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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet

in Shakespeares Darstellung einnimmt; im Gegenteil, im zweiten Teil von
Heinrich dem Vierten tritt Falstciff fast noch mehr hervor als im ersten, obgleich
sein Auftreten nur noch selten komisch wirkt. In demselben Maße nun, wie sich
die Erscheinung Falstaffs verändert, geht in einer andern Person des Dramas
eine innere Wandlung vor sich, nämlich in dem Prinzen Heinrich. Zu Anfang
des Dramas ist dieser der alte Freund, Gesellschafter nud Zechgenosse Falstaffs.
sogar an dem Straßenrand bei Gadshill beteiligt er sich, wenn auch mit
einigem Widerstreben. Das ändert sich mit dem Ausbruche des Aufruhrs:
der Prinz gesteht seinem Vater, daß "ihn seine Jugend verkehrt geleitet," und
verspricht ihm feierlich, daß er auf Percys Haupt seine Ehre einlösen will.
Er erscheint noch einmal im wilden Schweinskopf, aber nur, um Falstaff mit¬
zuteilen, daß er ihm eine Stelle im Heere verschafft hat; bezeichnenderweise
zankt sich dieser gerade mit seiner Wirtin herum. Vor der Schlacht "nieder¬
holt der Prinz vor dem König, seinen Brüdern und Falstaff das Bekenntnis:


Was mich betrifft, ich sags zu meiner Scham,
Ich war im Rittertum ein Müßiggänger --

dagegen hören wir unmittelbar nachher aus Falstaffs Munde dessen An¬
schauungen über die Ehre. Die Schlacht selbst zeigt uns den Heldenmut
Vlunts, der sich für seinen König aufopfert, und an seiner Leiche spricht Falstaff
den Epilog: "Ihr habt euer Teil Ehre weg, das ist nun keine Eitelkeit." In
diesen Betrachtungen stört ihn Prinz Heinrich: er hat eine Flasche Sekt mit
auf das Schlachtfeld genommen --- ein höchst bezeichnender Zug, der ein grelles
Schlaglicht auf die Schwäche wirft, die den Prinzen vor der Feuerprobe an¬
wandelt! --; er sieht Falstaff untätig, die Pistole im Futteral, im Hinter¬
grunde hcrumstehn und hört ihn selbst in dieser ernsten Lage seine alten Witze
machen; da faßt ihn der Ekel: er wirst ihm die Flasche zu mit den Worten:
"Was? ist dies eine Zeit zu Späßen und Possen?" -- er hat mit einemmnl
die Kraft gewonnen, auch ohne die Hilfe des Alkohols den Kampf mit Percy zu
bestehn. Dieser Kampf spielt sich vor unsern Augen ab, und daneben sehen
wir -- ein Pendant dazu -- die würdelosen Clownkunststücke Falstaffs, die
ihren Gipfelpunkt erreichen in der großartigen Dreistigkeit, mit der er vor den
Prinzen Heinrich hintritt und für die Leiche des Percy eine Belohnung fordert.
Diese Frechheit aber öffnet seinem alten Freunde mit einemmal die Augen:
ihm entfahren die Worte: "Dies ist ein seltsamer Gesell"; aber sein Zartgefühl
hindert ihn noch, ihm offen in den Weg zu treten:


Für mein Teil, schafft dir eine Lüge Gunst,
Vergold ich sie mit meinen schönsten Worten.

Mit diesem Wendepunkte schließt der erste Teil von Heinrich dem Vierten.
Der Prinz hat seinen alten Freund Falstaff in seiner ganzen Erbärmlichkeit durch¬
schaut, glaubt aber noch, sich ohne offnen Konflikt von ihm trennen zu können.
Demgemäß gehn die Wege Falstaffs und des Prinzen nunmehr völlig aus¬
einander. Wir sehen die dunkle Kehrseite des Falstasfschen Humors: die Hinter¬
gründe seiner Existenz werden von dem Oberrichter schonungslos enthüllt; wir
durchschauen vollständig, wie er aus der Ausbeutung andrer geradezu ein
System gemacht hat, das seiner Schlauheit alle Ehre macht. Prinz Heinrich


Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet

in Shakespeares Darstellung einnimmt; im Gegenteil, im zweiten Teil von
Heinrich dem Vierten tritt Falstciff fast noch mehr hervor als im ersten, obgleich
sein Auftreten nur noch selten komisch wirkt. In demselben Maße nun, wie sich
die Erscheinung Falstaffs verändert, geht in einer andern Person des Dramas
eine innere Wandlung vor sich, nämlich in dem Prinzen Heinrich. Zu Anfang
des Dramas ist dieser der alte Freund, Gesellschafter nud Zechgenosse Falstaffs.
sogar an dem Straßenrand bei Gadshill beteiligt er sich, wenn auch mit
einigem Widerstreben. Das ändert sich mit dem Ausbruche des Aufruhrs:
der Prinz gesteht seinem Vater, daß „ihn seine Jugend verkehrt geleitet," und
verspricht ihm feierlich, daß er auf Percys Haupt seine Ehre einlösen will.
Er erscheint noch einmal im wilden Schweinskopf, aber nur, um Falstaff mit¬
zuteilen, daß er ihm eine Stelle im Heere verschafft hat; bezeichnenderweise
zankt sich dieser gerade mit seiner Wirtin herum. Vor der Schlacht »nieder¬
holt der Prinz vor dem König, seinen Brüdern und Falstaff das Bekenntnis:


Was mich betrifft, ich sags zu meiner Scham,
Ich war im Rittertum ein Müßiggänger —

dagegen hören wir unmittelbar nachher aus Falstaffs Munde dessen An¬
schauungen über die Ehre. Die Schlacht selbst zeigt uns den Heldenmut
Vlunts, der sich für seinen König aufopfert, und an seiner Leiche spricht Falstaff
den Epilog: „Ihr habt euer Teil Ehre weg, das ist nun keine Eitelkeit." In
diesen Betrachtungen stört ihn Prinz Heinrich: er hat eine Flasche Sekt mit
auf das Schlachtfeld genommen -— ein höchst bezeichnender Zug, der ein grelles
Schlaglicht auf die Schwäche wirft, die den Prinzen vor der Feuerprobe an¬
wandelt! —; er sieht Falstaff untätig, die Pistole im Futteral, im Hinter¬
grunde hcrumstehn und hört ihn selbst in dieser ernsten Lage seine alten Witze
machen; da faßt ihn der Ekel: er wirst ihm die Flasche zu mit den Worten:
„Was? ist dies eine Zeit zu Späßen und Possen?" — er hat mit einemmnl
die Kraft gewonnen, auch ohne die Hilfe des Alkohols den Kampf mit Percy zu
bestehn. Dieser Kampf spielt sich vor unsern Augen ab, und daneben sehen
wir — ein Pendant dazu — die würdelosen Clownkunststücke Falstaffs, die
ihren Gipfelpunkt erreichen in der großartigen Dreistigkeit, mit der er vor den
Prinzen Heinrich hintritt und für die Leiche des Percy eine Belohnung fordert.
Diese Frechheit aber öffnet seinem alten Freunde mit einemmal die Augen:
ihm entfahren die Worte: „Dies ist ein seltsamer Gesell"; aber sein Zartgefühl
hindert ihn noch, ihm offen in den Weg zu treten:


Für mein Teil, schafft dir eine Lüge Gunst,
Vergold ich sie mit meinen schönsten Worten.

Mit diesem Wendepunkte schließt der erste Teil von Heinrich dem Vierten.
Der Prinz hat seinen alten Freund Falstaff in seiner ganzen Erbärmlichkeit durch¬
schaut, glaubt aber noch, sich ohne offnen Konflikt von ihm trennen zu können.
Demgemäß gehn die Wege Falstaffs und des Prinzen nunmehr völlig aus¬
einander. Wir sehen die dunkle Kehrseite des Falstasfschen Humors: die Hinter¬
gründe seiner Existenz werden von dem Oberrichter schonungslos enthüllt; wir
durchschauen vollständig, wie er aus der Ausbeutung andrer geradezu ein
System gemacht hat, das seiner Schlauheit alle Ehre macht. Prinz Heinrich


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[0473] Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet in Shakespeares Darstellung einnimmt; im Gegenteil, im zweiten Teil von Heinrich dem Vierten tritt Falstciff fast noch mehr hervor als im ersten, obgleich sein Auftreten nur noch selten komisch wirkt. In demselben Maße nun, wie sich die Erscheinung Falstaffs verändert, geht in einer andern Person des Dramas eine innere Wandlung vor sich, nämlich in dem Prinzen Heinrich. Zu Anfang des Dramas ist dieser der alte Freund, Gesellschafter nud Zechgenosse Falstaffs. sogar an dem Straßenrand bei Gadshill beteiligt er sich, wenn auch mit einigem Widerstreben. Das ändert sich mit dem Ausbruche des Aufruhrs: der Prinz gesteht seinem Vater, daß „ihn seine Jugend verkehrt geleitet," und verspricht ihm feierlich, daß er auf Percys Haupt seine Ehre einlösen will. Er erscheint noch einmal im wilden Schweinskopf, aber nur, um Falstaff mit¬ zuteilen, daß er ihm eine Stelle im Heere verschafft hat; bezeichnenderweise zankt sich dieser gerade mit seiner Wirtin herum. Vor der Schlacht »nieder¬ holt der Prinz vor dem König, seinen Brüdern und Falstaff das Bekenntnis: Was mich betrifft, ich sags zu meiner Scham, Ich war im Rittertum ein Müßiggänger — dagegen hören wir unmittelbar nachher aus Falstaffs Munde dessen An¬ schauungen über die Ehre. Die Schlacht selbst zeigt uns den Heldenmut Vlunts, der sich für seinen König aufopfert, und an seiner Leiche spricht Falstaff den Epilog: „Ihr habt euer Teil Ehre weg, das ist nun keine Eitelkeit." In diesen Betrachtungen stört ihn Prinz Heinrich: er hat eine Flasche Sekt mit auf das Schlachtfeld genommen -— ein höchst bezeichnender Zug, der ein grelles Schlaglicht auf die Schwäche wirft, die den Prinzen vor der Feuerprobe an¬ wandelt! —; er sieht Falstaff untätig, die Pistole im Futteral, im Hinter¬ grunde hcrumstehn und hört ihn selbst in dieser ernsten Lage seine alten Witze machen; da faßt ihn der Ekel: er wirst ihm die Flasche zu mit den Worten: „Was? ist dies eine Zeit zu Späßen und Possen?" — er hat mit einemmnl die Kraft gewonnen, auch ohne die Hilfe des Alkohols den Kampf mit Percy zu bestehn. Dieser Kampf spielt sich vor unsern Augen ab, und daneben sehen wir — ein Pendant dazu — die würdelosen Clownkunststücke Falstaffs, die ihren Gipfelpunkt erreichen in der großartigen Dreistigkeit, mit der er vor den Prinzen Heinrich hintritt und für die Leiche des Percy eine Belohnung fordert. Diese Frechheit aber öffnet seinem alten Freunde mit einemmal die Augen: ihm entfahren die Worte: „Dies ist ein seltsamer Gesell"; aber sein Zartgefühl hindert ihn noch, ihm offen in den Weg zu treten: Für mein Teil, schafft dir eine Lüge Gunst, Vergold ich sie mit meinen schönsten Worten. Mit diesem Wendepunkte schließt der erste Teil von Heinrich dem Vierten. Der Prinz hat seinen alten Freund Falstaff in seiner ganzen Erbärmlichkeit durch¬ schaut, glaubt aber noch, sich ohne offnen Konflikt von ihm trennen zu können. Demgemäß gehn die Wege Falstaffs und des Prinzen nunmehr völlig aus¬ einander. Wir sehen die dunkle Kehrseite des Falstasfschen Humors: die Hinter¬ gründe seiner Existenz werden von dem Oberrichter schonungslos enthüllt; wir durchschauen vollständig, wie er aus der Ausbeutung andrer geradezu ein System gemacht hat, das seiner Schlauheit alle Ehre macht. Prinz Heinrich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/473>, abgerufen am 24.11.2024.