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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Stellung Schwedens und Norwegens im europäischen Konzert

neutral zu bleiben, wenn sie sich bekämpfen. Es ist sich wohl bewußt, daß
die Beschränktheit seiner Hilfsquellen es darauf verweist, nur solche militärische
Maßnahmen zu treffen, deren Ziel die Verteidigung gegen feindlichen Angriff
ist. Aber diese Maßregeln nehmen seine ernste und beständige Aufmerksamkeit
in Anspruch, und wer nicht erkennt, daß Norwegen vor allem ein sehr freiheit-
licbendes Land und für seine Freiheit bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen
entschlossen ist, der versteht den Charakter dieses Bergvolks nicht. In der Tages¬
presse wurde kürzlich auf die Absichten Rußlands auf den Norden Norwegens
und die möglichen Gefahren hingewiesen, die dadurch für England entstehn
könnten. Dieser Hinweis fand ein Echo in manchen englischen Blättern, und
diese lenkten die Aufmerksamkeit auf die Behauptung, daß das Endziel der
Russifizierung Finnlands die leichte Unterwerfung der nördlichen Provinzen
der beiden skandinavischen Königreiche sei. Die damit eröffnete Perspektive, daß
Nußland an den offnen Atlantischen Ozean gelangen könne, die Erweiterung
seiner Machtstellung zur See und die Gefährdung der Stellung Englands er¬
regten hier in manchen Kreisen die Befürchtung, daß in diesen nordischen Regionen
das Geschick der Welt, d. h. der Kampf zwischen Rußland und England seine
Entscheidung finden würde. Allerdings würde Rußland mit der Gewinnung
der zum Teil vortrefflichen Häfen Finnmarkens und Tromsös seine Stellung
am nordatlantischen Ozean bedeutend erweitern und durch den geplanten Bau
der Bahn von Petersburg zur Murmankuste unes Alexandrowsk befestigen. Aber
diese Gebiete Norwegens kann man wegen ihrer gebirgigen Beschaffenheit und
durch die nunmehr organisierte Landesverteidigung und andre Umstände so
schützen, daß auch ein überlegner Angreifer dort nur sehr schwer vordringen
könnte. Ähnliches aber gilt für den Angriff auf die Nordprovinzen Schwedens,
und der Besitz Norrlcmds würde für Nußland nur den Wert haben, eine
direkte Bahnverbindung von Uleaborg zum Ofoten, dem östlichen Arm des West-
Fjords, zu gewinnen.

Die Interessen Schwedens und Norwegens kreuzen sich jedoch heute nicht
mit denen Rußlands oder andrer Nachbarmächtc. Auch ist die Zeit der Ex¬
pansionspolitik Schwedens auf dein Kontinent, wie im siebzehnten und im acht¬
zehnten Jahrhundert unter Gustav Adolf und Karl dem Zwölften, für Skan¬
dinavien längst vorüber, und der letzte Nest eines schwedischen Besitzanrechts
auf dem Kontinent, das der Wiedereinlösung des 1803 verpfändeten Amts
Wismar, wird am 26. Juni dieses Jahres verfallen. Einen Angriffskrieg werden
darum diese Länder kaum führen; sie sehen sich heute infolge ihrer gesamten
politischen, militärischen und wirtschaftlichen Lage und ihrer geringen Bevölkerung
ton nur Millionen Bewohnern bei der Verwicklung in einen Krieg mit
einer der Nachbarmächtc, Dänemark ausgenommen, vielmehr ausschließlich auf
die Defensive verwiesen. Nun ist Stockholm mit 300000 Einwohnern nach
der See zu durch die starken Befestigungen der Insel Sands, die von Wax-
holm, Oskar-Frederiksborg, Fort Dalarö und die Korjupet-Batterie, sowie durch
die Schären- und Torpedobootflottille und durch leicht herzustellende Torpedo-
sperrcn geschützt, aber auf der Landseite ist es unbefestigt geblieben, offenbar
deshalb, weil es dort von bedeutendem Seen, schwer zugänglichen Gewässern


Die Stellung Schwedens und Norwegens im europäischen Konzert

neutral zu bleiben, wenn sie sich bekämpfen. Es ist sich wohl bewußt, daß
die Beschränktheit seiner Hilfsquellen es darauf verweist, nur solche militärische
Maßnahmen zu treffen, deren Ziel die Verteidigung gegen feindlichen Angriff
ist. Aber diese Maßregeln nehmen seine ernste und beständige Aufmerksamkeit
in Anspruch, und wer nicht erkennt, daß Norwegen vor allem ein sehr freiheit-
licbendes Land und für seine Freiheit bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen
entschlossen ist, der versteht den Charakter dieses Bergvolks nicht. In der Tages¬
presse wurde kürzlich auf die Absichten Rußlands auf den Norden Norwegens
und die möglichen Gefahren hingewiesen, die dadurch für England entstehn
könnten. Dieser Hinweis fand ein Echo in manchen englischen Blättern, und
diese lenkten die Aufmerksamkeit auf die Behauptung, daß das Endziel der
Russifizierung Finnlands die leichte Unterwerfung der nördlichen Provinzen
der beiden skandinavischen Königreiche sei. Die damit eröffnete Perspektive, daß
Nußland an den offnen Atlantischen Ozean gelangen könne, die Erweiterung
seiner Machtstellung zur See und die Gefährdung der Stellung Englands er¬
regten hier in manchen Kreisen die Befürchtung, daß in diesen nordischen Regionen
das Geschick der Welt, d. h. der Kampf zwischen Rußland und England seine
Entscheidung finden würde. Allerdings würde Rußland mit der Gewinnung
der zum Teil vortrefflichen Häfen Finnmarkens und Tromsös seine Stellung
am nordatlantischen Ozean bedeutend erweitern und durch den geplanten Bau
der Bahn von Petersburg zur Murmankuste unes Alexandrowsk befestigen. Aber
diese Gebiete Norwegens kann man wegen ihrer gebirgigen Beschaffenheit und
durch die nunmehr organisierte Landesverteidigung und andre Umstände so
schützen, daß auch ein überlegner Angreifer dort nur sehr schwer vordringen
könnte. Ähnliches aber gilt für den Angriff auf die Nordprovinzen Schwedens,
und der Besitz Norrlcmds würde für Nußland nur den Wert haben, eine
direkte Bahnverbindung von Uleaborg zum Ofoten, dem östlichen Arm des West-
Fjords, zu gewinnen.

Die Interessen Schwedens und Norwegens kreuzen sich jedoch heute nicht
mit denen Rußlands oder andrer Nachbarmächtc. Auch ist die Zeit der Ex¬
pansionspolitik Schwedens auf dein Kontinent, wie im siebzehnten und im acht¬
zehnten Jahrhundert unter Gustav Adolf und Karl dem Zwölften, für Skan¬
dinavien längst vorüber, und der letzte Nest eines schwedischen Besitzanrechts
auf dem Kontinent, das der Wiedereinlösung des 1803 verpfändeten Amts
Wismar, wird am 26. Juni dieses Jahres verfallen. Einen Angriffskrieg werden
darum diese Länder kaum führen; sie sehen sich heute infolge ihrer gesamten
politischen, militärischen und wirtschaftlichen Lage und ihrer geringen Bevölkerung
ton nur Millionen Bewohnern bei der Verwicklung in einen Krieg mit
einer der Nachbarmächtc, Dänemark ausgenommen, vielmehr ausschließlich auf
die Defensive verwiesen. Nun ist Stockholm mit 300000 Einwohnern nach
der See zu durch die starken Befestigungen der Insel Sands, die von Wax-
holm, Oskar-Frederiksborg, Fort Dalarö und die Korjupet-Batterie, sowie durch
die Schären- und Torpedobootflottille und durch leicht herzustellende Torpedo-
sperrcn geschützt, aber auf der Landseite ist es unbefestigt geblieben, offenbar
deshalb, weil es dort von bedeutendem Seen, schwer zugänglichen Gewässern


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[0404] Die Stellung Schwedens und Norwegens im europäischen Konzert neutral zu bleiben, wenn sie sich bekämpfen. Es ist sich wohl bewußt, daß die Beschränktheit seiner Hilfsquellen es darauf verweist, nur solche militärische Maßnahmen zu treffen, deren Ziel die Verteidigung gegen feindlichen Angriff ist. Aber diese Maßregeln nehmen seine ernste und beständige Aufmerksamkeit in Anspruch, und wer nicht erkennt, daß Norwegen vor allem ein sehr freiheit- licbendes Land und für seine Freiheit bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen entschlossen ist, der versteht den Charakter dieses Bergvolks nicht. In der Tages¬ presse wurde kürzlich auf die Absichten Rußlands auf den Norden Norwegens und die möglichen Gefahren hingewiesen, die dadurch für England entstehn könnten. Dieser Hinweis fand ein Echo in manchen englischen Blättern, und diese lenkten die Aufmerksamkeit auf die Behauptung, daß das Endziel der Russifizierung Finnlands die leichte Unterwerfung der nördlichen Provinzen der beiden skandinavischen Königreiche sei. Die damit eröffnete Perspektive, daß Nußland an den offnen Atlantischen Ozean gelangen könne, die Erweiterung seiner Machtstellung zur See und die Gefährdung der Stellung Englands er¬ regten hier in manchen Kreisen die Befürchtung, daß in diesen nordischen Regionen das Geschick der Welt, d. h. der Kampf zwischen Rußland und England seine Entscheidung finden würde. Allerdings würde Rußland mit der Gewinnung der zum Teil vortrefflichen Häfen Finnmarkens und Tromsös seine Stellung am nordatlantischen Ozean bedeutend erweitern und durch den geplanten Bau der Bahn von Petersburg zur Murmankuste unes Alexandrowsk befestigen. Aber diese Gebiete Norwegens kann man wegen ihrer gebirgigen Beschaffenheit und durch die nunmehr organisierte Landesverteidigung und andre Umstände so schützen, daß auch ein überlegner Angreifer dort nur sehr schwer vordringen könnte. Ähnliches aber gilt für den Angriff auf die Nordprovinzen Schwedens, und der Besitz Norrlcmds würde für Nußland nur den Wert haben, eine direkte Bahnverbindung von Uleaborg zum Ofoten, dem östlichen Arm des West- Fjords, zu gewinnen. Die Interessen Schwedens und Norwegens kreuzen sich jedoch heute nicht mit denen Rußlands oder andrer Nachbarmächtc. Auch ist die Zeit der Ex¬ pansionspolitik Schwedens auf dein Kontinent, wie im siebzehnten und im acht¬ zehnten Jahrhundert unter Gustav Adolf und Karl dem Zwölften, für Skan¬ dinavien längst vorüber, und der letzte Nest eines schwedischen Besitzanrechts auf dem Kontinent, das der Wiedereinlösung des 1803 verpfändeten Amts Wismar, wird am 26. Juni dieses Jahres verfallen. Einen Angriffskrieg werden darum diese Länder kaum führen; sie sehen sich heute infolge ihrer gesamten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Lage und ihrer geringen Bevölkerung ton nur Millionen Bewohnern bei der Verwicklung in einen Krieg mit einer der Nachbarmächtc, Dänemark ausgenommen, vielmehr ausschließlich auf die Defensive verwiesen. Nun ist Stockholm mit 300000 Einwohnern nach der See zu durch die starken Befestigungen der Insel Sands, die von Wax- holm, Oskar-Frederiksborg, Fort Dalarö und die Korjupet-Batterie, sowie durch die Schären- und Torpedobootflottille und durch leicht herzustellende Torpedo- sperrcn geschützt, aber auf der Landseite ist es unbefestigt geblieben, offenbar deshalb, weil es dort von bedeutendem Seen, schwer zugänglichen Gewässern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/404>, abgerufen am 24.11.2024.