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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

reiten - wenn die russische Diplomatie bei der beabsichtigten Neuerung am
Balkan weniger einseitig ist, als im Jahre 1878. Denn es muß jedem, der einiges
politische Wissen und Gefühl hat, ohne weiteres einleuchten, das; der Präliminar-
friede von Santo Stefano, der als russische Vormacht ein Bulgarien bis zum Ägäischen
Meer und zum Plutos schaffen wollte, im Interesse des lokalen balkanischen wie
des großen europäischen Gleichgewichts durch eben den Berliner Vertrag auf ein
angängigeres Maß zurückgeführt werden mußte. (Vor allem wurde das Berliner
Traktat jedenfalls nicht, wie es nach Fürst Uchtvmskis obiger Äußerung scheinen
könnte, insbesondre zu Deutschlands Vorteil, sondern in Berücksichtigung der berechtigten
Interessen Österreichs und Englands geschlossen.) -- Wenn die äußere Einwirkung
auf Makedonien, zu der Rußland neuerdings die Initiative ergriffen hat, einen
wirklichen, dauernden Erfolg haben soll, so kann dies sicher nur uns Grund eines
Programms geschehen, das nach dein baren Grundsatz der Friedenstiftung, der Billig¬
keit und der Zweckmäßigkeit aufgestellt ist. Nur dann kann ein friedlicherer Zustand
gesichert werden, wenn man davon ausgeht, daß allein die gerechte Abwägung der
nationalen und der damit verbundnen religiösen Interessen der Makedonier die
Besserung zustande bringt. Und da müßte (nach der Reformierung der Steuer¬
erhebung und des Waffentragens) zunächst an den Vorgang von Üsküb angeknüpft
werden, wo nach langen- Ringen um die Gleichberechtigung, und nachdem sich König
Alexander selbst seinerzeit an den ökumenische" Patriarchen gewandt hatte, die Serben
endlich in dem Metropoliten Firmilian ihrer starken Seelenzahl entsprechend ein
Oberhaupt ihrer Kirche erhielten. Ganz abgesehen von der Suprematie der tür¬
kischen Bevölkerung siud ja die Rechtsverhältnisse auch innerhalb der andern Natio¬
nalitäten in Makedonien nichts weniger als ausgeglichen.

Es verlautete, daß Graf Lmnsdorff in Wien dem Grafen Goluchowski
vorgeschlagen habe, daß Rußland in Behandlung der makedonischer Frage Bulgarien,
Österreich dagegen Serbien als besondre "Interessensphäre" betrachte. Denselben
Vorschlag hat schon Graf Murawiew bei der vorigen sogenannten Entente dem öster¬
reichischen Kollegen gemacht -- der auch diesesmal auf diese Zweiteilung aus guten
Gründen nicht eingegangen sein dürfte. Mit einer solchen Diplomatie wird die
Lösung des makedonischer Problems ja kaum angebahnt ohne die Gefahr, daß sich
Gegensätze entwickeln, die sich mit der Zeit zuspitzen müßten und Makedonien mehr
schaden als nutzen würden.

Nur praktisch und schrittweise kann etwas erreicht werden. Das ist Wohl
auch die deutsche Anschauung. Und Deutschland hat Grund hierzu. Denn wenn,
wie Graf Bülow im Dezember 1898 betonte, Deutschland auch "keine direkten
politischen" Interessen auf dem Balkan hat, so wachsen doch stetig unsre dortigen
Hnndelsinteressen. In der serbischen Einfuhr z. B. steht Deutschland hente schon
an zweiter Stelle, und deutsches Kapital ist in dortigen Unternehmungen vielfach
beteiligt. Wie nötig aber gerade in unsern Tagen der Hvchkonkurrenz gute Absatz¬
märkte und Ausbeutungsgebiete sind, das bedarf wohl keines Nachweises.


Fritz von Briefen
Die Noranarrheit.

Bei den wahnsinnigen Vorkommnissen unsrer Zeit ist
es Pflicht, immer wieder laut und öffentlich zu sagen, daß Literatnrerzeugnisse nach
Art von Ibsens Nora Gift siud. Nach Werthers Beispiel erschießen sich einige Dutzend
liebesieche Jünglinge. Der Schaden ist nicht groß; die Welt verliert nichts an an¬
gehenden Männern, die keinen Schmerz aushalten. Vielleicht verlieren auch Kinder
nichts an einer Mutter, die sich durch eine Noraanfführung verleiten läßt, von
ihnen fortzulaufen; aber hier liegt der Schaden darin, daß in einem von Nora-
Phnntasien vergifteten Milieu das reine und strenge Pflichtgefühl, dessen eine Mutter
bedarf, überhaupt nicht entstehn kann. Goethe war ohne Schuld. Als Jüngling
hat er den Werther geschrieben, um sich von seiner krankhaften Stimmung zu be¬
freien, und ohne an die möglichen Folgen des Buches zu denken, die ihn, als sie
dann eintraten, nicht wenig verdrossen. (Lessing hatte gleich gesagt, so etwas dürfe


Maßgebliches und Unmaßgebliches

reiten - wenn die russische Diplomatie bei der beabsichtigten Neuerung am
Balkan weniger einseitig ist, als im Jahre 1878. Denn es muß jedem, der einiges
politische Wissen und Gefühl hat, ohne weiteres einleuchten, das; der Präliminar-
friede von Santo Stefano, der als russische Vormacht ein Bulgarien bis zum Ägäischen
Meer und zum Plutos schaffen wollte, im Interesse des lokalen balkanischen wie
des großen europäischen Gleichgewichts durch eben den Berliner Vertrag auf ein
angängigeres Maß zurückgeführt werden mußte. (Vor allem wurde das Berliner
Traktat jedenfalls nicht, wie es nach Fürst Uchtvmskis obiger Äußerung scheinen
könnte, insbesondre zu Deutschlands Vorteil, sondern in Berücksichtigung der berechtigten
Interessen Österreichs und Englands geschlossen.) — Wenn die äußere Einwirkung
auf Makedonien, zu der Rußland neuerdings die Initiative ergriffen hat, einen
wirklichen, dauernden Erfolg haben soll, so kann dies sicher nur uns Grund eines
Programms geschehen, das nach dein baren Grundsatz der Friedenstiftung, der Billig¬
keit und der Zweckmäßigkeit aufgestellt ist. Nur dann kann ein friedlicherer Zustand
gesichert werden, wenn man davon ausgeht, daß allein die gerechte Abwägung der
nationalen und der damit verbundnen religiösen Interessen der Makedonier die
Besserung zustande bringt. Und da müßte (nach der Reformierung der Steuer¬
erhebung und des Waffentragens) zunächst an den Vorgang von Üsküb angeknüpft
werden, wo nach langen- Ringen um die Gleichberechtigung, und nachdem sich König
Alexander selbst seinerzeit an den ökumenische» Patriarchen gewandt hatte, die Serben
endlich in dem Metropoliten Firmilian ihrer starken Seelenzahl entsprechend ein
Oberhaupt ihrer Kirche erhielten. Ganz abgesehen von der Suprematie der tür¬
kischen Bevölkerung siud ja die Rechtsverhältnisse auch innerhalb der andern Natio¬
nalitäten in Makedonien nichts weniger als ausgeglichen.

Es verlautete, daß Graf Lmnsdorff in Wien dem Grafen Goluchowski
vorgeschlagen habe, daß Rußland in Behandlung der makedonischer Frage Bulgarien,
Österreich dagegen Serbien als besondre „Interessensphäre" betrachte. Denselben
Vorschlag hat schon Graf Murawiew bei der vorigen sogenannten Entente dem öster¬
reichischen Kollegen gemacht — der auch diesesmal auf diese Zweiteilung aus guten
Gründen nicht eingegangen sein dürfte. Mit einer solchen Diplomatie wird die
Lösung des makedonischer Problems ja kaum angebahnt ohne die Gefahr, daß sich
Gegensätze entwickeln, die sich mit der Zeit zuspitzen müßten und Makedonien mehr
schaden als nutzen würden.

Nur praktisch und schrittweise kann etwas erreicht werden. Das ist Wohl
auch die deutsche Anschauung. Und Deutschland hat Grund hierzu. Denn wenn,
wie Graf Bülow im Dezember 1898 betonte, Deutschland auch „keine direkten
politischen" Interessen auf dem Balkan hat, so wachsen doch stetig unsre dortigen
Hnndelsinteressen. In der serbischen Einfuhr z. B. steht Deutschland hente schon
an zweiter Stelle, und deutsches Kapital ist in dortigen Unternehmungen vielfach
beteiligt. Wie nötig aber gerade in unsern Tagen der Hvchkonkurrenz gute Absatz¬
märkte und Ausbeutungsgebiete sind, das bedarf wohl keines Nachweises.


Fritz von Briefen
Die Noranarrheit.

Bei den wahnsinnigen Vorkommnissen unsrer Zeit ist
es Pflicht, immer wieder laut und öffentlich zu sagen, daß Literatnrerzeugnisse nach
Art von Ibsens Nora Gift siud. Nach Werthers Beispiel erschießen sich einige Dutzend
liebesieche Jünglinge. Der Schaden ist nicht groß; die Welt verliert nichts an an¬
gehenden Männern, die keinen Schmerz aushalten. Vielleicht verlieren auch Kinder
nichts an einer Mutter, die sich durch eine Noraanfführung verleiten läßt, von
ihnen fortzulaufen; aber hier liegt der Schaden darin, daß in einem von Nora-
Phnntasien vergifteten Milieu das reine und strenge Pflichtgefühl, dessen eine Mutter
bedarf, überhaupt nicht entstehn kann. Goethe war ohne Schuld. Als Jüngling
hat er den Werther geschrieben, um sich von seiner krankhaften Stimmung zu be¬
freien, und ohne an die möglichen Folgen des Buches zu denken, die ihn, als sie
dann eintraten, nicht wenig verdrossen. (Lessing hatte gleich gesagt, so etwas dürfe


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[0440] Maßgebliches und Unmaßgebliches reiten - wenn die russische Diplomatie bei der beabsichtigten Neuerung am Balkan weniger einseitig ist, als im Jahre 1878. Denn es muß jedem, der einiges politische Wissen und Gefühl hat, ohne weiteres einleuchten, das; der Präliminar- friede von Santo Stefano, der als russische Vormacht ein Bulgarien bis zum Ägäischen Meer und zum Plutos schaffen wollte, im Interesse des lokalen balkanischen wie des großen europäischen Gleichgewichts durch eben den Berliner Vertrag auf ein angängigeres Maß zurückgeführt werden mußte. (Vor allem wurde das Berliner Traktat jedenfalls nicht, wie es nach Fürst Uchtvmskis obiger Äußerung scheinen könnte, insbesondre zu Deutschlands Vorteil, sondern in Berücksichtigung der berechtigten Interessen Österreichs und Englands geschlossen.) — Wenn die äußere Einwirkung auf Makedonien, zu der Rußland neuerdings die Initiative ergriffen hat, einen wirklichen, dauernden Erfolg haben soll, so kann dies sicher nur uns Grund eines Programms geschehen, das nach dein baren Grundsatz der Friedenstiftung, der Billig¬ keit und der Zweckmäßigkeit aufgestellt ist. Nur dann kann ein friedlicherer Zustand gesichert werden, wenn man davon ausgeht, daß allein die gerechte Abwägung der nationalen und der damit verbundnen religiösen Interessen der Makedonier die Besserung zustande bringt. Und da müßte (nach der Reformierung der Steuer¬ erhebung und des Waffentragens) zunächst an den Vorgang von Üsküb angeknüpft werden, wo nach langen- Ringen um die Gleichberechtigung, und nachdem sich König Alexander selbst seinerzeit an den ökumenische» Patriarchen gewandt hatte, die Serben endlich in dem Metropoliten Firmilian ihrer starken Seelenzahl entsprechend ein Oberhaupt ihrer Kirche erhielten. Ganz abgesehen von der Suprematie der tür¬ kischen Bevölkerung siud ja die Rechtsverhältnisse auch innerhalb der andern Natio¬ nalitäten in Makedonien nichts weniger als ausgeglichen. Es verlautete, daß Graf Lmnsdorff in Wien dem Grafen Goluchowski vorgeschlagen habe, daß Rußland in Behandlung der makedonischer Frage Bulgarien, Österreich dagegen Serbien als besondre „Interessensphäre" betrachte. Denselben Vorschlag hat schon Graf Murawiew bei der vorigen sogenannten Entente dem öster¬ reichischen Kollegen gemacht — der auch diesesmal auf diese Zweiteilung aus guten Gründen nicht eingegangen sein dürfte. Mit einer solchen Diplomatie wird die Lösung des makedonischer Problems ja kaum angebahnt ohne die Gefahr, daß sich Gegensätze entwickeln, die sich mit der Zeit zuspitzen müßten und Makedonien mehr schaden als nutzen würden. Nur praktisch und schrittweise kann etwas erreicht werden. Das ist Wohl auch die deutsche Anschauung. Und Deutschland hat Grund hierzu. Denn wenn, wie Graf Bülow im Dezember 1898 betonte, Deutschland auch „keine direkten politischen" Interessen auf dem Balkan hat, so wachsen doch stetig unsre dortigen Hnndelsinteressen. In der serbischen Einfuhr z. B. steht Deutschland hente schon an zweiter Stelle, und deutsches Kapital ist in dortigen Unternehmungen vielfach beteiligt. Wie nötig aber gerade in unsern Tagen der Hvchkonkurrenz gute Absatz¬ märkte und Ausbeutungsgebiete sind, das bedarf wohl keines Nachweises. Fritz von Briefen Die Noranarrheit. Bei den wahnsinnigen Vorkommnissen unsrer Zeit ist es Pflicht, immer wieder laut und öffentlich zu sagen, daß Literatnrerzeugnisse nach Art von Ibsens Nora Gift siud. Nach Werthers Beispiel erschießen sich einige Dutzend liebesieche Jünglinge. Der Schaden ist nicht groß; die Welt verliert nichts an an¬ gehenden Männern, die keinen Schmerz aushalten. Vielleicht verlieren auch Kinder nichts an einer Mutter, die sich durch eine Noraanfführung verleiten läßt, von ihnen fortzulaufen; aber hier liegt der Schaden darin, daß in einem von Nora- Phnntasien vergifteten Milieu das reine und strenge Pflichtgefühl, dessen eine Mutter bedarf, überhaupt nicht entstehn kann. Goethe war ohne Schuld. Als Jüngling hat er den Werther geschrieben, um sich von seiner krankhaften Stimmung zu be¬ freien, und ohne an die möglichen Folgen des Buches zu denken, die ihn, als sie dann eintraten, nicht wenig verdrossen. (Lessing hatte gleich gesagt, so etwas dürfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/440>, abgerufen am 24.11.2024.