Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Irrtümer der Demokratie

der Rousseauschen Drachensaat auf. Die parlamentarischen "Übermenschen"
schössen zu Dutzenden in die Höhe: ihr Recht, sich gegen die Majorität durch¬
zusetzen, leiteten sie aber nicht etwa aus der Überlegenheit ihres Geistes ab,
sondern aus derselbe" Souveränitätslehre, auf die sich das Recht der
Majorität stützte, das sie nun zertrümmerten. Die sozialdemokratische Publizistik
hatte nicht umsonst jahrzehntelang die Gottühnlichkeit der Erwählten des Volkes
gepredigt.

Man spricht von der Obstruktion gewöhnlich als von einer der bedenk¬
lichsten Erscheinungen der Gegenwart. Ich kann diese Ansicht nicht teilen und
möchte den durch sie charakterisierten Zustand vielmehr als die Krise in der
krankhaften demokratischen Entwicklung der abendländischen Völker bezeichnen.
Eine Katastrophe ist das Auftreten der Obstruktion nur für den, der die
moderne Repräsentativverfassung als die einzig mögliche politische Ordnung
betrachtet. Allerdings sind es ihrer noch viele, und darum das törichte Forschen
nach neuen entsprechenden Geschäftsordnungen, als ob eine organische Erschei¬
nung durch mechanische Mittel beseitigt werden könnte. Soviel man sich auch
bemüht, das Ideal einer Geschäftsordnung zu finden, die die Obstruktion aus¬
schlösse, man wird vergeblich suchen, denn eine solche Geschäftsordnung würde
mit der Obstruktion auch die ganze Repräsentativverfassung vernichten; da beide
derselben Wurzel entsprossen sind: dem Rousseauschen Souverünitütsschwindcl. --
Wenn bei der deutschen Zolltarifdebatte die Mehrheit der Minderheit den
Vorwurf machte, daß sie durch die Obstruktion die Verfassung zertrümmere,
so war dieser Vorwurf ebenso begründet wie der, den die Minderheit gegen
die Mehrheit erhob: daß sie sich dnrch die Vergewaltigung der Obstruktion
an dem Geiste der Verfassung versündige. -- Mau täuscht sich deshalb auch,
wenn man sich der Hoffnung hingibt, daß die Obstruktion nur eine vorüber¬
gehende Erscheinung sei; nein, sie gehört zur modernen Volksvertretung wie
das Recht der Mehrheit, und sie wird solange ihre Stöße wiederholen, als
die Repräsentativform besteht, d. h. solange als man noch an dem Irrtum
festhält, daß das Entscheidende für die politische Organisation nicht der Staats¬
zweck, sondern ein allgemeiner Wille ist, den man dnrch Wahlen aus dem
Einzelwillen destillieren könne; solange als man an dem Irrtum der "Sou¬
veränität des Volkswillens" festhält und ans ihm die Souveränität seiner
Vertretung ableitet.

Der Grundirrtum Rousseaus bestand darin, daß er den souveränen Willen
der Einzelnen zu einem souveränen Gesamtwillen zusammenfassen zu können
vermeinte, während die politische Organisation doch in dem Zusammenfassen
der Einzelwillen zu einem gemeinsamen Zwecke, zu dem das allgemeine Beste
suchenden Staatszwecke besteht. Dieser souveräne Gesamtwille ist nirgends
hervorgetreten, nieder ans dem Boden der französischen Verfassung von 1791
und 1793, noch auf dem der ihnen nachgebildeten modernen Verfassungen,
wohl aber kaun man feststellen, daß er sich ans andre Weise gezeigt hat -- ich
erinnere nur an den Vcrfassungskonslikt in Preußen --, nämlich in ge¬
waltigen Persönlichkeiten. Nicht kindlich naive Rechenknnststücke, wie die
Nonssenns, vermögen einen allgemeinen Volkswillen zu konstruieren, der dann


Die Irrtümer der Demokratie

der Rousseauschen Drachensaat auf. Die parlamentarischen „Übermenschen"
schössen zu Dutzenden in die Höhe: ihr Recht, sich gegen die Majorität durch¬
zusetzen, leiteten sie aber nicht etwa aus der Überlegenheit ihres Geistes ab,
sondern aus derselbe« Souveränitätslehre, auf die sich das Recht der
Majorität stützte, das sie nun zertrümmerten. Die sozialdemokratische Publizistik
hatte nicht umsonst jahrzehntelang die Gottühnlichkeit der Erwählten des Volkes
gepredigt.

Man spricht von der Obstruktion gewöhnlich als von einer der bedenk¬
lichsten Erscheinungen der Gegenwart. Ich kann diese Ansicht nicht teilen und
möchte den durch sie charakterisierten Zustand vielmehr als die Krise in der
krankhaften demokratischen Entwicklung der abendländischen Völker bezeichnen.
Eine Katastrophe ist das Auftreten der Obstruktion nur für den, der die
moderne Repräsentativverfassung als die einzig mögliche politische Ordnung
betrachtet. Allerdings sind es ihrer noch viele, und darum das törichte Forschen
nach neuen entsprechenden Geschäftsordnungen, als ob eine organische Erschei¬
nung durch mechanische Mittel beseitigt werden könnte. Soviel man sich auch
bemüht, das Ideal einer Geschäftsordnung zu finden, die die Obstruktion aus¬
schlösse, man wird vergeblich suchen, denn eine solche Geschäftsordnung würde
mit der Obstruktion auch die ganze Repräsentativverfassung vernichten; da beide
derselben Wurzel entsprossen sind: dem Rousseauschen Souverünitütsschwindcl. —
Wenn bei der deutschen Zolltarifdebatte die Mehrheit der Minderheit den
Vorwurf machte, daß sie durch die Obstruktion die Verfassung zertrümmere,
so war dieser Vorwurf ebenso begründet wie der, den die Minderheit gegen
die Mehrheit erhob: daß sie sich dnrch die Vergewaltigung der Obstruktion
an dem Geiste der Verfassung versündige. — Mau täuscht sich deshalb auch,
wenn man sich der Hoffnung hingibt, daß die Obstruktion nur eine vorüber¬
gehende Erscheinung sei; nein, sie gehört zur modernen Volksvertretung wie
das Recht der Mehrheit, und sie wird solange ihre Stöße wiederholen, als
die Repräsentativform besteht, d. h. solange als man noch an dem Irrtum
festhält, daß das Entscheidende für die politische Organisation nicht der Staats¬
zweck, sondern ein allgemeiner Wille ist, den man dnrch Wahlen aus dem
Einzelwillen destillieren könne; solange als man an dem Irrtum der „Sou¬
veränität des Volkswillens" festhält und ans ihm die Souveränität seiner
Vertretung ableitet.

Der Grundirrtum Rousseaus bestand darin, daß er den souveränen Willen
der Einzelnen zu einem souveränen Gesamtwillen zusammenfassen zu können
vermeinte, während die politische Organisation doch in dem Zusammenfassen
der Einzelwillen zu einem gemeinsamen Zwecke, zu dem das allgemeine Beste
suchenden Staatszwecke besteht. Dieser souveräne Gesamtwille ist nirgends
hervorgetreten, nieder ans dem Boden der französischen Verfassung von 1791
und 1793, noch auf dem der ihnen nachgebildeten modernen Verfassungen,
wohl aber kaun man feststellen, daß er sich ans andre Weise gezeigt hat — ich
erinnere nur an den Vcrfassungskonslikt in Preußen —, nämlich in ge¬
waltigen Persönlichkeiten. Nicht kindlich naive Rechenknnststücke, wie die
Nonssenns, vermögen einen allgemeinen Volkswillen zu konstruieren, der dann


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240014"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Irrtümer der Demokratie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2372" prev="#ID_2371"> der Rousseauschen Drachensaat auf. Die parlamentarischen &#x201E;Übermenschen"<lb/>
schössen zu Dutzenden in die Höhe: ihr Recht, sich gegen die Majorität durch¬<lb/>
zusetzen, leiteten sie aber nicht etwa aus der Überlegenheit ihres Geistes ab,<lb/>
sondern aus derselbe« Souveränitätslehre, auf die sich das Recht der<lb/>
Majorität stützte, das sie nun zertrümmerten. Die sozialdemokratische Publizistik<lb/>
hatte nicht umsonst jahrzehntelang die Gottühnlichkeit der Erwählten des Volkes<lb/>
gepredigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2373"> Man spricht von der Obstruktion gewöhnlich als von einer der bedenk¬<lb/>
lichsten Erscheinungen der Gegenwart. Ich kann diese Ansicht nicht teilen und<lb/>
möchte den durch sie charakterisierten Zustand vielmehr als die Krise in der<lb/>
krankhaften demokratischen Entwicklung der abendländischen Völker bezeichnen.<lb/>
Eine Katastrophe ist das Auftreten der Obstruktion nur für den, der die<lb/>
moderne Repräsentativverfassung als die einzig mögliche politische Ordnung<lb/>
betrachtet. Allerdings sind es ihrer noch viele, und darum das törichte Forschen<lb/>
nach neuen entsprechenden Geschäftsordnungen, als ob eine organische Erschei¬<lb/>
nung durch mechanische Mittel beseitigt werden könnte. Soviel man sich auch<lb/>
bemüht, das Ideal einer Geschäftsordnung zu finden, die die Obstruktion aus¬<lb/>
schlösse, man wird vergeblich suchen, denn eine solche Geschäftsordnung würde<lb/>
mit der Obstruktion auch die ganze Repräsentativverfassung vernichten; da beide<lb/>
derselben Wurzel entsprossen sind: dem Rousseauschen Souverünitütsschwindcl. &#x2014;<lb/>
Wenn bei der deutschen Zolltarifdebatte die Mehrheit der Minderheit den<lb/>
Vorwurf machte, daß sie durch die Obstruktion die Verfassung zertrümmere,<lb/>
so war dieser Vorwurf ebenso begründet wie der, den die Minderheit gegen<lb/>
die Mehrheit erhob: daß sie sich dnrch die Vergewaltigung der Obstruktion<lb/>
an dem Geiste der Verfassung versündige. &#x2014; Mau täuscht sich deshalb auch,<lb/>
wenn man sich der Hoffnung hingibt, daß die Obstruktion nur eine vorüber¬<lb/>
gehende Erscheinung sei; nein, sie gehört zur modernen Volksvertretung wie<lb/>
das Recht der Mehrheit, und sie wird solange ihre Stöße wiederholen, als<lb/>
die Repräsentativform besteht, d. h. solange als man noch an dem Irrtum<lb/>
festhält, daß das Entscheidende für die politische Organisation nicht der Staats¬<lb/>
zweck, sondern ein allgemeiner Wille ist, den man dnrch Wahlen aus dem<lb/>
Einzelwillen destillieren könne; solange als man an dem Irrtum der &#x201E;Sou¬<lb/>
veränität des Volkswillens" festhält und ans ihm die Souveränität seiner<lb/>
Vertretung ableitet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2374" next="#ID_2375"> Der Grundirrtum Rousseaus bestand darin, daß er den souveränen Willen<lb/>
der Einzelnen zu einem souveränen Gesamtwillen zusammenfassen zu können<lb/>
vermeinte, während die politische Organisation doch in dem Zusammenfassen<lb/>
der Einzelwillen zu einem gemeinsamen Zwecke, zu dem das allgemeine Beste<lb/>
suchenden Staatszwecke besteht. Dieser souveräne Gesamtwille ist nirgends<lb/>
hervorgetreten, nieder ans dem Boden der französischen Verfassung von 1791<lb/>
und 1793, noch auf dem der ihnen nachgebildeten modernen Verfassungen,<lb/>
wohl aber kaun man feststellen, daß er sich ans andre Weise gezeigt hat &#x2014; ich<lb/>
erinnere nur an den Vcrfassungskonslikt in Preußen &#x2014;, nämlich in ge¬<lb/>
waltigen Persönlichkeiten. Nicht kindlich naive Rechenknnststücke, wie die<lb/>
Nonssenns, vermögen einen allgemeinen Volkswillen zu konstruieren, der dann</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0458] Die Irrtümer der Demokratie der Rousseauschen Drachensaat auf. Die parlamentarischen „Übermenschen" schössen zu Dutzenden in die Höhe: ihr Recht, sich gegen die Majorität durch¬ zusetzen, leiteten sie aber nicht etwa aus der Überlegenheit ihres Geistes ab, sondern aus derselbe« Souveränitätslehre, auf die sich das Recht der Majorität stützte, das sie nun zertrümmerten. Die sozialdemokratische Publizistik hatte nicht umsonst jahrzehntelang die Gottühnlichkeit der Erwählten des Volkes gepredigt. Man spricht von der Obstruktion gewöhnlich als von einer der bedenk¬ lichsten Erscheinungen der Gegenwart. Ich kann diese Ansicht nicht teilen und möchte den durch sie charakterisierten Zustand vielmehr als die Krise in der krankhaften demokratischen Entwicklung der abendländischen Völker bezeichnen. Eine Katastrophe ist das Auftreten der Obstruktion nur für den, der die moderne Repräsentativverfassung als die einzig mögliche politische Ordnung betrachtet. Allerdings sind es ihrer noch viele, und darum das törichte Forschen nach neuen entsprechenden Geschäftsordnungen, als ob eine organische Erschei¬ nung durch mechanische Mittel beseitigt werden könnte. Soviel man sich auch bemüht, das Ideal einer Geschäftsordnung zu finden, die die Obstruktion aus¬ schlösse, man wird vergeblich suchen, denn eine solche Geschäftsordnung würde mit der Obstruktion auch die ganze Repräsentativverfassung vernichten; da beide derselben Wurzel entsprossen sind: dem Rousseauschen Souverünitütsschwindcl. — Wenn bei der deutschen Zolltarifdebatte die Mehrheit der Minderheit den Vorwurf machte, daß sie durch die Obstruktion die Verfassung zertrümmere, so war dieser Vorwurf ebenso begründet wie der, den die Minderheit gegen die Mehrheit erhob: daß sie sich dnrch die Vergewaltigung der Obstruktion an dem Geiste der Verfassung versündige. — Mau täuscht sich deshalb auch, wenn man sich der Hoffnung hingibt, daß die Obstruktion nur eine vorüber¬ gehende Erscheinung sei; nein, sie gehört zur modernen Volksvertretung wie das Recht der Mehrheit, und sie wird solange ihre Stöße wiederholen, als die Repräsentativform besteht, d. h. solange als man noch an dem Irrtum festhält, daß das Entscheidende für die politische Organisation nicht der Staats¬ zweck, sondern ein allgemeiner Wille ist, den man dnrch Wahlen aus dem Einzelwillen destillieren könne; solange als man an dem Irrtum der „Sou¬ veränität des Volkswillens" festhält und ans ihm die Souveränität seiner Vertretung ableitet. Der Grundirrtum Rousseaus bestand darin, daß er den souveränen Willen der Einzelnen zu einem souveränen Gesamtwillen zusammenfassen zu können vermeinte, während die politische Organisation doch in dem Zusammenfassen der Einzelwillen zu einem gemeinsamen Zwecke, zu dem das allgemeine Beste suchenden Staatszwecke besteht. Dieser souveräne Gesamtwille ist nirgends hervorgetreten, nieder ans dem Boden der französischen Verfassung von 1791 und 1793, noch auf dem der ihnen nachgebildeten modernen Verfassungen, wohl aber kaun man feststellen, daß er sich ans andre Weise gezeigt hat — ich erinnere nur an den Vcrfassungskonslikt in Preußen —, nämlich in ge¬ waltigen Persönlichkeiten. Nicht kindlich naive Rechenknnststücke, wie die Nonssenns, vermögen einen allgemeinen Volkswillen zu konstruieren, der dann

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/458
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/458>, abgerufen am 28.07.2024.