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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Line Inselreihe durch das griechische Meer

polis, die wir dann bestiegen, konnten wir die lelnntischc Ebne, die sich nach
Chalkis zu erstreckt, den Strand von Antis, den euböischen Olhmpos und die
böotischen Berge sehen. Auch über das jetzige Erctrici, das sich Nea Psarn
nennt, gewannen loir einen Überblick. Es ist ein trauriger Ort. König Otto
hat ihn gebaut, und mu ihn zu heben, die griechische Marineschule hinein¬
gelegt. Aber die Stadt ist nicht gediehen, Fiebersümpfe und die Anopheles-
mücke haben die Bewohner zum großen Teil wieder verscheucht, sodaß die
Stadt mit ihren breiten, schattenlosen, dörfischen Straßen und ihren niedrigen
Häusern den Eindruck macht, als könne sie weder leben noch sterben. Übrigens
hat das alte, von den Persern zerstörte Eretria wahrscheinlich nicht hier,
sondern weiter südlich gelegen; die Ruinen, die wir betrachtet hatten, rühren
von der Neugründung der Stadt uach den Perserkriegen her.

Höchst kompliziert ist das Mauerwerk des Apollotempels, so kompliziert,
daß eine der Amerikanerinnen Dörpfelds Auseinandersetzungen nicht zu folgen
vermochte und mich nach dem Verlauf einiger Grundmauern fragte. Sie wolle,
sagte sie in gebrochnem Deutsch, ihren Schülerinnen in Minnesota diese Dinge
auseinandersetzen. Nun, das wird ja die jungen amerikanischen Misses ungemein
interessieren -- dachte ich --, die Grundmauern des Apollotempels zu Eretrin
expliziert zu bekommen! Der Fall war mir wieder eine Bestätigung der schon
öfter gemachten Erfahrung, daß dein weiblichen Geschlechte trotz aller Intelligenz
-- ich bin weit entfernt, das weibliche Gehirn zu unterschätzen -- doch der
rasche Blick für die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, in
wissenschaftlichen Dingen wenigstens, nicht gegeben oder, um mich feministisch
auszudrücken, in den Jahrhunderten künstlicher Verdummung, die die Männer
dem Weibe auferlegt haben, ihm abhanden gekommen ist.

Während des Mittagsmahls fuhr unser Schiff von Eretria hinüber nach
der historisch bedeutungslosen Stadt Rhamnus. Ihre Mauern und Trümmer
liegen auf einem steil aus dem Meere nufsteigeudcn, ziemlich isolierten
Hügel unter Dornen und Gestrüpp begruben, ihre Hauptseheuswürdigkeit sind
aber die beiden Tempel der Nemesis, weiter oben auf der Paßhöhe, da wo
sich der Weg nach Marathon zu senkt. Sie standen hart nebeneinander,
der kleine schon vor deu Perserkriegen aus Kalkstein gebaut, der große aus
dem fünften Jahrhundert aus pentelischem Marmor, doch niemals ganz
vollendet, wie die bloß oben und unten angesetzten Kanellüren, der noch
vorhcmdue Werkzoll auf Stufen und Fußboden, sowie die Kante auf der
Außenseite zum Schutze gegen das Abtreten beweisen. Offenbar sollte der
kleine Tempel nach Vollendung des großen abgebrochen werden. Interessant
waren die zahlreichen in die Steine eingegrabnen Fußmale, durch die die Pilger
bezeugen wollten, daß sie wirklich an Ort und Stelle gewesen seien. Aus
dem kleinen Tempel stammt übrigens das bekannte altertümliche Standbild der
Nemesis im athenischen Nationalmuseum. Durch ein einsames Tal an, Fuße
des Burgberges kehrten wir zum Meere zurück."

Um sechs Uhr abends etwa hielt unsre "Kephallenia vor der Ebne von
Marathon. Diese sieht beim ersten Anblick, dn sie von hohen Bergen um¬
schlossen ist, kleiner aus, als sie tatsächlich ist. Das Wetter erweckte ganz


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polis, die wir dann bestiegen, konnten wir die lelnntischc Ebne, die sich nach
Chalkis zu erstreckt, den Strand von Antis, den euböischen Olhmpos und die
böotischen Berge sehen. Auch über das jetzige Erctrici, das sich Nea Psarn
nennt, gewannen loir einen Überblick. Es ist ein trauriger Ort. König Otto
hat ihn gebaut, und mu ihn zu heben, die griechische Marineschule hinein¬
gelegt. Aber die Stadt ist nicht gediehen, Fiebersümpfe und die Anopheles-
mücke haben die Bewohner zum großen Teil wieder verscheucht, sodaß die
Stadt mit ihren breiten, schattenlosen, dörfischen Straßen und ihren niedrigen
Häusern den Eindruck macht, als könne sie weder leben noch sterben. Übrigens
hat das alte, von den Persern zerstörte Eretria wahrscheinlich nicht hier,
sondern weiter südlich gelegen; die Ruinen, die wir betrachtet hatten, rühren
von der Neugründung der Stadt uach den Perserkriegen her.

Höchst kompliziert ist das Mauerwerk des Apollotempels, so kompliziert,
daß eine der Amerikanerinnen Dörpfelds Auseinandersetzungen nicht zu folgen
vermochte und mich nach dem Verlauf einiger Grundmauern fragte. Sie wolle,
sagte sie in gebrochnem Deutsch, ihren Schülerinnen in Minnesota diese Dinge
auseinandersetzen. Nun, das wird ja die jungen amerikanischen Misses ungemein
interessieren — dachte ich —, die Grundmauern des Apollotempels zu Eretrin
expliziert zu bekommen! Der Fall war mir wieder eine Bestätigung der schon
öfter gemachten Erfahrung, daß dein weiblichen Geschlechte trotz aller Intelligenz
— ich bin weit entfernt, das weibliche Gehirn zu unterschätzen — doch der
rasche Blick für die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, in
wissenschaftlichen Dingen wenigstens, nicht gegeben oder, um mich feministisch
auszudrücken, in den Jahrhunderten künstlicher Verdummung, die die Männer
dem Weibe auferlegt haben, ihm abhanden gekommen ist.

Während des Mittagsmahls fuhr unser Schiff von Eretria hinüber nach
der historisch bedeutungslosen Stadt Rhamnus. Ihre Mauern und Trümmer
liegen auf einem steil aus dem Meere nufsteigeudcn, ziemlich isolierten
Hügel unter Dornen und Gestrüpp begruben, ihre Hauptseheuswürdigkeit sind
aber die beiden Tempel der Nemesis, weiter oben auf der Paßhöhe, da wo
sich der Weg nach Marathon zu senkt. Sie standen hart nebeneinander,
der kleine schon vor deu Perserkriegen aus Kalkstein gebaut, der große aus
dem fünften Jahrhundert aus pentelischem Marmor, doch niemals ganz
vollendet, wie die bloß oben und unten angesetzten Kanellüren, der noch
vorhcmdue Werkzoll auf Stufen und Fußboden, sowie die Kante auf der
Außenseite zum Schutze gegen das Abtreten beweisen. Offenbar sollte der
kleine Tempel nach Vollendung des großen abgebrochen werden. Interessant
waren die zahlreichen in die Steine eingegrabnen Fußmale, durch die die Pilger
bezeugen wollten, daß sie wirklich an Ort und Stelle gewesen seien. Aus
dem kleinen Tempel stammt übrigens das bekannte altertümliche Standbild der
Nemesis im athenischen Nationalmuseum. Durch ein einsames Tal an, Fuße
des Burgberges kehrten wir zum Meere zurück."

Um sechs Uhr abends etwa hielt unsre „Kephallenia vor der Ebne von
Marathon. Diese sieht beim ersten Anblick, dn sie von hohen Bergen um¬
schlossen ist, kleiner aus, als sie tatsächlich ist. Das Wetter erweckte ganz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/51>, abgerufen am 24.11.2024.