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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

möge hiermit auch dem Andenken Bernhard Ernst von Bülows als eines im Beruf
wie als Mensch, nach Befähigung wie nach Charakter gleich ausgezeichneten und
"H" hochverdienten Mannes ein Kranz dankbarer Erinnerung gewidmet sein.


Zur sozialen Erziehung der Frau.

Die Grenzboten haben bor kurzem
einen freundlichen und sehr anerkennenden Aufsatz über den Evangelischen Diakonie-
vereiu gebracht. Es darf deshalb der Begründer des Vereins wohl auch einmal
selbst in diesen Blättern das Wort ergreifen, um eine Seite seiner Vereinstätigkeit
hervorzuheben, die ihm die wichtigste ist: die soziale Erziehung der erwachsenen
weiblichen Jugend.

Unzweifelhaft bedarf auch das männliche Geschlecht einer sozialen Erziehung,
die es zur Zeit nicht in genügender Form gibt. Denn die verschiednen Gesellschnfts-
schichten stehn nebeneinander; sie verstehn sich nicht, sie kennen sich nicht, und sie
können deshalb auch nichts füreinander übrig haben. Soll der Klassenkampf über¬
wunden werden, so bedarf es also einer planmäßigen und umfassenden sozialen Er¬
ziehung unsrer Männer. Und doch haben die Männer, wenigstens in Deutschland,
etwas nach dieser Richtung hin schon vor den Frauen, und zwar etwas sehr Wich¬
tiges, voraus: den Heeresdienst. Die militärische Dienstzeit bringt ja freilich
mancherlei Gefahren mit sich, aber im ganzen bleibt doch das Heer eine unver¬
gleichliche Schule der Volkserziehung. Von englischer Seite wurde schon vor Jahren
betont, daß das Geheimnis der aufstrebenden Kraft der deutschen Industrie in dem
allgemeinen Heeresdienste läge. Was hier gelernt wird, ist Hingebung an eine
große gemeinsame Aufgabe, ein gemeinsames Streben und ein gemeinsames Ziel,
und dazu kommt gleichmäßige, tüchtige körperliche Ausbildung und eine damit ver-
bundne Schulung des Charakters. Wir könnten uns Deutschland jetzt nicht mehr
denken ohne unsern allgemeinen Heeresdienst, und jedenfalls wäre ohne ihn unser
Vaterland das nicht mehr, was es heute ist.

Kein Wunder, wenn man etwas ähnliches auch für unsre Frauenwelt wünscht.
Und so ist der Gedanke, auch die Frau müßte eine Zeit öffentlichen Dienstes durch¬
machen, gerade von den Seiten immer wieder hervorgehoben worden, die eine Ver¬
besserung unsrer Frcmenerziehuug erstreben. Daß dieselbe Forderung auch im Sinne
der Frauenemanzipation liegt, sei nur erwähnt. Wer Rechte haben will, muß auch
Pflichten ausüben, und darum muß die nach politischen Rechten verlangende Frau
auch politische Pflichten übernehmen, wie sie der Mann im Heeresdienst erfüllt.

So treffen in der Forderung eines öffentlichen Dienstes der Frau die ver¬
schiedensten Interessen zusammen, aber die wichtigste Seite dieses Dienstes, die
wirklich produktive, wird doch die soziale Erziehung sein. Die Frau bedarf ihrer
wie der Mann, ja sie bedarf einer solchen noch mehr als dieser. Denn es ist
doch ein merkbarer Unterschied zwischen der Erziehung der Knaben und der Mädchen,
wenigstens so lange wir nicht beide in derselben Schule erziehn, und vermutlich auch
dann noch, denn die Mädchen haben nichts dem gleiches, was die Knaben in ihren
Spielen haben. Wenn wir von der Erziehung sprechen, vergessen wir nur zu sehr,
daß nicht nur das Haus und nicht nur die Schule erzieht, sondern daß unsre Knaben
noch in höheren Maße durch ihre gemeinsamen Spiele und Erlebnisse erzogen werden.
Vielleicht bildet sich der Knabencharakter nirgends so sehr als in diesen freien Spielen
in der Gemeinschaft. Dort ist die eigentliche Schule sozialer Erziehung des Knaben¬
alters. Aber die Mädchen kommen wenig auf die Spielplätze; das ist gewiß nicht
unbegründet, aber es dient dazu, daß dem Mädchen in seiner Kindheit das Wesent¬
lichste von dem abgeht, was der Knabe um sozialer Erziehung findet. Doppelt not¬
wendig hat also das Mädchen, wenn es erwachsen ist, ein Gegenstück zu der sozialen
Erziehung, die den Männern der Heeresdienst gibt.

Wie soll ein solcher Frauendienst verwirklicht werden? Es sind schon manche
Bücher darüber geschrieben, aber soweit ich die Literatur kenne, sind nirgends wirklich
durchführbare Vorschläge gemacht worden, und zwar deshalb, weil man zuviel will.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

möge hiermit auch dem Andenken Bernhard Ernst von Bülows als eines im Beruf
wie als Mensch, nach Befähigung wie nach Charakter gleich ausgezeichneten und
«H« hochverdienten Mannes ein Kranz dankbarer Erinnerung gewidmet sein.


Zur sozialen Erziehung der Frau.

Die Grenzboten haben bor kurzem
einen freundlichen und sehr anerkennenden Aufsatz über den Evangelischen Diakonie-
vereiu gebracht. Es darf deshalb der Begründer des Vereins wohl auch einmal
selbst in diesen Blättern das Wort ergreifen, um eine Seite seiner Vereinstätigkeit
hervorzuheben, die ihm die wichtigste ist: die soziale Erziehung der erwachsenen
weiblichen Jugend.

Unzweifelhaft bedarf auch das männliche Geschlecht einer sozialen Erziehung,
die es zur Zeit nicht in genügender Form gibt. Denn die verschiednen Gesellschnfts-
schichten stehn nebeneinander; sie verstehn sich nicht, sie kennen sich nicht, und sie
können deshalb auch nichts füreinander übrig haben. Soll der Klassenkampf über¬
wunden werden, so bedarf es also einer planmäßigen und umfassenden sozialen Er¬
ziehung unsrer Männer. Und doch haben die Männer, wenigstens in Deutschland,
etwas nach dieser Richtung hin schon vor den Frauen, und zwar etwas sehr Wich¬
tiges, voraus: den Heeresdienst. Die militärische Dienstzeit bringt ja freilich
mancherlei Gefahren mit sich, aber im ganzen bleibt doch das Heer eine unver¬
gleichliche Schule der Volkserziehung. Von englischer Seite wurde schon vor Jahren
betont, daß das Geheimnis der aufstrebenden Kraft der deutschen Industrie in dem
allgemeinen Heeresdienste läge. Was hier gelernt wird, ist Hingebung an eine
große gemeinsame Aufgabe, ein gemeinsames Streben und ein gemeinsames Ziel,
und dazu kommt gleichmäßige, tüchtige körperliche Ausbildung und eine damit ver-
bundne Schulung des Charakters. Wir könnten uns Deutschland jetzt nicht mehr
denken ohne unsern allgemeinen Heeresdienst, und jedenfalls wäre ohne ihn unser
Vaterland das nicht mehr, was es heute ist.

Kein Wunder, wenn man etwas ähnliches auch für unsre Frauenwelt wünscht.
Und so ist der Gedanke, auch die Frau müßte eine Zeit öffentlichen Dienstes durch¬
machen, gerade von den Seiten immer wieder hervorgehoben worden, die eine Ver¬
besserung unsrer Frcmenerziehuug erstreben. Daß dieselbe Forderung auch im Sinne
der Frauenemanzipation liegt, sei nur erwähnt. Wer Rechte haben will, muß auch
Pflichten ausüben, und darum muß die nach politischen Rechten verlangende Frau
auch politische Pflichten übernehmen, wie sie der Mann im Heeresdienst erfüllt.

So treffen in der Forderung eines öffentlichen Dienstes der Frau die ver¬
schiedensten Interessen zusammen, aber die wichtigste Seite dieses Dienstes, die
wirklich produktive, wird doch die soziale Erziehung sein. Die Frau bedarf ihrer
wie der Mann, ja sie bedarf einer solchen noch mehr als dieser. Denn es ist
doch ein merkbarer Unterschied zwischen der Erziehung der Knaben und der Mädchen,
wenigstens so lange wir nicht beide in derselben Schule erziehn, und vermutlich auch
dann noch, denn die Mädchen haben nichts dem gleiches, was die Knaben in ihren
Spielen haben. Wenn wir von der Erziehung sprechen, vergessen wir nur zu sehr,
daß nicht nur das Haus und nicht nur die Schule erzieht, sondern daß unsre Knaben
noch in höheren Maße durch ihre gemeinsamen Spiele und Erlebnisse erzogen werden.
Vielleicht bildet sich der Knabencharakter nirgends so sehr als in diesen freien Spielen
in der Gemeinschaft. Dort ist die eigentliche Schule sozialer Erziehung des Knaben¬
alters. Aber die Mädchen kommen wenig auf die Spielplätze; das ist gewiß nicht
unbegründet, aber es dient dazu, daß dem Mädchen in seiner Kindheit das Wesent¬
lichste von dem abgeht, was der Knabe um sozialer Erziehung findet. Doppelt not¬
wendig hat also das Mädchen, wenn es erwachsen ist, ein Gegenstück zu der sozialen
Erziehung, die den Männern der Heeresdienst gibt.

Wie soll ein solcher Frauendienst verwirklicht werden? Es sind schon manche
Bücher darüber geschrieben, aber soweit ich die Literatur kenne, sind nirgends wirklich
durchführbare Vorschläge gemacht worden, und zwar deshalb, weil man zuviel will.


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[0510] Maßgebliches und Unmaßgebliches möge hiermit auch dem Andenken Bernhard Ernst von Bülows als eines im Beruf wie als Mensch, nach Befähigung wie nach Charakter gleich ausgezeichneten und «H« hochverdienten Mannes ein Kranz dankbarer Erinnerung gewidmet sein. Zur sozialen Erziehung der Frau. Die Grenzboten haben bor kurzem einen freundlichen und sehr anerkennenden Aufsatz über den Evangelischen Diakonie- vereiu gebracht. Es darf deshalb der Begründer des Vereins wohl auch einmal selbst in diesen Blättern das Wort ergreifen, um eine Seite seiner Vereinstätigkeit hervorzuheben, die ihm die wichtigste ist: die soziale Erziehung der erwachsenen weiblichen Jugend. Unzweifelhaft bedarf auch das männliche Geschlecht einer sozialen Erziehung, die es zur Zeit nicht in genügender Form gibt. Denn die verschiednen Gesellschnfts- schichten stehn nebeneinander; sie verstehn sich nicht, sie kennen sich nicht, und sie können deshalb auch nichts füreinander übrig haben. Soll der Klassenkampf über¬ wunden werden, so bedarf es also einer planmäßigen und umfassenden sozialen Er¬ ziehung unsrer Männer. Und doch haben die Männer, wenigstens in Deutschland, etwas nach dieser Richtung hin schon vor den Frauen, und zwar etwas sehr Wich¬ tiges, voraus: den Heeresdienst. Die militärische Dienstzeit bringt ja freilich mancherlei Gefahren mit sich, aber im ganzen bleibt doch das Heer eine unver¬ gleichliche Schule der Volkserziehung. Von englischer Seite wurde schon vor Jahren betont, daß das Geheimnis der aufstrebenden Kraft der deutschen Industrie in dem allgemeinen Heeresdienste läge. Was hier gelernt wird, ist Hingebung an eine große gemeinsame Aufgabe, ein gemeinsames Streben und ein gemeinsames Ziel, und dazu kommt gleichmäßige, tüchtige körperliche Ausbildung und eine damit ver- bundne Schulung des Charakters. Wir könnten uns Deutschland jetzt nicht mehr denken ohne unsern allgemeinen Heeresdienst, und jedenfalls wäre ohne ihn unser Vaterland das nicht mehr, was es heute ist. Kein Wunder, wenn man etwas ähnliches auch für unsre Frauenwelt wünscht. Und so ist der Gedanke, auch die Frau müßte eine Zeit öffentlichen Dienstes durch¬ machen, gerade von den Seiten immer wieder hervorgehoben worden, die eine Ver¬ besserung unsrer Frcmenerziehuug erstreben. Daß dieselbe Forderung auch im Sinne der Frauenemanzipation liegt, sei nur erwähnt. Wer Rechte haben will, muß auch Pflichten ausüben, und darum muß die nach politischen Rechten verlangende Frau auch politische Pflichten übernehmen, wie sie der Mann im Heeresdienst erfüllt. So treffen in der Forderung eines öffentlichen Dienstes der Frau die ver¬ schiedensten Interessen zusammen, aber die wichtigste Seite dieses Dienstes, die wirklich produktive, wird doch die soziale Erziehung sein. Die Frau bedarf ihrer wie der Mann, ja sie bedarf einer solchen noch mehr als dieser. Denn es ist doch ein merkbarer Unterschied zwischen der Erziehung der Knaben und der Mädchen, wenigstens so lange wir nicht beide in derselben Schule erziehn, und vermutlich auch dann noch, denn die Mädchen haben nichts dem gleiches, was die Knaben in ihren Spielen haben. Wenn wir von der Erziehung sprechen, vergessen wir nur zu sehr, daß nicht nur das Haus und nicht nur die Schule erzieht, sondern daß unsre Knaben noch in höheren Maße durch ihre gemeinsamen Spiele und Erlebnisse erzogen werden. Vielleicht bildet sich der Knabencharakter nirgends so sehr als in diesen freien Spielen in der Gemeinschaft. Dort ist die eigentliche Schule sozialer Erziehung des Knaben¬ alters. Aber die Mädchen kommen wenig auf die Spielplätze; das ist gewiß nicht unbegründet, aber es dient dazu, daß dem Mädchen in seiner Kindheit das Wesent¬ lichste von dem abgeht, was der Knabe um sozialer Erziehung findet. Doppelt not¬ wendig hat also das Mädchen, wenn es erwachsen ist, ein Gegenstück zu der sozialen Erziehung, die den Männern der Heeresdienst gibt. Wie soll ein solcher Frauendienst verwirklicht werden? Es sind schon manche Bücher darüber geschrieben, aber soweit ich die Literatur kenne, sind nirgends wirklich durchführbare Vorschläge gemacht worden, und zwar deshalb, weil man zuviel will.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/510>, abgerufen am 24.11.2024.