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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgeblichcs

lands nationale Entwicklung ist in den Wiutertcigen von 1870 nicht zum Still¬
stand gekommen -- sie hat nach langem Harren die Schwelle einer neuen Zeit
überschritten und zieht sonnenwärts ihre leuchtende Bahn. Das Verkleinern und
Herabsehen der verfassungsmäßigen Kaisergestalt und Kaisergewalt hätte Herr Sabatier
Ausländern überlassen sollen. Eines Deutschen ist es nicht würdig, zumal in Bayern
nicht, dessen tapfre Söhne von sedem bis Paris und bis zur Loire "den Kaiser"
fast mehr im Herzen trugen und lauter anssp rächen als seine Preußen.

Bekannt ist, daß Kaiser Wilhelm der Erste anfänglich von der Jnhnltlosigkeit
des Kciisertitcls -- wohl zu Unrecht -- wenig erbaut war. Aber ebenso bekannt
und nenerdings authentisch belegt ist, daß der Kronprinz sowohl wie der Gro߬
herzog von Baden, nicht zum wenigsten Fürst Bismarck selbst, die Überzeugung ver¬
traten, die leere Form werde mit der Zeit sehr an Inhalt gewinnen. Dieser Ansicht
hat sich später auch der Kaiser angeschlossen, und der Inhalt, den er im hohen Lebens¬
alter seinem neuen Amte zu geben verstand, ist eins seiner hervorragendsten Verdienste
um Deutschland. Seine achtzehnjährige Regierung als Kaiser hat für das Vaterland
reiche Frucht getragen. Aus dem Schablonenhaften "Bnndesprnsidenten" mit dem
Namen "Deutscher Kaiser" ist seitdem ein Kaiser von Fleisch und Blut geworden,
dem die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, die Überwachung der Ausführung
der Reichsgesetze, die Ernennung der Neichsbeamten und die oberste Kommando¬
gewalt über Heer und Flotte, zusammen mit der mächtigen Entwicklung des Reichs,
eine Machtfülle verliehn haben, wie die alten deutschen Kaiser sie in den glän¬
zendsten Zeiten des alten Reichs nicht hatten, und die sich in ihrer ungeahnten
Ausdehnung im Winter 1870/71 freilich noch nicht übersehen ließ. Ein neuer Ab¬
schnitt der Weltgeschichte war eröffnet worden, der das Zeichen des aufsteigenden
deutschen Adlers trug.

Diesen Kaiser, den uns eine dreiunddreißigjöhrige Entwicklung gezeitigthat, wieder
auf den buudespräsidialen Träger des Namens zurückzuschrauben, wird hente weder
den bayrischen Zentrumskoryphäen, noch weniger den Sozialdemokraten gelingen.
Schon deshalb nicht, weil hinter diesem "Bundespräsideuten" die sehr reale Haus¬
macht des Königs von Preußen steht, und weil der erste und allein Verantwort¬
liche Beamte des Reichs der preußische Ministerpräsident ist. Der Artikel 11 der
Reichsverfassung, auf den sich die Abgeordneten Sabatier und Vollmar berufen
haben, sagt ja allerdings ziemlich unscheinbar: "Das Präsidium des Bundes steht
dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt." Aber
die Politiker, die da glauben, dem Kaisermnntel ungefähr die Bedeutung der Robe
eines Nechtsanwalts zuzuweisen, die nur zum Termin angelegt wird, übersehen
dabei, daß der Träger dieses Mantels eben der König von Preußen ist. Dieser
König von Preußen gibt dem Artikel 11 der Reichsverfassung und damit der
Kaiserlichen Institution die weltgeschichtliche Bedeutung. Nicht ein Titnlnr ist es, der
an der Spitze des Reichs steht, sondern der König von Preußen mit dem ganzen
Gewicht der preußischen Staatsmacht, und damit fällt die Fiktion, daß der Kaiser in
Deutschland nichts zu tun und zu lassen, vor allen Dingen nichts zu sagen oder
zu schreiben habe, als was der Reichskanzler durch Billigung und Gegenzeichnung
gutheißt. Diese Beschränkung auf eine rein automatische, gleichsam vom Reichs¬
kanzler zu veranlassende Tätigkeit steht in Widerspruch zu der Machtfülle, die die
Reichsverfassung und die Neichsentwicklnng dem Kaiser verliehen haben, sie steht aber
vor allem in Widerspruch zu der Herrschertätigkeit, die der König von Preußen
kraft der Verfassung seines Landes ausübt. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß
der König von Preußen für sein Land keine andre Politik vorschreiben oder be¬
folgen kaun als die, die er im Reiche für ersprießlich hält. Dasselbe gilt vom
Reichskanzler, der zugleich preußischer Ministerpräsident ist. In dem Swinemünder
Telegramm hat, ebenso wie in Breslau und in Essen, der König von Preußen
gesprochen. Denn da der Kaiser vom Reiche weder Vermögen noch laufende Ein¬
nahmen hat, so konnte nur der König von Preußen dem Regenten von Bayern
das Angebot von hunderttausend Mark machen, und in Essen wie in Breslau sprach
der König von Preußen zu seinen Untertanen. Das Wort Untertanen ist zwar


Maßgebliches und Unmaßgeblichcs

lands nationale Entwicklung ist in den Wiutertcigen von 1870 nicht zum Still¬
stand gekommen — sie hat nach langem Harren die Schwelle einer neuen Zeit
überschritten und zieht sonnenwärts ihre leuchtende Bahn. Das Verkleinern und
Herabsehen der verfassungsmäßigen Kaisergestalt und Kaisergewalt hätte Herr Sabatier
Ausländern überlassen sollen. Eines Deutschen ist es nicht würdig, zumal in Bayern
nicht, dessen tapfre Söhne von sedem bis Paris und bis zur Loire „den Kaiser"
fast mehr im Herzen trugen und lauter anssp rächen als seine Preußen.

Bekannt ist, daß Kaiser Wilhelm der Erste anfänglich von der Jnhnltlosigkeit
des Kciisertitcls — wohl zu Unrecht — wenig erbaut war. Aber ebenso bekannt
und nenerdings authentisch belegt ist, daß der Kronprinz sowohl wie der Gro߬
herzog von Baden, nicht zum wenigsten Fürst Bismarck selbst, die Überzeugung ver¬
traten, die leere Form werde mit der Zeit sehr an Inhalt gewinnen. Dieser Ansicht
hat sich später auch der Kaiser angeschlossen, und der Inhalt, den er im hohen Lebens¬
alter seinem neuen Amte zu geben verstand, ist eins seiner hervorragendsten Verdienste
um Deutschland. Seine achtzehnjährige Regierung als Kaiser hat für das Vaterland
reiche Frucht getragen. Aus dem Schablonenhaften „Bnndesprnsidenten" mit dem
Namen „Deutscher Kaiser" ist seitdem ein Kaiser von Fleisch und Blut geworden,
dem die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, die Überwachung der Ausführung
der Reichsgesetze, die Ernennung der Neichsbeamten und die oberste Kommando¬
gewalt über Heer und Flotte, zusammen mit der mächtigen Entwicklung des Reichs,
eine Machtfülle verliehn haben, wie die alten deutschen Kaiser sie in den glän¬
zendsten Zeiten des alten Reichs nicht hatten, und die sich in ihrer ungeahnten
Ausdehnung im Winter 1870/71 freilich noch nicht übersehen ließ. Ein neuer Ab¬
schnitt der Weltgeschichte war eröffnet worden, der das Zeichen des aufsteigenden
deutschen Adlers trug.

Diesen Kaiser, den uns eine dreiunddreißigjöhrige Entwicklung gezeitigthat, wieder
auf den buudespräsidialen Träger des Namens zurückzuschrauben, wird hente weder
den bayrischen Zentrumskoryphäen, noch weniger den Sozialdemokraten gelingen.
Schon deshalb nicht, weil hinter diesem „Bundespräsideuten" die sehr reale Haus¬
macht des Königs von Preußen steht, und weil der erste und allein Verantwort¬
liche Beamte des Reichs der preußische Ministerpräsident ist. Der Artikel 11 der
Reichsverfassung, auf den sich die Abgeordneten Sabatier und Vollmar berufen
haben, sagt ja allerdings ziemlich unscheinbar: „Das Präsidium des Bundes steht
dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt." Aber
die Politiker, die da glauben, dem Kaisermnntel ungefähr die Bedeutung der Robe
eines Nechtsanwalts zuzuweisen, die nur zum Termin angelegt wird, übersehen
dabei, daß der Träger dieses Mantels eben der König von Preußen ist. Dieser
König von Preußen gibt dem Artikel 11 der Reichsverfassung und damit der
Kaiserlichen Institution die weltgeschichtliche Bedeutung. Nicht ein Titnlnr ist es, der
an der Spitze des Reichs steht, sondern der König von Preußen mit dem ganzen
Gewicht der preußischen Staatsmacht, und damit fällt die Fiktion, daß der Kaiser in
Deutschland nichts zu tun und zu lassen, vor allen Dingen nichts zu sagen oder
zu schreiben habe, als was der Reichskanzler durch Billigung und Gegenzeichnung
gutheißt. Diese Beschränkung auf eine rein automatische, gleichsam vom Reichs¬
kanzler zu veranlassende Tätigkeit steht in Widerspruch zu der Machtfülle, die die
Reichsverfassung und die Neichsentwicklnng dem Kaiser verliehen haben, sie steht aber
vor allem in Widerspruch zu der Herrschertätigkeit, die der König von Preußen
kraft der Verfassung seines Landes ausübt. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß
der König von Preußen für sein Land keine andre Politik vorschreiben oder be¬
folgen kaun als die, die er im Reiche für ersprießlich hält. Dasselbe gilt vom
Reichskanzler, der zugleich preußischer Ministerpräsident ist. In dem Swinemünder
Telegramm hat, ebenso wie in Breslau und in Essen, der König von Preußen
gesprochen. Denn da der Kaiser vom Reiche weder Vermögen noch laufende Ein¬
nahmen hat, so konnte nur der König von Preußen dem Regenten von Bayern
das Angebot von hunderttausend Mark machen, und in Essen wie in Breslau sprach
der König von Preußen zu seinen Untertanen. Das Wort Untertanen ist zwar


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[0376] Maßgebliches und Unmaßgeblichcs lands nationale Entwicklung ist in den Wiutertcigen von 1870 nicht zum Still¬ stand gekommen — sie hat nach langem Harren die Schwelle einer neuen Zeit überschritten und zieht sonnenwärts ihre leuchtende Bahn. Das Verkleinern und Herabsehen der verfassungsmäßigen Kaisergestalt und Kaisergewalt hätte Herr Sabatier Ausländern überlassen sollen. Eines Deutschen ist es nicht würdig, zumal in Bayern nicht, dessen tapfre Söhne von sedem bis Paris und bis zur Loire „den Kaiser" fast mehr im Herzen trugen und lauter anssp rächen als seine Preußen. Bekannt ist, daß Kaiser Wilhelm der Erste anfänglich von der Jnhnltlosigkeit des Kciisertitcls — wohl zu Unrecht — wenig erbaut war. Aber ebenso bekannt und nenerdings authentisch belegt ist, daß der Kronprinz sowohl wie der Gro߬ herzog von Baden, nicht zum wenigsten Fürst Bismarck selbst, die Überzeugung ver¬ traten, die leere Form werde mit der Zeit sehr an Inhalt gewinnen. Dieser Ansicht hat sich später auch der Kaiser angeschlossen, und der Inhalt, den er im hohen Lebens¬ alter seinem neuen Amte zu geben verstand, ist eins seiner hervorragendsten Verdienste um Deutschland. Seine achtzehnjährige Regierung als Kaiser hat für das Vaterland reiche Frucht getragen. Aus dem Schablonenhaften „Bnndesprnsidenten" mit dem Namen „Deutscher Kaiser" ist seitdem ein Kaiser von Fleisch und Blut geworden, dem die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze, die Ernennung der Neichsbeamten und die oberste Kommando¬ gewalt über Heer und Flotte, zusammen mit der mächtigen Entwicklung des Reichs, eine Machtfülle verliehn haben, wie die alten deutschen Kaiser sie in den glän¬ zendsten Zeiten des alten Reichs nicht hatten, und die sich in ihrer ungeahnten Ausdehnung im Winter 1870/71 freilich noch nicht übersehen ließ. Ein neuer Ab¬ schnitt der Weltgeschichte war eröffnet worden, der das Zeichen des aufsteigenden deutschen Adlers trug. Diesen Kaiser, den uns eine dreiunddreißigjöhrige Entwicklung gezeitigthat, wieder auf den buudespräsidialen Träger des Namens zurückzuschrauben, wird hente weder den bayrischen Zentrumskoryphäen, noch weniger den Sozialdemokraten gelingen. Schon deshalb nicht, weil hinter diesem „Bundespräsideuten" die sehr reale Haus¬ macht des Königs von Preußen steht, und weil der erste und allein Verantwort¬ liche Beamte des Reichs der preußische Ministerpräsident ist. Der Artikel 11 der Reichsverfassung, auf den sich die Abgeordneten Sabatier und Vollmar berufen haben, sagt ja allerdings ziemlich unscheinbar: „Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt." Aber die Politiker, die da glauben, dem Kaisermnntel ungefähr die Bedeutung der Robe eines Nechtsanwalts zuzuweisen, die nur zum Termin angelegt wird, übersehen dabei, daß der Träger dieses Mantels eben der König von Preußen ist. Dieser König von Preußen gibt dem Artikel 11 der Reichsverfassung und damit der Kaiserlichen Institution die weltgeschichtliche Bedeutung. Nicht ein Titnlnr ist es, der an der Spitze des Reichs steht, sondern der König von Preußen mit dem ganzen Gewicht der preußischen Staatsmacht, und damit fällt die Fiktion, daß der Kaiser in Deutschland nichts zu tun und zu lassen, vor allen Dingen nichts zu sagen oder zu schreiben habe, als was der Reichskanzler durch Billigung und Gegenzeichnung gutheißt. Diese Beschränkung auf eine rein automatische, gleichsam vom Reichs¬ kanzler zu veranlassende Tätigkeit steht in Widerspruch zu der Machtfülle, die die Reichsverfassung und die Neichsentwicklnng dem Kaiser verliehen haben, sie steht aber vor allem in Widerspruch zu der Herrschertätigkeit, die der König von Preußen kraft der Verfassung seines Landes ausübt. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß der König von Preußen für sein Land keine andre Politik vorschreiben oder be¬ folgen kaun als die, die er im Reiche für ersprießlich hält. Dasselbe gilt vom Reichskanzler, der zugleich preußischer Ministerpräsident ist. In dem Swinemünder Telegramm hat, ebenso wie in Breslau und in Essen, der König von Preußen gesprochen. Denn da der Kaiser vom Reiche weder Vermögen noch laufende Ein¬ nahmen hat, so konnte nur der König von Preußen dem Regenten von Bayern das Angebot von hunderttausend Mark machen, und in Essen wie in Breslau sprach der König von Preußen zu seinen Untertanen. Das Wort Untertanen ist zwar

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/376>, abgerufen am 24.11.2024.