderung des Wohnungsweseus würde dein Staate nicht einmal
etwas kosten, weil die den Baugesellschaften gewahrten Mittel selbstverständlich
verzinst werden würden, und doch ist auf diesem Gebiete noch kein ernstlicher
Versuch der Besserung gemacht worden. Überall dieselbe Verwaltungsmanier des
l-UWW glisr. Nebenbei bemerkt, würde durch eine solche Reform des Wohnungs¬
wesens für die Hebung der Gesundheit in den arbeitenden Klassen wahrscheinlich
mehr geschehn, als durch die Gründung von Lungenheilstätten und andern
gemeinnützigen Bestrebungen, mögen diese auch noch so gut gemeint sein.

Neben einer gesunden Wohnung ist die Hauptsache im Leben des Arbei¬
ters eine wirtschaftliche Frau. Ju den Industriebezirken gehn die Mädchen
nach Beendigung der Schulzeit in die Fabrik, und aus der Fabrik heiraten
sie. Von Wirtschaftsführung, von Kochen und Nähen haben sie meist keine
Ahnung. Nur obligatorischer Unterricht in Haushaltungsschulen und Näh¬
schulen kaun das Fehlende ergänzen. Süddeutschland ist uns auf diesem Ge¬
biete weit voraus, namentlich in Baden wird Mustergiltiges geleistet, wo die
edle Großherzogin für die Erziehung der weiblichen Jugend unermüdlich tätig
ist. Sogar auf dem Lande gibt es dort zahlreiche Fraueuarbeitsschulen.

Diese und manche andre Aufgaben harren der Lösung. Es gibt über¬
genug zu tun für die Verwaltung des größten deutschen Vuudesftaates. Mögen
sich bald die Mäuner finden, die die unvermeidliche Reform der Verwaltung
durchzusetzen bereit sind, damit an die Stelle des Schreibwerks die Tat
treten kann.




Gin französischer Pessimist

er Satiriker geht von einer Ansicht der Dinge aus, die, allein ins
Auge gefaßt, den Beschauer zum Pessimisten macht, und wenn
der Pessimist kein humorloser trübseliger Tropf ist, so ist er selbst
Satiriker. Als solcher macht er von seiner verderblichen Philo¬
sophie einen nützlichen Gebrauch; wegen seiner Torheiten gegeißelt
SU werden, ist für den Menschen der unentbehrliche Bestandteil einer lebenerhal¬
tenden Diät. Und dn der französische Philosoph und Staatsmann (Challemel-


Grenzboten I 1903 K7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0529" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240085"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin französischer Pessimist</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2790" prev="#ID_2789"> deckt, die in diesem Jahre neu zuziehn. Gründliche Besserung kann nur erreicht<lb/>
werden, wenn die Gesetzgebung geändert wird, und der Staat mit seinem Kredit<lb/>
die Vaugesellschaften unterstützt. Das preußische Baufluchtliniengesetz vom<lb/>
2- Juli 1875 keunt nur den polizeilichen Standpunkt, jeder soziale Gedanke<lb/>
war den Vätern dieses Gesetzes fremd. Es muß der Bau der großen Miets¬<lb/>
kasernen mit den engen Höfen eingeschränkt und dafür gesorgt werden, daß die<lb/>
Menschen nach Möglichkeit wieder nebeneinander statt übereinander wohnen,<lb/>
daß recht viele Arbeiter ein Heim bekomme:? und damit wieder eine Heimat.<lb/>
Den gemeinnützigen Baugesellschaften müssen Staatsmittel zur Verfügung ge¬<lb/>
stellt werden, geradeso wie das zur Förderung des Genossenschaftswesens durch<lb/>
Gründung und Dotierung der Zentralgenossenschaftskasse schon geschehn ist.<lb/>
Eine solche Förderung des Wohnungsweseus würde dein Staate nicht einmal<lb/>
etwas kosten, weil die den Baugesellschaften gewahrten Mittel selbstverständlich<lb/>
verzinst werden würden, und doch ist auf diesem Gebiete noch kein ernstlicher<lb/>
Versuch der Besserung gemacht worden. Überall dieselbe Verwaltungsmanier des<lb/>
l-UWW glisr. Nebenbei bemerkt, würde durch eine solche Reform des Wohnungs¬<lb/>
wesens für die Hebung der Gesundheit in den arbeitenden Klassen wahrscheinlich<lb/>
mehr geschehn, als durch die Gründung von Lungenheilstätten und andern<lb/>
gemeinnützigen Bestrebungen, mögen diese auch noch so gut gemeint sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2791"> Neben einer gesunden Wohnung ist die Hauptsache im Leben des Arbei¬<lb/>
ters eine wirtschaftliche Frau. Ju den Industriebezirken gehn die Mädchen<lb/>
nach Beendigung der Schulzeit in die Fabrik, und aus der Fabrik heiraten<lb/>
sie. Von Wirtschaftsführung, von Kochen und Nähen haben sie meist keine<lb/>
Ahnung. Nur obligatorischer Unterricht in Haushaltungsschulen und Näh¬<lb/>
schulen kaun das Fehlende ergänzen. Süddeutschland ist uns auf diesem Ge¬<lb/>
biete weit voraus, namentlich in Baden wird Mustergiltiges geleistet, wo die<lb/>
edle Großherzogin für die Erziehung der weiblichen Jugend unermüdlich tätig<lb/>
ist.  Sogar auf dem Lande gibt es dort zahlreiche Fraueuarbeitsschulen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2792"> Diese und manche andre Aufgaben harren der Lösung. Es gibt über¬<lb/>
genug zu tun für die Verwaltung des größten deutschen Vuudesftaates. Mögen<lb/>
sich bald die Mäuner finden, die die unvermeidliche Reform der Verwaltung<lb/>
durchzusetzen bereit sind, damit an die Stelle des Schreibwerks die Tat<lb/>
treten kann.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gin französischer Pessimist</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2793" next="#ID_2794"> er Satiriker geht von einer Ansicht der Dinge aus, die, allein ins<lb/>
Auge gefaßt, den Beschauer zum Pessimisten macht, und wenn<lb/>
der Pessimist kein humorloser trübseliger Tropf ist, so ist er selbst<lb/>
Satiriker. Als solcher macht er von seiner verderblichen Philo¬<lb/>
sophie einen nützlichen Gebrauch; wegen seiner Torheiten gegeißelt<lb/>
SU werden, ist für den Menschen der unentbehrliche Bestandteil einer lebenerhal¬<lb/>
tenden Diät. Und dn der französische Philosoph und Staatsmann (Challemel-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1903 K7</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0529] Lin französischer Pessimist deckt, die in diesem Jahre neu zuziehn. Gründliche Besserung kann nur erreicht werden, wenn die Gesetzgebung geändert wird, und der Staat mit seinem Kredit die Vaugesellschaften unterstützt. Das preußische Baufluchtliniengesetz vom 2- Juli 1875 keunt nur den polizeilichen Standpunkt, jeder soziale Gedanke war den Vätern dieses Gesetzes fremd. Es muß der Bau der großen Miets¬ kasernen mit den engen Höfen eingeschränkt und dafür gesorgt werden, daß die Menschen nach Möglichkeit wieder nebeneinander statt übereinander wohnen, daß recht viele Arbeiter ein Heim bekomme:? und damit wieder eine Heimat. Den gemeinnützigen Baugesellschaften müssen Staatsmittel zur Verfügung ge¬ stellt werden, geradeso wie das zur Förderung des Genossenschaftswesens durch Gründung und Dotierung der Zentralgenossenschaftskasse schon geschehn ist. Eine solche Förderung des Wohnungsweseus würde dein Staate nicht einmal etwas kosten, weil die den Baugesellschaften gewahrten Mittel selbstverständlich verzinst werden würden, und doch ist auf diesem Gebiete noch kein ernstlicher Versuch der Besserung gemacht worden. Überall dieselbe Verwaltungsmanier des l-UWW glisr. Nebenbei bemerkt, würde durch eine solche Reform des Wohnungs¬ wesens für die Hebung der Gesundheit in den arbeitenden Klassen wahrscheinlich mehr geschehn, als durch die Gründung von Lungenheilstätten und andern gemeinnützigen Bestrebungen, mögen diese auch noch so gut gemeint sein. Neben einer gesunden Wohnung ist die Hauptsache im Leben des Arbei¬ ters eine wirtschaftliche Frau. Ju den Industriebezirken gehn die Mädchen nach Beendigung der Schulzeit in die Fabrik, und aus der Fabrik heiraten sie. Von Wirtschaftsführung, von Kochen und Nähen haben sie meist keine Ahnung. Nur obligatorischer Unterricht in Haushaltungsschulen und Näh¬ schulen kaun das Fehlende ergänzen. Süddeutschland ist uns auf diesem Ge¬ biete weit voraus, namentlich in Baden wird Mustergiltiges geleistet, wo die edle Großherzogin für die Erziehung der weiblichen Jugend unermüdlich tätig ist. Sogar auf dem Lande gibt es dort zahlreiche Fraueuarbeitsschulen. Diese und manche andre Aufgaben harren der Lösung. Es gibt über¬ genug zu tun für die Verwaltung des größten deutschen Vuudesftaates. Mögen sich bald die Mäuner finden, die die unvermeidliche Reform der Verwaltung durchzusetzen bereit sind, damit an die Stelle des Schreibwerks die Tat treten kann. Gin französischer Pessimist er Satiriker geht von einer Ansicht der Dinge aus, die, allein ins Auge gefaßt, den Beschauer zum Pessimisten macht, und wenn der Pessimist kein humorloser trübseliger Tropf ist, so ist er selbst Satiriker. Als solcher macht er von seiner verderblichen Philo¬ sophie einen nützlichen Gebrauch; wegen seiner Torheiten gegeißelt SU werden, ist für den Menschen der unentbehrliche Bestandteil einer lebenerhal¬ tenden Diät. Und dn der französische Philosoph und Staatsmann (Challemel- Grenzboten I 1903 K7

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/529
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/529>, abgerufen am 24.11.2024.