Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

der Reichspolitik liegen, wird es meist zweifelhaft sein, ob der Monarch als
Kaiser oder als König von Preußen in Betracht kommt. Der Reichskanzler würde
in sehr vielen Fällen erklären müssen: Das ist eine Handlung des Königs von
Preußen, die deu Reichstag nichts angeht, und die ich mit dem preußischen Land¬
tage abzumachen habe. Dies hätte sich auch auf das Swinemünder Telegramm an¬
wenden lassen, zumal da seiner Unterschrift der übliche Beisatz I. ki, gefehlt hat.
Der König von Preußen hat gewiß das Recht, seiue Meinung über irgend einen
öffentlichen Vorgang in Deutschland, auch in Bayern, seinem Freunde, dem Regenten,
telegraphisch nuszuspreche". Gesetzt den Fall, der Regent oder Prinz Ludwig, der
Kanalfreund, hätten nach Ablehnung der Kanalvvrlage im preußischen Abgeordneten¬
hause dem Könige von Preußen ihr Bedauern und die Mißbilligung dieses Be¬
schlusses ausgesprochen, und konservative preußische Abgeordnete hätten sich darüber
im Reichstage beschwert -- wir glauben bestimmt, Herr Scheibler würde der erste
gewesen sein, mit Pathos zu erklären, das sei eine bayrische Angelegenheit, die den
Reichstag nichts angehe, mit dem weitern Vorwurf, daß dieser darauf ausgehe, das
Haus Wittelsbach zu mediatisiereu, und daß er Bayerns Selbständigkeit bedrohe.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß nicht der Kaiser, sondern nur der König
von Preußen dem Regenten die 100000 Mark anbieten konnte. Man hätte also
Herrn Sabatier mit Fug und Recht erwidern können, daß das Swinemünder Tele¬
gramm des Königs von Preußen erstlich nicht des Kaisers "Privatäußerung" sei,
zweitens den Reichstag nichts angehe. In diesem Falle wäre die Ballestremsche
Methode der "Privatäußeruug" sehr viel mehr am Platze gewesen, der Präsident
würde damit einen sehr nützlichen Präzedenzfall geschaffen haben! Aber er besann
sich vielleicht auf das Wallensteiusche Wort: "Doch das vergebe" mir die Wiener
nicht, daß ich um ein Spektakel sie betrog." Die Wiener sind in diesem Falle das
bayrische Zentrum.

Dem Kaiser das Recht der Initiative zu verkürzen, ist der Reichskanzler, auch
wenn er wollte, verfassungsrechtlich gnr nicht in der Lage. Er würde damit den
verfassungsmäßigen Rechten des Kaisers -- vom Könige von Preußen ganz ab¬
gesehen -- zu nahe treten. Die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, das Recht
der Beamtenernennung, die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze, die
Kommcmdogewnlt -- sie alle setzen eine Initiative des Kaisers voraus, ohne die er
diesen Pflichten gar nicht nachkommen könnte. Wo es mit dieser Initiative etwa
des Guten zuviel würde, müßte der Reichskanzler zunächst versuchen, modifizierend
einzuwirken oder, falls dies nicht gelänge, sich bemühn, nachteilige Folgen abzuwenden.
Er würde damit richtiger und nützlicher handeln, als wenn er sein Demissionsgesuch
bei jedem ihm unbequemen Falle einreichte, denn er würde sehr bald einen Nach¬
folger erhalten, der sich weniger Mühe gäbe, nachteilige Folgen zu verhüten, das
vielleicht auch nicht einmal verstünde. Die Verfasstmg spricht ja vom Reichskanzler
allerdings auffallend wenig. Aber da sie ihm in Artikel 17 die Gegenzeichnung
und damit die Verantwortlichkeit für die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers
zuweist, sonst nur noch den Vorsitz im Bundesrat mit der Snbstitutiousbcfugnis,
so ergibt sich daraus, daß er der verantwortliche Träger der gesamten dem Reiche
und der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung zugewiesenen Geschäfte ist. Bismarck
hat sich über die verfassungsmäßige Stellung und Bedeutung des Reichskanzlers
wiederholt öffentlich ausgesprochen. Er sah die Bedeutung des Kanzlers nicht zum
wenigsten darin, daß dieser als preußischer Ministerpräsident zugleich der Träger
der Stimme Preußens ist. Darauf beruht die Untrennbarkeit der beiden Ämter.
Die zwei Versuche, die 1873 und 1892 unternommen worden sind, neben den
Reichskanzler einen besondern Ministerpräsidenten zu stellen, haben sich als unhaltbar
erwiesen. Aber nach dieser Doppelstellung des Reichskanzlers und Ministerpräsi¬
denten ist auch die Frage seiner Verantwortlichkeit zu bemessen. Man könnte erleben,
daß der preußische Landtag, dem er ja gleichfalls verantwortlich ist, ihn in einem
Falle lobt, wo der Reichstag ihn tadelt und anklagt, oder umgekehrt: der Reichstag
lobt und der Landtag klagt. Die preußische Verfassung enthält als Niederschlag
der vormcirzlichen Zeit sogar noch die Bestimmung, daß die Minister "wegen Ver-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

der Reichspolitik liegen, wird es meist zweifelhaft sein, ob der Monarch als
Kaiser oder als König von Preußen in Betracht kommt. Der Reichskanzler würde
in sehr vielen Fällen erklären müssen: Das ist eine Handlung des Königs von
Preußen, die deu Reichstag nichts angeht, und die ich mit dem preußischen Land¬
tage abzumachen habe. Dies hätte sich auch auf das Swinemünder Telegramm an¬
wenden lassen, zumal da seiner Unterschrift der übliche Beisatz I. ki, gefehlt hat.
Der König von Preußen hat gewiß das Recht, seiue Meinung über irgend einen
öffentlichen Vorgang in Deutschland, auch in Bayern, seinem Freunde, dem Regenten,
telegraphisch nuszuspreche». Gesetzt den Fall, der Regent oder Prinz Ludwig, der
Kanalfreund, hätten nach Ablehnung der Kanalvvrlage im preußischen Abgeordneten¬
hause dem Könige von Preußen ihr Bedauern und die Mißbilligung dieses Be¬
schlusses ausgesprochen, und konservative preußische Abgeordnete hätten sich darüber
im Reichstage beschwert — wir glauben bestimmt, Herr Scheibler würde der erste
gewesen sein, mit Pathos zu erklären, das sei eine bayrische Angelegenheit, die den
Reichstag nichts angehe, mit dem weitern Vorwurf, daß dieser darauf ausgehe, das
Haus Wittelsbach zu mediatisiereu, und daß er Bayerns Selbständigkeit bedrohe.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß nicht der Kaiser, sondern nur der König
von Preußen dem Regenten die 100000 Mark anbieten konnte. Man hätte also
Herrn Sabatier mit Fug und Recht erwidern können, daß das Swinemünder Tele¬
gramm des Königs von Preußen erstlich nicht des Kaisers „Privatäußerung" sei,
zweitens den Reichstag nichts angehe. In diesem Falle wäre die Ballestremsche
Methode der „Privatäußeruug" sehr viel mehr am Platze gewesen, der Präsident
würde damit einen sehr nützlichen Präzedenzfall geschaffen haben! Aber er besann
sich vielleicht auf das Wallensteiusche Wort: „Doch das vergebe» mir die Wiener
nicht, daß ich um ein Spektakel sie betrog." Die Wiener sind in diesem Falle das
bayrische Zentrum.

Dem Kaiser das Recht der Initiative zu verkürzen, ist der Reichskanzler, auch
wenn er wollte, verfassungsrechtlich gnr nicht in der Lage. Er würde damit den
verfassungsmäßigen Rechten des Kaisers — vom Könige von Preußen ganz ab¬
gesehen — zu nahe treten. Die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, das Recht
der Beamtenernennung, die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze, die
Kommcmdogewnlt — sie alle setzen eine Initiative des Kaisers voraus, ohne die er
diesen Pflichten gar nicht nachkommen könnte. Wo es mit dieser Initiative etwa
des Guten zuviel würde, müßte der Reichskanzler zunächst versuchen, modifizierend
einzuwirken oder, falls dies nicht gelänge, sich bemühn, nachteilige Folgen abzuwenden.
Er würde damit richtiger und nützlicher handeln, als wenn er sein Demissionsgesuch
bei jedem ihm unbequemen Falle einreichte, denn er würde sehr bald einen Nach¬
folger erhalten, der sich weniger Mühe gäbe, nachteilige Folgen zu verhüten, das
vielleicht auch nicht einmal verstünde. Die Verfasstmg spricht ja vom Reichskanzler
allerdings auffallend wenig. Aber da sie ihm in Artikel 17 die Gegenzeichnung
und damit die Verantwortlichkeit für die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers
zuweist, sonst nur noch den Vorsitz im Bundesrat mit der Snbstitutiousbcfugnis,
so ergibt sich daraus, daß er der verantwortliche Träger der gesamten dem Reiche
und der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung zugewiesenen Geschäfte ist. Bismarck
hat sich über die verfassungsmäßige Stellung und Bedeutung des Reichskanzlers
wiederholt öffentlich ausgesprochen. Er sah die Bedeutung des Kanzlers nicht zum
wenigsten darin, daß dieser als preußischer Ministerpräsident zugleich der Träger
der Stimme Preußens ist. Darauf beruht die Untrennbarkeit der beiden Ämter.
Die zwei Versuche, die 1873 und 1892 unternommen worden sind, neben den
Reichskanzler einen besondern Ministerpräsidenten zu stellen, haben sich als unhaltbar
erwiesen. Aber nach dieser Doppelstellung des Reichskanzlers und Ministerpräsi¬
denten ist auch die Frage seiner Verantwortlichkeit zu bemessen. Man könnte erleben,
daß der preußische Landtag, dem er ja gleichfalls verantwortlich ist, ihn in einem
Falle lobt, wo der Reichstag ihn tadelt und anklagt, oder umgekehrt: der Reichstag
lobt und der Landtag klagt. Die preußische Verfassung enthält als Niederschlag
der vormcirzlichen Zeit sogar noch die Bestimmung, daß die Minister „wegen Ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0378" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239934"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1932" prev="#ID_1931"> der Reichspolitik liegen, wird es meist zweifelhaft sein, ob der Monarch als<lb/>
Kaiser oder als König von Preußen in Betracht kommt. Der Reichskanzler würde<lb/>
in sehr vielen Fällen erklären müssen: Das ist eine Handlung des Königs von<lb/>
Preußen, die deu Reichstag nichts angeht, und die ich mit dem preußischen Land¬<lb/>
tage abzumachen habe. Dies hätte sich auch auf das Swinemünder Telegramm an¬<lb/>
wenden lassen, zumal da seiner Unterschrift der übliche Beisatz I. ki, gefehlt hat.<lb/>
Der König von Preußen hat gewiß das Recht, seiue Meinung über irgend einen<lb/>
öffentlichen Vorgang in Deutschland, auch in Bayern, seinem Freunde, dem Regenten,<lb/>
telegraphisch nuszuspreche». Gesetzt den Fall, der Regent oder Prinz Ludwig, der<lb/>
Kanalfreund, hätten nach Ablehnung der Kanalvvrlage im preußischen Abgeordneten¬<lb/>
hause dem Könige von Preußen ihr Bedauern und die Mißbilligung dieses Be¬<lb/>
schlusses ausgesprochen, und konservative preußische Abgeordnete hätten sich darüber<lb/>
im Reichstage beschwert &#x2014; wir glauben bestimmt, Herr Scheibler würde der erste<lb/>
gewesen sein, mit Pathos zu erklären, das sei eine bayrische Angelegenheit, die den<lb/>
Reichstag nichts angehe, mit dem weitern Vorwurf, daß dieser darauf ausgehe, das<lb/>
Haus Wittelsbach zu mediatisiereu, und daß er Bayerns Selbständigkeit bedrohe.<lb/>
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß nicht der Kaiser, sondern nur der König<lb/>
von Preußen dem Regenten die 100000 Mark anbieten konnte. Man hätte also<lb/>
Herrn Sabatier mit Fug und Recht erwidern können, daß das Swinemünder Tele¬<lb/>
gramm des Königs von Preußen erstlich nicht des Kaisers &#x201E;Privatäußerung" sei,<lb/>
zweitens den Reichstag nichts angehe. In diesem Falle wäre die Ballestremsche<lb/>
Methode der &#x201E;Privatäußeruug" sehr viel mehr am Platze gewesen, der Präsident<lb/>
würde damit einen sehr nützlichen Präzedenzfall geschaffen haben! Aber er besann<lb/>
sich vielleicht auf das Wallensteiusche Wort: &#x201E;Doch das vergebe» mir die Wiener<lb/>
nicht, daß ich um ein Spektakel sie betrog." Die Wiener sind in diesem Falle das<lb/>
bayrische Zentrum.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1933" next="#ID_1934"> Dem Kaiser das Recht der Initiative zu verkürzen, ist der Reichskanzler, auch<lb/>
wenn er wollte, verfassungsrechtlich gnr nicht in der Lage. Er würde damit den<lb/>
verfassungsmäßigen Rechten des Kaisers &#x2014; vom Könige von Preußen ganz ab¬<lb/>
gesehen &#x2014; zu nahe treten. Die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, das Recht<lb/>
der Beamtenernennung, die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze, die<lb/>
Kommcmdogewnlt &#x2014; sie alle setzen eine Initiative des Kaisers voraus, ohne die er<lb/>
diesen Pflichten gar nicht nachkommen könnte. Wo es mit dieser Initiative etwa<lb/>
des Guten zuviel würde, müßte der Reichskanzler zunächst versuchen, modifizierend<lb/>
einzuwirken oder, falls dies nicht gelänge, sich bemühn, nachteilige Folgen abzuwenden.<lb/>
Er würde damit richtiger und nützlicher handeln, als wenn er sein Demissionsgesuch<lb/>
bei jedem ihm unbequemen Falle einreichte, denn er würde sehr bald einen Nach¬<lb/>
folger erhalten, der sich weniger Mühe gäbe, nachteilige Folgen zu verhüten, das<lb/>
vielleicht auch nicht einmal verstünde. Die Verfasstmg spricht ja vom Reichskanzler<lb/>
allerdings auffallend wenig. Aber da sie ihm in Artikel 17 die Gegenzeichnung<lb/>
und damit die Verantwortlichkeit für die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers<lb/>
zuweist, sonst nur noch den Vorsitz im Bundesrat mit der Snbstitutiousbcfugnis,<lb/>
so ergibt sich daraus, daß er der verantwortliche Träger der gesamten dem Reiche<lb/>
und der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung zugewiesenen Geschäfte ist. Bismarck<lb/>
hat sich über die verfassungsmäßige Stellung und Bedeutung des Reichskanzlers<lb/>
wiederholt öffentlich ausgesprochen. Er sah die Bedeutung des Kanzlers nicht zum<lb/>
wenigsten darin, daß dieser als preußischer Ministerpräsident zugleich der Träger<lb/>
der Stimme Preußens ist. Darauf beruht die Untrennbarkeit der beiden Ämter.<lb/>
Die zwei Versuche, die 1873 und 1892 unternommen worden sind, neben den<lb/>
Reichskanzler einen besondern Ministerpräsidenten zu stellen, haben sich als unhaltbar<lb/>
erwiesen. Aber nach dieser Doppelstellung des Reichskanzlers und Ministerpräsi¬<lb/>
denten ist auch die Frage seiner Verantwortlichkeit zu bemessen. Man könnte erleben,<lb/>
daß der preußische Landtag, dem er ja gleichfalls verantwortlich ist, ihn in einem<lb/>
Falle lobt, wo der Reichstag ihn tadelt und anklagt, oder umgekehrt: der Reichstag<lb/>
lobt und der Landtag klagt. Die preußische Verfassung enthält als Niederschlag<lb/>
der vormcirzlichen Zeit sogar noch die Bestimmung, daß die Minister &#x201E;wegen Ver-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0378] Maßgebliches und Unmaßgebliches der Reichspolitik liegen, wird es meist zweifelhaft sein, ob der Monarch als Kaiser oder als König von Preußen in Betracht kommt. Der Reichskanzler würde in sehr vielen Fällen erklären müssen: Das ist eine Handlung des Königs von Preußen, die deu Reichstag nichts angeht, und die ich mit dem preußischen Land¬ tage abzumachen habe. Dies hätte sich auch auf das Swinemünder Telegramm an¬ wenden lassen, zumal da seiner Unterschrift der übliche Beisatz I. ki, gefehlt hat. Der König von Preußen hat gewiß das Recht, seiue Meinung über irgend einen öffentlichen Vorgang in Deutschland, auch in Bayern, seinem Freunde, dem Regenten, telegraphisch nuszuspreche». Gesetzt den Fall, der Regent oder Prinz Ludwig, der Kanalfreund, hätten nach Ablehnung der Kanalvvrlage im preußischen Abgeordneten¬ hause dem Könige von Preußen ihr Bedauern und die Mißbilligung dieses Be¬ schlusses ausgesprochen, und konservative preußische Abgeordnete hätten sich darüber im Reichstage beschwert — wir glauben bestimmt, Herr Scheibler würde der erste gewesen sein, mit Pathos zu erklären, das sei eine bayrische Angelegenheit, die den Reichstag nichts angehe, mit dem weitern Vorwurf, daß dieser darauf ausgehe, das Haus Wittelsbach zu mediatisiereu, und daß er Bayerns Selbständigkeit bedrohe. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß nicht der Kaiser, sondern nur der König von Preußen dem Regenten die 100000 Mark anbieten konnte. Man hätte also Herrn Sabatier mit Fug und Recht erwidern können, daß das Swinemünder Tele¬ gramm des Königs von Preußen erstlich nicht des Kaisers „Privatäußerung" sei, zweitens den Reichstag nichts angehe. In diesem Falle wäre die Ballestremsche Methode der „Privatäußeruug" sehr viel mehr am Platze gewesen, der Präsident würde damit einen sehr nützlichen Präzedenzfall geschaffen haben! Aber er besann sich vielleicht auf das Wallensteiusche Wort: „Doch das vergebe» mir die Wiener nicht, daß ich um ein Spektakel sie betrog." Die Wiener sind in diesem Falle das bayrische Zentrum. Dem Kaiser das Recht der Initiative zu verkürzen, ist der Reichskanzler, auch wenn er wollte, verfassungsrechtlich gnr nicht in der Lage. Er würde damit den verfassungsmäßigen Rechten des Kaisers — vom Könige von Preußen ganz ab¬ gesehen — zu nahe treten. Die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, das Recht der Beamtenernennung, die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze, die Kommcmdogewnlt — sie alle setzen eine Initiative des Kaisers voraus, ohne die er diesen Pflichten gar nicht nachkommen könnte. Wo es mit dieser Initiative etwa des Guten zuviel würde, müßte der Reichskanzler zunächst versuchen, modifizierend einzuwirken oder, falls dies nicht gelänge, sich bemühn, nachteilige Folgen abzuwenden. Er würde damit richtiger und nützlicher handeln, als wenn er sein Demissionsgesuch bei jedem ihm unbequemen Falle einreichte, denn er würde sehr bald einen Nach¬ folger erhalten, der sich weniger Mühe gäbe, nachteilige Folgen zu verhüten, das vielleicht auch nicht einmal verstünde. Die Verfasstmg spricht ja vom Reichskanzler allerdings auffallend wenig. Aber da sie ihm in Artikel 17 die Gegenzeichnung und damit die Verantwortlichkeit für die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers zuweist, sonst nur noch den Vorsitz im Bundesrat mit der Snbstitutiousbcfugnis, so ergibt sich daraus, daß er der verantwortliche Träger der gesamten dem Reiche und der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung zugewiesenen Geschäfte ist. Bismarck hat sich über die verfassungsmäßige Stellung und Bedeutung des Reichskanzlers wiederholt öffentlich ausgesprochen. Er sah die Bedeutung des Kanzlers nicht zum wenigsten darin, daß dieser als preußischer Ministerpräsident zugleich der Träger der Stimme Preußens ist. Darauf beruht die Untrennbarkeit der beiden Ämter. Die zwei Versuche, die 1873 und 1892 unternommen worden sind, neben den Reichskanzler einen besondern Ministerpräsidenten zu stellen, haben sich als unhaltbar erwiesen. Aber nach dieser Doppelstellung des Reichskanzlers und Ministerpräsi¬ denten ist auch die Frage seiner Verantwortlichkeit zu bemessen. Man könnte erleben, daß der preußische Landtag, dem er ja gleichfalls verantwortlich ist, ihn in einem Falle lobt, wo der Reichstag ihn tadelt und anklagt, oder umgekehrt: der Reichstag lobt und der Landtag klagt. Die preußische Verfassung enthält als Niederschlag der vormcirzlichen Zeit sogar noch die Bestimmung, daß die Minister „wegen Ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/378
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/378>, abgerufen am 01.09.2024.