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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Zu den Jugenderinnerungen eines alten Mannes

IN 27. März 1820 wurde der in Dresden-Neustadt wohnende
Porträtmaler Gerhard von Kügelgen, als er abends von seinem
Weinberg in Loschwitz in die Stadt zurückkehren wollte, ans der
Bautzncr Chaussee, der jetzigen Schillerstraße, nahe bei dem
Linkischen Bade von einem Raubmörder erschlagen. Nach langem
Suchen während der Nacht und am folgenden Tage fand ihn sein siebzehn¬
jähriger Sohn Wilhelm, der nachmalige Verfasser eines vielgelesenen, man
kann wohl sagen berühmt gewordnen Buches, der "Jugenderinnerungen eines
alten Mannes," der 1867 als herzoglicher Hofmaler in Bernburg gestorben
ist. Sein Buch schließt ab mit dein rührend bewegenden Berichte des in allen
seinen Nebenumstünden tief erschütternden Ereignisses, das die weiteste Teilnahme
erregte lind in seinein Eindruck auf die Gemüter der Menschen noch lange Zeit
nachwirkte. Gerhard, der zweite Sohn, war am Palmsonntag vom Pastor
Roller in Lnusa eingesegnet worden und sollte am Gründonnerstag mit seinem
Bater und Wilhelm dort zum Abendmahl gehn, die Mutter lag krank und
hatte ihren Mann an jenem Abend gebeten, nicht mehr nach Loschwitz hinaus
zu gehn, sie hatte eine angstvolle Ahnung und war immer gegen den Ankauf
des Weinbergs gewesen: "Der Weinberg ist noch mein Tod"; schon in der
Nacht, ehe man noch die Leiche gefunden hatte, wußte sie, daß das Schreck¬
liche geschehen war. "Sie trösteten mich, alle nannten meine Angst Krankheit,
und -- am Grünen Donnerstag begruben sie ihn!" So schrieb sie um eine
Schwester um 18. Juni 1820. Das jetzt nach so langer Zeit von ihren
Nachkommen herausgegebne Buch, dem diese Stelle entnommen ist: Marie
Helene von Kügelgen geborne Zöge vou Manteuffel, ein Lebensbild in Briefen
(Leipzig, Richard Wöpke) bildet die Fortsetzung der Lebenserinnerungen ihres
Sohnes Wilhelm, ein einzig schönes Buch, das diese an Tiefe und Gehalt
wohl uoch übertrifft. Schon deswegen, weil dieses ganz nach innen gewandte
Seelenleben, das Mutter und Sohn verbindet, der Frau angemessener ist als
dem Manne, dann aber, weil in dieser Fran die weichen, passiven Züge mit
soviel Klarheit und Kraft gepaart find, daß sie dem Sohne gegenüber als der
stärkere Charakter und der bedeutendere Mensch erscheint.

Diese wundervolle Fran, die 1842 in Ballenstedt, dem Wohnorte ihres
Sohnes, starb, hatte einst ans verwöhnten Verhältnissen heraus -- ihr Vater
war Gutsbesitzer bei Reval -- den Porträtmaler Gerhard Kügelgen aus
Bacharach am Rhein geheiratet, der nach einem lungern Aufenthalt in Rom
durch Vermittlung eines livländischen Freundes als Zeichenlehrer in ihr Haus
gekommen war. Der alte Baron hatte seinem künftigen Schwiegersohn zwei




Zu den Jugenderinnerungen eines alten Mannes

IN 27. März 1820 wurde der in Dresden-Neustadt wohnende
Porträtmaler Gerhard von Kügelgen, als er abends von seinem
Weinberg in Loschwitz in die Stadt zurückkehren wollte, ans der
Bautzncr Chaussee, der jetzigen Schillerstraße, nahe bei dem
Linkischen Bade von einem Raubmörder erschlagen. Nach langem
Suchen während der Nacht und am folgenden Tage fand ihn sein siebzehn¬
jähriger Sohn Wilhelm, der nachmalige Verfasser eines vielgelesenen, man
kann wohl sagen berühmt gewordnen Buches, der „Jugenderinnerungen eines
alten Mannes," der 1867 als herzoglicher Hofmaler in Bernburg gestorben
ist. Sein Buch schließt ab mit dein rührend bewegenden Berichte des in allen
seinen Nebenumstünden tief erschütternden Ereignisses, das die weiteste Teilnahme
erregte lind in seinein Eindruck auf die Gemüter der Menschen noch lange Zeit
nachwirkte. Gerhard, der zweite Sohn, war am Palmsonntag vom Pastor
Roller in Lnusa eingesegnet worden und sollte am Gründonnerstag mit seinem
Bater und Wilhelm dort zum Abendmahl gehn, die Mutter lag krank und
hatte ihren Mann an jenem Abend gebeten, nicht mehr nach Loschwitz hinaus
zu gehn, sie hatte eine angstvolle Ahnung und war immer gegen den Ankauf
des Weinbergs gewesen: „Der Weinberg ist noch mein Tod"; schon in der
Nacht, ehe man noch die Leiche gefunden hatte, wußte sie, daß das Schreck¬
liche geschehen war. „Sie trösteten mich, alle nannten meine Angst Krankheit,
und — am Grünen Donnerstag begruben sie ihn!" So schrieb sie um eine
Schwester um 18. Juni 1820. Das jetzt nach so langer Zeit von ihren
Nachkommen herausgegebne Buch, dem diese Stelle entnommen ist: Marie
Helene von Kügelgen geborne Zöge vou Manteuffel, ein Lebensbild in Briefen
(Leipzig, Richard Wöpke) bildet die Fortsetzung der Lebenserinnerungen ihres
Sohnes Wilhelm, ein einzig schönes Buch, das diese an Tiefe und Gehalt
wohl uoch übertrifft. Schon deswegen, weil dieses ganz nach innen gewandte
Seelenleben, das Mutter und Sohn verbindet, der Frau angemessener ist als
dem Manne, dann aber, weil in dieser Fran die weichen, passiven Züge mit
soviel Klarheit und Kraft gepaart find, daß sie dem Sohne gegenüber als der
stärkere Charakter und der bedeutendere Mensch erscheint.

Diese wundervolle Fran, die 1842 in Ballenstedt, dem Wohnorte ihres
Sohnes, starb, hatte einst ans verwöhnten Verhältnissen heraus — ihr Vater
war Gutsbesitzer bei Reval — den Porträtmaler Gerhard Kügelgen aus
Bacharach am Rhein geheiratet, der nach einem lungern Aufenthalt in Rom
durch Vermittlung eines livländischen Freundes als Zeichenlehrer in ihr Haus
gekommen war. Der alte Baron hatte seinem künftigen Schwiegersohn zwei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/466>, abgerufen am 24.11.2024.