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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Heuer!
Erinnerung aus den, russischen polizeileben
Alexander Andreas von(Fortsetzung)
10

o zogen wir den" am nächsten Morgen mit Tagesanbruch aus,
ich, der Wachmeister, ein Schutzmann und die beiden Schornsteinfeger.
Wir begaben uns geradeswegs in die Straße, wo Petrow wohnte.

Das erste Häuschen an der Ecke war eine jämmerliche halb-
verfcillue Hütte. Als wir den Hof betraten, kam eine schlechtgekleidete
Frau herausgestürzt und erkundigte sich in großer Aufregung, was
wir suchten. Auf meine Frage, wann der Schornstein zuletzt gekehrt sei, erzählte
sie unter Tränen, daß sie allein mit zwei Töchtern das Häuschen bewohne. Sie
schwur, ihr Mann und später ihr Sohn hatten alle zwei Wochen die Reinigung
besorgt. Seit der Mann tot und der Sohn unter den Soldaten sei, käme ihr
Neffe manchmal und kehre den Schornstein; jetzt sei er aber schon lange nicht da¬
gewesen, weil er im Krankenhause liege. Es gehe besser mit ihm, und er werde
um nicht lange mehr ausbleiben.

Und unterdessen könnt ihr abbrennen und anch die Nachbarn in Gefahr bringen,
sagte ich.

Ach ja, Herr Polizeimetster, jammerte sie, ich mache ans Furcht schon so wenig
Feuer wie möglich. Ich habe schon eine Kerze in die Kirche geopfert, damit mein
Neffe gesund werde, und wir vom Feuer verschont blieben.

Wir gingen in das Vorhaus, das zugleich als Küche diente, da hier der Ofen
mündete. Die Schornsteinfeger stiegen auf den Herd und griffen an die Wölbung
über dem Ofenmunde.

Ho, rief einer, hier ist seit dem vorigen Winter nicht gekehrt!

Ja, meinte der andre, wenn nicht heute, so hätte es morgen gebrannt.

Reinigen! befahl ich, aber gründlich!

Die Frau weinte und wischte mit der zerfetzten Jacke die Augen. Die Töchter
kamen aus dem Zimmer. Es waren Mädchen von vierzehn und sechzehn Jahren.
Sie hatten kaum das Notwendigste ans dem Leibe und sahen bleich und ver¬
hungert aus.

Der Schutzmann, der die Mappe mit Papier und Tintenfaß trug, fuhr sie
barsch an. Sie sollten in der Stube den Tisch und einen Stuhl rein abwischen,
damit der Herr Gehilfe dort das Protokoll schreiben könne.

Die Mädchen sahen mit Angst auf die Mutter. Diese weinte heftiger.

Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Polizeimeister! schluchzte sie. Machen
Sie uus nicht unglücklich! Zwingen Sie mich nicht, mich in den Fluß zu stürzen!
Wir können uus kaum ein Stück Brot verdienen. Ich vermag keine Strafe zu er¬
legen. Ich habe nichts, das Fegen zu bezahlen.

Während der Schornsteinfeger auf das Dach stieg und der andre seinen Hand¬
besen in Stand setzte, um das Küchengewölbe zu bearbeiten, stieg ich selbst ans den
Herd und tastete mit der linken Hand an die Wände.

Was tun Sie, Euer Wohlgeboren! rief der Wachmeister so erschrocken, als ob
ich mich in die äußerste Lebensgefahr gestürzt hätte.


Grenzboten I 1903 62


Heuer!
Erinnerung aus den, russischen polizeileben
Alexander Andreas von(Fortsetzung)
10

o zogen wir den» am nächsten Morgen mit Tagesanbruch aus,
ich, der Wachmeister, ein Schutzmann und die beiden Schornsteinfeger.
Wir begaben uns geradeswegs in die Straße, wo Petrow wohnte.

Das erste Häuschen an der Ecke war eine jämmerliche halb-
verfcillue Hütte. Als wir den Hof betraten, kam eine schlechtgekleidete
Frau herausgestürzt und erkundigte sich in großer Aufregung, was
wir suchten. Auf meine Frage, wann der Schornstein zuletzt gekehrt sei, erzählte
sie unter Tränen, daß sie allein mit zwei Töchtern das Häuschen bewohne. Sie
schwur, ihr Mann und später ihr Sohn hatten alle zwei Wochen die Reinigung
besorgt. Seit der Mann tot und der Sohn unter den Soldaten sei, käme ihr
Neffe manchmal und kehre den Schornstein; jetzt sei er aber schon lange nicht da¬
gewesen, weil er im Krankenhause liege. Es gehe besser mit ihm, und er werde
um nicht lange mehr ausbleiben.

Und unterdessen könnt ihr abbrennen und anch die Nachbarn in Gefahr bringen,
sagte ich.

Ach ja, Herr Polizeimetster, jammerte sie, ich mache ans Furcht schon so wenig
Feuer wie möglich. Ich habe schon eine Kerze in die Kirche geopfert, damit mein
Neffe gesund werde, und wir vom Feuer verschont blieben.

Wir gingen in das Vorhaus, das zugleich als Küche diente, da hier der Ofen
mündete. Die Schornsteinfeger stiegen auf den Herd und griffen an die Wölbung
über dem Ofenmunde.

Ho, rief einer, hier ist seit dem vorigen Winter nicht gekehrt!

Ja, meinte der andre, wenn nicht heute, so hätte es morgen gebrannt.

Reinigen! befahl ich, aber gründlich!

Die Frau weinte und wischte mit der zerfetzten Jacke die Augen. Die Töchter
kamen aus dem Zimmer. Es waren Mädchen von vierzehn und sechzehn Jahren.
Sie hatten kaum das Notwendigste ans dem Leibe und sahen bleich und ver¬
hungert aus.

Der Schutzmann, der die Mappe mit Papier und Tintenfaß trug, fuhr sie
barsch an. Sie sollten in der Stube den Tisch und einen Stuhl rein abwischen,
damit der Herr Gehilfe dort das Protokoll schreiben könne.

Die Mädchen sahen mit Angst auf die Mutter. Diese weinte heftiger.

Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Polizeimeister! schluchzte sie. Machen
Sie uus nicht unglücklich! Zwingen Sie mich nicht, mich in den Fluß zu stürzen!
Wir können uus kaum ein Stück Brot verdienen. Ich vermag keine Strafe zu er¬
legen. Ich habe nichts, das Fegen zu bezahlen.

Während der Schornsteinfeger auf das Dach stieg und der andre seinen Hand¬
besen in Stand setzte, um das Küchengewölbe zu bearbeiten, stieg ich selbst ans den
Herd und tastete mit der linken Hand an die Wände.

Was tun Sie, Euer Wohlgeboren! rief der Wachmeister so erschrocken, als ob
ich mich in die äußerste Lebensgefahr gestürzt hätte.


Grenzboten I 1903 62
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[0493] [Abbildung] Heuer! Erinnerung aus den, russischen polizeileben Alexander Andreas von(Fortsetzung) 10 o zogen wir den» am nächsten Morgen mit Tagesanbruch aus, ich, der Wachmeister, ein Schutzmann und die beiden Schornsteinfeger. Wir begaben uns geradeswegs in die Straße, wo Petrow wohnte. Das erste Häuschen an der Ecke war eine jämmerliche halb- verfcillue Hütte. Als wir den Hof betraten, kam eine schlechtgekleidete Frau herausgestürzt und erkundigte sich in großer Aufregung, was wir suchten. Auf meine Frage, wann der Schornstein zuletzt gekehrt sei, erzählte sie unter Tränen, daß sie allein mit zwei Töchtern das Häuschen bewohne. Sie schwur, ihr Mann und später ihr Sohn hatten alle zwei Wochen die Reinigung besorgt. Seit der Mann tot und der Sohn unter den Soldaten sei, käme ihr Neffe manchmal und kehre den Schornstein; jetzt sei er aber schon lange nicht da¬ gewesen, weil er im Krankenhause liege. Es gehe besser mit ihm, und er werde um nicht lange mehr ausbleiben. Und unterdessen könnt ihr abbrennen und anch die Nachbarn in Gefahr bringen, sagte ich. Ach ja, Herr Polizeimetster, jammerte sie, ich mache ans Furcht schon so wenig Feuer wie möglich. Ich habe schon eine Kerze in die Kirche geopfert, damit mein Neffe gesund werde, und wir vom Feuer verschont blieben. Wir gingen in das Vorhaus, das zugleich als Küche diente, da hier der Ofen mündete. Die Schornsteinfeger stiegen auf den Herd und griffen an die Wölbung über dem Ofenmunde. Ho, rief einer, hier ist seit dem vorigen Winter nicht gekehrt! Ja, meinte der andre, wenn nicht heute, so hätte es morgen gebrannt. Reinigen! befahl ich, aber gründlich! Die Frau weinte und wischte mit der zerfetzten Jacke die Augen. Die Töchter kamen aus dem Zimmer. Es waren Mädchen von vierzehn und sechzehn Jahren. Sie hatten kaum das Notwendigste ans dem Leibe und sahen bleich und ver¬ hungert aus. Der Schutzmann, der die Mappe mit Papier und Tintenfaß trug, fuhr sie barsch an. Sie sollten in der Stube den Tisch und einen Stuhl rein abwischen, damit der Herr Gehilfe dort das Protokoll schreiben könne. Die Mädchen sahen mit Angst auf die Mutter. Diese weinte heftiger. Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Polizeimeister! schluchzte sie. Machen Sie uus nicht unglücklich! Zwingen Sie mich nicht, mich in den Fluß zu stürzen! Wir können uus kaum ein Stück Brot verdienen. Ich vermag keine Strafe zu er¬ legen. Ich habe nichts, das Fegen zu bezahlen. Während der Schornsteinfeger auf das Dach stieg und der andre seinen Hand¬ besen in Stand setzte, um das Küchengewölbe zu bearbeiten, stieg ich selbst ans den Herd und tastete mit der linken Hand an die Wände. Was tun Sie, Euer Wohlgeboren! rief der Wachmeister so erschrocken, als ob ich mich in die äußerste Lebensgefahr gestürzt hätte. Grenzboten I 1903 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/493>, abgerufen am 24.11.2024.