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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet

Es ist mir völlig klar, ihr habt die Gutmütigkeit dieser Frau ausgenutzt, und sie ist
euch sowohl mit ihrem Gelde als mit ihrer Person zu willen gewesen. -- Zahlt ihr die
Schuld aus, die sie an euch zu fordern hat, und macht die Schande gut, die ihr mit
ihr verübt habt; das eine könnt ihr mit barem Gelde, das andre mit echter Reue.

Falstaff: Gnädiger Herr, ich kann mir das nicht ohne Antwort bieten lassen.
Ihr nennt edle Kühnheit unverschämte Frechheit hinan beachte diese für Falstaffs
Denkart höchst bezeichnende Umwertung!^; wenn jemand Bücklinge macht und gar nichts
sagt, dann ist er tugendhaft. Nein, gnädiger Herr, bei allem untertänigen Respekt
vor euch, ich bin nicht euer Knecht. Ich sage euch, ich verlange Befreiung von diesen
Gerichtsdienern, denn ich bin mit eiligen Geschäften für den König beauftragt.

Oberrichter: Ihr redet wie einer, der Macht hat, Übles zu tun; aber ent-
spreche euerm Rufe durch die Tat und befriedigt die arme Frau.

Falstaff muß sich also bequemen, er zieht die Wirtin beiseite und bringt
es fertig, sie nicht nur zur Zurückziehung ihrer Klage zu bewegen, sondern sie
sogar von neuem wieder anzupumpen -- gewiß ein hervorragender Beweis seines
Raffinements! Anstatt nun aber von der Bildfläche zu verschwinden, wozu er
doch nach den Dingen, die ihm der Oberrichter gesagt hat, alle Ursache hatte,
drängt er sich von neuem an ihn heran.


Oberrichter

Ich habe bessre Neuigkeit gehört.

(zu Gower):

Falstaff:

Wie lauten die Neuigkeiten, bester, gnädger Herr.


Oberrichter

Wo lag der König letzte Nacht?

(ignoriert Falstaff):

Gower:

Zu Basingstoke.


Oberrichter:

Kommt seine ganze Macht zurück?

Nein, fünfzehnhundert Mann, fünfhundert Pferde
Sind ausgerückt zum Prinz von Lancaster
Northumberland entgegen und dem Erzbischof.


Gower:
(macht einen zweiten Versuch):

Kommt der König von Wales zurück, mein


Falstaff

edler Herr?


Oberrichter
(ignoriert ihn wiederum):

Ich will euch unverzüglich Briefe geben,

Kommt, seid so gut und geht mit mir, Herr Gower.


Falstaff
(zum drittenmale!):

Gnädiger Herr.

(nichts weniger als höflich):

Was gibts?


Oberrichter

Herr Gower, darf ich euch auf

(ignoriert nun seinerseits den Oberrichter):

Falstaff

den Mittag zum Essen bitten?

Ich muß meinem gnädigen Herrn hier aufwarten, ich danke euch, lieber


Gower:

Sir John.

Sir John, ihr zaudert


Oberrichter
(sucht Falstaff anzudeuten, daß er überflüssig ist):

hier zu lange, da ihr in den Grafschaften, wo ihr durchkomme, Soldaten ausheben sollt.

(trotz der Ablehnung!):

Wollt ihr mit mir zu Abend essen, Herr Gower?


Falstaff

Welcher alberne Lehrmeister hat euch diese

(verliert die Geduld!):

Oberrichter

Sitten gelehrt?


Falstaff:

Herr Gower, wenn sie mir nicht gut stehn, so war der ein Narr,

(Zum Oberrichter:)
der sie mich gelehrt hat. Dies ist der wahre Fechteranstand, gnä¬
diger Herr: Hieb auf Hieb, und somit friedlich auseinander.

Er steckt also die Beleidigung, die in den verächtlichen Worten des Ober¬
richters liegt, ruhig ein, versucht sogar Gower gegenüber, sie ins Lächerliche
zu ziehn, und will trotzdem noch mit seinen Worten an den Oberrichter den
Anschein erwecken, als hätte er sich als Mann von Ehre benommen. Der einzig
mögliche Schluß hierauf sind die Worte des Oberrichters: "Nun, der Herr er¬
leuchte dich, du bist ein großer Narr." Offenbar hat Falstaff gar kein Gefühl


Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet

Es ist mir völlig klar, ihr habt die Gutmütigkeit dieser Frau ausgenutzt, und sie ist
euch sowohl mit ihrem Gelde als mit ihrer Person zu willen gewesen. — Zahlt ihr die
Schuld aus, die sie an euch zu fordern hat, und macht die Schande gut, die ihr mit
ihr verübt habt; das eine könnt ihr mit barem Gelde, das andre mit echter Reue.

Falstaff: Gnädiger Herr, ich kann mir das nicht ohne Antwort bieten lassen.
Ihr nennt edle Kühnheit unverschämte Frechheit hinan beachte diese für Falstaffs
Denkart höchst bezeichnende Umwertung!^; wenn jemand Bücklinge macht und gar nichts
sagt, dann ist er tugendhaft. Nein, gnädiger Herr, bei allem untertänigen Respekt
vor euch, ich bin nicht euer Knecht. Ich sage euch, ich verlange Befreiung von diesen
Gerichtsdienern, denn ich bin mit eiligen Geschäften für den König beauftragt.

Oberrichter: Ihr redet wie einer, der Macht hat, Übles zu tun; aber ent-
spreche euerm Rufe durch die Tat und befriedigt die arme Frau.

Falstaff muß sich also bequemen, er zieht die Wirtin beiseite und bringt
es fertig, sie nicht nur zur Zurückziehung ihrer Klage zu bewegen, sondern sie
sogar von neuem wieder anzupumpen — gewiß ein hervorragender Beweis seines
Raffinements! Anstatt nun aber von der Bildfläche zu verschwinden, wozu er
doch nach den Dingen, die ihm der Oberrichter gesagt hat, alle Ursache hatte,
drängt er sich von neuem an ihn heran.


Oberrichter

Ich habe bessre Neuigkeit gehört.

(zu Gower):

Falstaff:

Wie lauten die Neuigkeiten, bester, gnädger Herr.


Oberrichter

Wo lag der König letzte Nacht?

(ignoriert Falstaff):

Gower:

Zu Basingstoke.


Oberrichter:

Kommt seine ganze Macht zurück?

Nein, fünfzehnhundert Mann, fünfhundert Pferde
Sind ausgerückt zum Prinz von Lancaster
Northumberland entgegen und dem Erzbischof.


Gower:
(macht einen zweiten Versuch):

Kommt der König von Wales zurück, mein


Falstaff

edler Herr?


Oberrichter
(ignoriert ihn wiederum):

Ich will euch unverzüglich Briefe geben,

Kommt, seid so gut und geht mit mir, Herr Gower.


Falstaff
(zum drittenmale!):

Gnädiger Herr.

(nichts weniger als höflich):

Was gibts?


Oberrichter

Herr Gower, darf ich euch auf

(ignoriert nun seinerseits den Oberrichter):

Falstaff

den Mittag zum Essen bitten?

Ich muß meinem gnädigen Herrn hier aufwarten, ich danke euch, lieber


Gower:

Sir John.

Sir John, ihr zaudert


Oberrichter
(sucht Falstaff anzudeuten, daß er überflüssig ist):

hier zu lange, da ihr in den Grafschaften, wo ihr durchkomme, Soldaten ausheben sollt.

(trotz der Ablehnung!):

Wollt ihr mit mir zu Abend essen, Herr Gower?


Falstaff

Welcher alberne Lehrmeister hat euch diese

(verliert die Geduld!):

Oberrichter

Sitten gelehrt?


Falstaff:

Herr Gower, wenn sie mir nicht gut stehn, so war der ein Narr,

(Zum Oberrichter:)
der sie mich gelehrt hat. Dies ist der wahre Fechteranstand, gnä¬
diger Herr: Hieb auf Hieb, und somit friedlich auseinander.

Er steckt also die Beleidigung, die in den verächtlichen Worten des Ober¬
richters liegt, ruhig ein, versucht sogar Gower gegenüber, sie ins Lächerliche
zu ziehn, und will trotzdem noch mit seinen Worten an den Oberrichter den
Anschein erwecken, als hätte er sich als Mann von Ehre benommen. Der einzig
mögliche Schluß hierauf sind die Worte des Oberrichters: „Nun, der Herr er¬
leuchte dich, du bist ein großer Narr." Offenbar hat Falstaff gar kein Gefühl


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[0414] Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet Es ist mir völlig klar, ihr habt die Gutmütigkeit dieser Frau ausgenutzt, und sie ist euch sowohl mit ihrem Gelde als mit ihrer Person zu willen gewesen. — Zahlt ihr die Schuld aus, die sie an euch zu fordern hat, und macht die Schande gut, die ihr mit ihr verübt habt; das eine könnt ihr mit barem Gelde, das andre mit echter Reue. Falstaff: Gnädiger Herr, ich kann mir das nicht ohne Antwort bieten lassen. Ihr nennt edle Kühnheit unverschämte Frechheit hinan beachte diese für Falstaffs Denkart höchst bezeichnende Umwertung!^; wenn jemand Bücklinge macht und gar nichts sagt, dann ist er tugendhaft. Nein, gnädiger Herr, bei allem untertänigen Respekt vor euch, ich bin nicht euer Knecht. Ich sage euch, ich verlange Befreiung von diesen Gerichtsdienern, denn ich bin mit eiligen Geschäften für den König beauftragt. Oberrichter: Ihr redet wie einer, der Macht hat, Übles zu tun; aber ent- spreche euerm Rufe durch die Tat und befriedigt die arme Frau. Falstaff muß sich also bequemen, er zieht die Wirtin beiseite und bringt es fertig, sie nicht nur zur Zurückziehung ihrer Klage zu bewegen, sondern sie sogar von neuem wieder anzupumpen — gewiß ein hervorragender Beweis seines Raffinements! Anstatt nun aber von der Bildfläche zu verschwinden, wozu er doch nach den Dingen, die ihm der Oberrichter gesagt hat, alle Ursache hatte, drängt er sich von neuem an ihn heran. Oberrichter Ich habe bessre Neuigkeit gehört. (zu Gower): Falstaff: Wie lauten die Neuigkeiten, bester, gnädger Herr. Oberrichter Wo lag der König letzte Nacht? (ignoriert Falstaff): Gower: Zu Basingstoke. Oberrichter: Kommt seine ganze Macht zurück? Nein, fünfzehnhundert Mann, fünfhundert Pferde Sind ausgerückt zum Prinz von Lancaster Northumberland entgegen und dem Erzbischof. Gower: (macht einen zweiten Versuch): Kommt der König von Wales zurück, mein Falstaff edler Herr? Oberrichter (ignoriert ihn wiederum): Ich will euch unverzüglich Briefe geben, Kommt, seid so gut und geht mit mir, Herr Gower. Falstaff (zum drittenmale!): Gnädiger Herr. (nichts weniger als höflich): Was gibts? Oberrichter Herr Gower, darf ich euch auf (ignoriert nun seinerseits den Oberrichter): Falstaff den Mittag zum Essen bitten? Ich muß meinem gnädigen Herrn hier aufwarten, ich danke euch, lieber Gower: Sir John. Sir John, ihr zaudert Oberrichter (sucht Falstaff anzudeuten, daß er überflüssig ist): hier zu lange, da ihr in den Grafschaften, wo ihr durchkomme, Soldaten ausheben sollt. (trotz der Ablehnung!): Wollt ihr mit mir zu Abend essen, Herr Gower? Falstaff Welcher alberne Lehrmeister hat euch diese (verliert die Geduld!): Oberrichter Sitten gelehrt? Falstaff: Herr Gower, wenn sie mir nicht gut stehn, so war der ein Narr, (Zum Oberrichter:) der sie mich gelehrt hat. Dies ist der wahre Fechteranstand, gnä¬ diger Herr: Hieb auf Hieb, und somit friedlich auseinander. Er steckt also die Beleidigung, die in den verächtlichen Worten des Ober¬ richters liegt, ruhig ein, versucht sogar Gower gegenüber, sie ins Lächerliche zu ziehn, und will trotzdem noch mit seinen Worten an den Oberrichter den Anschein erwecken, als hätte er sich als Mann von Ehre benommen. Der einzig mögliche Schluß hierauf sind die Worte des Oberrichters: „Nun, der Herr er¬ leuchte dich, du bist ein großer Narr." Offenbar hat Falstaff gar kein Gefühl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/414>, abgerufen am 28.11.2024.