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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Irrtümer der Demokratie

lauf der französischen Revolution zeigt, mit welcher rasenden Schnelligkeit die
Demokratie, die die Volksherrschaft, den politischen Kollektivismus predigt, in
dein Augenblicke, wo sie den Boden der Theorie verläßt, sofort wieder in den
Individualismus zurückfällt, nur daß er bei ihr ausnahmslos nicht in der
Form der Führung des Volkes, sondern in der der Thrmmis in des Wortes
schlimmster Bedeutung auftritt. "Das Volk ist souverän," hatte Sieyes aus¬
rufen. Wer war das Volk? Die Gesamtheit der Bevölkerung? Nein! Die
.Aktivbürgcr," die Wahlbürger. Man band die Ausübung der "Volks¬
so uveräuitüt" also von vornherein nu gewisse Voraussetzungen, und damit er¬
kannte die Versammlung, die sich für die Menschenrechte als der Grundlage
politischer Gleichheit begeisterte, schon an, daß es, um souverän zu sein, nicht
genüge, mit den "unveräußerlichen Menschenrechten" geboren zu sein. Das
war das erste Loch in dein "System des politischen Kollektivismus und der
Demokratie." An die Stelle des Volkes waren die "Aktivbürger" getreten.
Aber auch diesen beschnitt man die Souveränität, indem man die repräseutative
Verfassung einführte, die einerseits die Souveränität der Aktivbürgcrschaft auf
ein zweifelhaftes Wahlrecht beschränkte, damit aber zugleich ihre Minderheit
rechtlos machte. Allerdings gewann man dadurch eine "souveräne Volks¬
vertretung, " aber als Gesamtheit litt sie natürlich an denselben Unvollkommen-
heiten wie das souveräne Volk; als Vielheit konnte sie keinen Willen, keine
Souveränität haben; die Mehrheit unterdrückte die Minderheit, einzelne Fak¬
tionen zwangen die Mehrheit uuter ihren Willen, und so endete der holde
Traum von der Souveränität des Volkes in der Despotie Dantons, Robes-
Pierrcs und Collots und in der Gemeinheit der Tyrannen des Direktoriums,
bis endlich der Diktator Frankreich von der blutigen Lüge der Demokratie
erlöste.

Die französischen Revolutionäre hatten die Aufgabe, die ihnen der zu¬
sammenbrechende Feudalstaat gestellt hatte, falsch angefaßt; sie hatten zwar
erkannt, daß es sich darum handle, den Mißbrauch der Gewalt durch einen
Einzelnen zu verhindern, jedoch sie irrten, indem sie den Sitz des Übels im
Königtum, in der monarchischen Stnatsform suchten, sie irrten, indem sie zur
Beseitigung dieses Mißbrauchs die Gewalt allen in die Hand legen wollten,
weil Rousseau den Franzosen ein Recht und damit auch eine Pflicht, sich selbst
zu regieren, gelehrt hatte. Aus der bejubelten "Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit" folgte ja allerdings sonnenklar, daß die Demokratie die voll¬
kommenste politische Organisation sei, weil sie den einheitlichen Willen des
Volkes auf Parlament und Regierung übertrage. Nur eins hatte man ver¬
gessen, daß die ganze Lehre Rousseaus, und also auch die ganze demokratische
Lehre, von der Annahme eines einheitlichen Volkswillens ausging, den es
nie gegeben hat und nie geben wird, da er nur denkbar wäre bei Völkger
individueller Gleichheit der Menschen und der Verhältnisse, in denen sie leben.
Auch heute ist die Annahme noch weit verbreitet, daß man durch die Auf¬
klärung unter dem Volke das demokratische Ideal verwirklichen könne. In der
Tat wird aber dadurch gerade das Gegenteil herbeigeführt. Aller Kultur¬
fortschritt besteht in der fortgesetzten Differenzierung der einzelnen Menschen, be-


Die Irrtümer der Demokratie

lauf der französischen Revolution zeigt, mit welcher rasenden Schnelligkeit die
Demokratie, die die Volksherrschaft, den politischen Kollektivismus predigt, in
dein Augenblicke, wo sie den Boden der Theorie verläßt, sofort wieder in den
Individualismus zurückfällt, nur daß er bei ihr ausnahmslos nicht in der
Form der Führung des Volkes, sondern in der der Thrmmis in des Wortes
schlimmster Bedeutung auftritt. „Das Volk ist souverän," hatte Sieyes aus¬
rufen. Wer war das Volk? Die Gesamtheit der Bevölkerung? Nein! Die
.Aktivbürgcr," die Wahlbürger. Man band die Ausübung der „Volks¬
so uveräuitüt" also von vornherein nu gewisse Voraussetzungen, und damit er¬
kannte die Versammlung, die sich für die Menschenrechte als der Grundlage
politischer Gleichheit begeisterte, schon an, daß es, um souverän zu sein, nicht
genüge, mit den „unveräußerlichen Menschenrechten" geboren zu sein. Das
war das erste Loch in dein „System des politischen Kollektivismus und der
Demokratie." An die Stelle des Volkes waren die „Aktivbürger" getreten.
Aber auch diesen beschnitt man die Souveränität, indem man die repräseutative
Verfassung einführte, die einerseits die Souveränität der Aktivbürgcrschaft auf
ein zweifelhaftes Wahlrecht beschränkte, damit aber zugleich ihre Minderheit
rechtlos machte. Allerdings gewann man dadurch eine „souveräne Volks¬
vertretung, " aber als Gesamtheit litt sie natürlich an denselben Unvollkommen-
heiten wie das souveräne Volk; als Vielheit konnte sie keinen Willen, keine
Souveränität haben; die Mehrheit unterdrückte die Minderheit, einzelne Fak¬
tionen zwangen die Mehrheit uuter ihren Willen, und so endete der holde
Traum von der Souveränität des Volkes in der Despotie Dantons, Robes-
Pierrcs und Collots und in der Gemeinheit der Tyrannen des Direktoriums,
bis endlich der Diktator Frankreich von der blutigen Lüge der Demokratie
erlöste.

Die französischen Revolutionäre hatten die Aufgabe, die ihnen der zu¬
sammenbrechende Feudalstaat gestellt hatte, falsch angefaßt; sie hatten zwar
erkannt, daß es sich darum handle, den Mißbrauch der Gewalt durch einen
Einzelnen zu verhindern, jedoch sie irrten, indem sie den Sitz des Übels im
Königtum, in der monarchischen Stnatsform suchten, sie irrten, indem sie zur
Beseitigung dieses Mißbrauchs die Gewalt allen in die Hand legen wollten,
weil Rousseau den Franzosen ein Recht und damit auch eine Pflicht, sich selbst
zu regieren, gelehrt hatte. Aus der bejubelten „Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit" folgte ja allerdings sonnenklar, daß die Demokratie die voll¬
kommenste politische Organisation sei, weil sie den einheitlichen Willen des
Volkes auf Parlament und Regierung übertrage. Nur eins hatte man ver¬
gessen, daß die ganze Lehre Rousseaus, und also auch die ganze demokratische
Lehre, von der Annahme eines einheitlichen Volkswillens ausging, den es
nie gegeben hat und nie geben wird, da er nur denkbar wäre bei Völkger
individueller Gleichheit der Menschen und der Verhältnisse, in denen sie leben.
Auch heute ist die Annahme noch weit verbreitet, daß man durch die Auf¬
klärung unter dem Volke das demokratische Ideal verwirklichen könne. In der
Tat wird aber dadurch gerade das Gegenteil herbeigeführt. Aller Kultur¬
fortschritt besteht in der fortgesetzten Differenzierung der einzelnen Menschen, be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/385>, abgerufen am 28.07.2024.