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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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mit unschuldigem Lächeln erwiderte: Ici, so höre ich. In der Unfähigkeit, sich zu
erinnern, lug freilich mich eine Kritik.

Ans der Bühne sind es wiederum die Tänzerinnen, die den Vogel abschießen.
Wenn sie mit dahinschwebenden Blumen verglichen werden, so würden sich die
Tänzer mit der untergeordneten Rolle von Straußhaltern zu begnügen haben, wenn
ihnen nicht ein gewaltsames Mittel sich auszuzeichnen übrig bliebe: der Sprung.
Ein sehr einsichtiger Generalintendant pflegte die Balletttäuzcr als seine schwarzen
Tiere, seine btztos noires zu bezeichnen. Je höher und je weiter sie springen konnten,
um so schrecklicher waren sie ihm. Semper, pflegte er zu sagen, hat glücklicherweise
für ein solides Dach gesorgt: das und die Soffiten setzen ihrer Federkraft doch
eine beruhigende Grenze. Sein Lieblingsgedanke war ein Ballett, worin zwanzig
schwarze Sklaven vorkommen sollten, jeder mit einem Deckelknsten versehen, der von
müßen leicht auf- und zuzuriegeln war. Jeder Schwarze sollte einen der Springer
-- zwanzig war der Etat des männlichen Ballettvcrsonals -- einfangen, in seinen
Kasten sperren und mit seiner Beute unter den Klängen eines Sieges- und Be-
freiungsmnrsches abziehn. Die erste Tänzerin sagte ihm, wenn er ihr diese Idee
ausmalte, einen müsse er ihr lassen, denn ohne dessen. Stütze sei sie wie eine Sonnen¬
blume ohne Stiel, und sterben, schön sterben könne sie nur in den Armen eines
Mannes, auf den wirklich Verlaß sei. Das sah denn "Exzellenz" auch ein, den
neunzehn Ungerechten wurde um des einen Gerechten willen verziehn, und das
Ballett mit den zwanzig Schwarzen kam abermals nicht zustande.

Die schöne Tänzerin hatte Recht: die Springer sind ein notwendiges Übel.
Lassen wir ihnen ihren Gehalt und ihre sonstigen Gebührnisse einschließlich des
klatschenden Beifalls, wo sie ihn ernten, und beschäftigen wir uns ausschließlich mit
der schönern Hälfte ihrer Zunft, deu Balletttänzerinnen. Vielleicht herrscht auf
wenig Gebieten der Kunst hierzulande eine so allgemeine Unwissenheit darüber,
worauf es ankommt, als auf dem des Balletts, und ein sachverständiges Urteil über
die Eigenschaften und die Leistungen einer Tänzerin ersten Ranges ist bei uns kein
häufiges Vorkommnis. Ganz anders ist es in Paris, wo die regelmäßigen Be¬
sucher, die Habitue's der Großen Oper, feinste Tanzkenner sind und für jede be¬
sondre Schönheit, jede ausgezeichnete Leistung Geschmack und Verständnis haben.
Sehen und versteh" hat mich allerdings schon vor Jahren eine ältere Dame ge¬
lehrt, die eine bekannte spanische Tänzerin ans ihren Reisen als "Mutter" be¬
gleitete, aber erst in Paris habe ich später aus dem Urteil gewiegter Kenner einen
begriff davon bekommen, wie schwer die Kunst des "großen Tanzes" ist, und wie
selten sich jemand findet, der allen Anforderungen genügt.

Die spanische Tänzerin, von der ich sprach, war, als ich sie zuerst sah, schon
"us deu allerersten Jugendjahren heraus. Sie hatte ein paar Jahre früher durch
ehre Schönheit und durch das Feuer ihres Tanzes europäischen Ruf erlaugt und
machte einem damals auch auf der Bühne mehr den Eindruck einer Dame als einer
Tänzerin. Graziöse Indolenz und vornehme Nonchalance waren an die Stelle des
frühern jugendlichen Feuers getreten; ein wohlhäbiger, mit der sprichwörtlichen
Leichtigkeit der Sylphiden nicht recht verträglicher Embonpoint war nicht weg¬
zuleugnen, und es war auch schon ub und zu von einem gänzlichen sich zur Ruhe
setzen die Rede. Die schöne Spanierin hatte nie tanzen gelernt: sie tanzte spanische
Nationaltänze zur Vollendung, aber sie hätte in keiner großen Ballettrolle auftreten
können, weil ihre Kräfte und ihre Mittel jeden Abend nur gerade für zwei bis
drei kurze Nationaltänze reichten, die sie nach ihrem Gutdünken znrechtgeschnitten
hatte, und die sie nach vorhergegangnem Einvernehmen mit dem Kapellmeister je nach
Lust und Laune variierte, abkürzte oder vervollständigte. Die Natur hatte für sie aller¬
dings, man möchte sagen, das Unmögliche getan: sie war wie für das spanische
Kostüm geschaffen; man wußte nicht, ob man mehr ihre Hemd und ihren Fuß, oder
ihren Hals und ihren Arm, oder ihr Auge und ihr blnnschwarz glänzendes Haar
bewundern sollte. Dabei eine Grazie, ein Lächeln, eine Haltung, wie man sie nie


mit unschuldigem Lächeln erwiderte: Ici, so höre ich. In der Unfähigkeit, sich zu
erinnern, lug freilich mich eine Kritik.

Ans der Bühne sind es wiederum die Tänzerinnen, die den Vogel abschießen.
Wenn sie mit dahinschwebenden Blumen verglichen werden, so würden sich die
Tänzer mit der untergeordneten Rolle von Straußhaltern zu begnügen haben, wenn
ihnen nicht ein gewaltsames Mittel sich auszuzeichnen übrig bliebe: der Sprung.
Ein sehr einsichtiger Generalintendant pflegte die Balletttäuzcr als seine schwarzen
Tiere, seine btztos noires zu bezeichnen. Je höher und je weiter sie springen konnten,
um so schrecklicher waren sie ihm. Semper, pflegte er zu sagen, hat glücklicherweise
für ein solides Dach gesorgt: das und die Soffiten setzen ihrer Federkraft doch
eine beruhigende Grenze. Sein Lieblingsgedanke war ein Ballett, worin zwanzig
schwarze Sklaven vorkommen sollten, jeder mit einem Deckelknsten versehen, der von
müßen leicht auf- und zuzuriegeln war. Jeder Schwarze sollte einen der Springer
— zwanzig war der Etat des männlichen Ballettvcrsonals — einfangen, in seinen
Kasten sperren und mit seiner Beute unter den Klängen eines Sieges- und Be-
freiungsmnrsches abziehn. Die erste Tänzerin sagte ihm, wenn er ihr diese Idee
ausmalte, einen müsse er ihr lassen, denn ohne dessen. Stütze sei sie wie eine Sonnen¬
blume ohne Stiel, und sterben, schön sterben könne sie nur in den Armen eines
Mannes, auf den wirklich Verlaß sei. Das sah denn „Exzellenz" auch ein, den
neunzehn Ungerechten wurde um des einen Gerechten willen verziehn, und das
Ballett mit den zwanzig Schwarzen kam abermals nicht zustande.

Die schöne Tänzerin hatte Recht: die Springer sind ein notwendiges Übel.
Lassen wir ihnen ihren Gehalt und ihre sonstigen Gebührnisse einschließlich des
klatschenden Beifalls, wo sie ihn ernten, und beschäftigen wir uns ausschließlich mit
der schönern Hälfte ihrer Zunft, deu Balletttänzerinnen. Vielleicht herrscht auf
wenig Gebieten der Kunst hierzulande eine so allgemeine Unwissenheit darüber,
worauf es ankommt, als auf dem des Balletts, und ein sachverständiges Urteil über
die Eigenschaften und die Leistungen einer Tänzerin ersten Ranges ist bei uns kein
häufiges Vorkommnis. Ganz anders ist es in Paris, wo die regelmäßigen Be¬
sucher, die Habitue's der Großen Oper, feinste Tanzkenner sind und für jede be¬
sondre Schönheit, jede ausgezeichnete Leistung Geschmack und Verständnis haben.
Sehen und versteh« hat mich allerdings schon vor Jahren eine ältere Dame ge¬
lehrt, die eine bekannte spanische Tänzerin ans ihren Reisen als „Mutter" be¬
gleitete, aber erst in Paris habe ich später aus dem Urteil gewiegter Kenner einen
begriff davon bekommen, wie schwer die Kunst des „großen Tanzes" ist, und wie
selten sich jemand findet, der allen Anforderungen genügt.

Die spanische Tänzerin, von der ich sprach, war, als ich sie zuerst sah, schon
"us deu allerersten Jugendjahren heraus. Sie hatte ein paar Jahre früher durch
ehre Schönheit und durch das Feuer ihres Tanzes europäischen Ruf erlaugt und
machte einem damals auch auf der Bühne mehr den Eindruck einer Dame als einer
Tänzerin. Graziöse Indolenz und vornehme Nonchalance waren an die Stelle des
frühern jugendlichen Feuers getreten; ein wohlhäbiger, mit der sprichwörtlichen
Leichtigkeit der Sylphiden nicht recht verträglicher Embonpoint war nicht weg¬
zuleugnen, und es war auch schon ub und zu von einem gänzlichen sich zur Ruhe
setzen die Rede. Die schöne Spanierin hatte nie tanzen gelernt: sie tanzte spanische
Nationaltänze zur Vollendung, aber sie hätte in keiner großen Ballettrolle auftreten
können, weil ihre Kräfte und ihre Mittel jeden Abend nur gerade für zwei bis
drei kurze Nationaltänze reichten, die sie nach ihrem Gutdünken znrechtgeschnitten
hatte, und die sie nach vorhergegangnem Einvernehmen mit dem Kapellmeister je nach
Lust und Laune variierte, abkürzte oder vervollständigte. Die Natur hatte für sie aller¬
dings, man möchte sagen, das Unmögliche getan: sie war wie für das spanische
Kostüm geschaffen; man wußte nicht, ob man mehr ihre Hemd und ihren Fuß, oder
ihren Hals und ihren Arm, oder ihr Auge und ihr blnnschwarz glänzendes Haar
bewundern sollte. Dabei eine Grazie, ein Lächeln, eine Haltung, wie man sie nie


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[0359] mit unschuldigem Lächeln erwiderte: Ici, so höre ich. In der Unfähigkeit, sich zu erinnern, lug freilich mich eine Kritik. Ans der Bühne sind es wiederum die Tänzerinnen, die den Vogel abschießen. Wenn sie mit dahinschwebenden Blumen verglichen werden, so würden sich die Tänzer mit der untergeordneten Rolle von Straußhaltern zu begnügen haben, wenn ihnen nicht ein gewaltsames Mittel sich auszuzeichnen übrig bliebe: der Sprung. Ein sehr einsichtiger Generalintendant pflegte die Balletttäuzcr als seine schwarzen Tiere, seine btztos noires zu bezeichnen. Je höher und je weiter sie springen konnten, um so schrecklicher waren sie ihm. Semper, pflegte er zu sagen, hat glücklicherweise für ein solides Dach gesorgt: das und die Soffiten setzen ihrer Federkraft doch eine beruhigende Grenze. Sein Lieblingsgedanke war ein Ballett, worin zwanzig schwarze Sklaven vorkommen sollten, jeder mit einem Deckelknsten versehen, der von müßen leicht auf- und zuzuriegeln war. Jeder Schwarze sollte einen der Springer — zwanzig war der Etat des männlichen Ballettvcrsonals — einfangen, in seinen Kasten sperren und mit seiner Beute unter den Klängen eines Sieges- und Be- freiungsmnrsches abziehn. Die erste Tänzerin sagte ihm, wenn er ihr diese Idee ausmalte, einen müsse er ihr lassen, denn ohne dessen. Stütze sei sie wie eine Sonnen¬ blume ohne Stiel, und sterben, schön sterben könne sie nur in den Armen eines Mannes, auf den wirklich Verlaß sei. Das sah denn „Exzellenz" auch ein, den neunzehn Ungerechten wurde um des einen Gerechten willen verziehn, und das Ballett mit den zwanzig Schwarzen kam abermals nicht zustande. Die schöne Tänzerin hatte Recht: die Springer sind ein notwendiges Übel. Lassen wir ihnen ihren Gehalt und ihre sonstigen Gebührnisse einschließlich des klatschenden Beifalls, wo sie ihn ernten, und beschäftigen wir uns ausschließlich mit der schönern Hälfte ihrer Zunft, deu Balletttänzerinnen. Vielleicht herrscht auf wenig Gebieten der Kunst hierzulande eine so allgemeine Unwissenheit darüber, worauf es ankommt, als auf dem des Balletts, und ein sachverständiges Urteil über die Eigenschaften und die Leistungen einer Tänzerin ersten Ranges ist bei uns kein häufiges Vorkommnis. Ganz anders ist es in Paris, wo die regelmäßigen Be¬ sucher, die Habitue's der Großen Oper, feinste Tanzkenner sind und für jede be¬ sondre Schönheit, jede ausgezeichnete Leistung Geschmack und Verständnis haben. Sehen und versteh« hat mich allerdings schon vor Jahren eine ältere Dame ge¬ lehrt, die eine bekannte spanische Tänzerin ans ihren Reisen als „Mutter" be¬ gleitete, aber erst in Paris habe ich später aus dem Urteil gewiegter Kenner einen begriff davon bekommen, wie schwer die Kunst des „großen Tanzes" ist, und wie selten sich jemand findet, der allen Anforderungen genügt. Die spanische Tänzerin, von der ich sprach, war, als ich sie zuerst sah, schon "us deu allerersten Jugendjahren heraus. Sie hatte ein paar Jahre früher durch ehre Schönheit und durch das Feuer ihres Tanzes europäischen Ruf erlaugt und machte einem damals auch auf der Bühne mehr den Eindruck einer Dame als einer Tänzerin. Graziöse Indolenz und vornehme Nonchalance waren an die Stelle des frühern jugendlichen Feuers getreten; ein wohlhäbiger, mit der sprichwörtlichen Leichtigkeit der Sylphiden nicht recht verträglicher Embonpoint war nicht weg¬ zuleugnen, und es war auch schon ub und zu von einem gänzlichen sich zur Ruhe setzen die Rede. Die schöne Spanierin hatte nie tanzen gelernt: sie tanzte spanische Nationaltänze zur Vollendung, aber sie hätte in keiner großen Ballettrolle auftreten können, weil ihre Kräfte und ihre Mittel jeden Abend nur gerade für zwei bis drei kurze Nationaltänze reichten, die sie nach ihrem Gutdünken znrechtgeschnitten hatte, und die sie nach vorhergegangnem Einvernehmen mit dem Kapellmeister je nach Lust und Laune variierte, abkürzte oder vervollständigte. Die Natur hatte für sie aller¬ dings, man möchte sagen, das Unmögliche getan: sie war wie für das spanische Kostüm geschaffen; man wußte nicht, ob man mehr ihre Hemd und ihren Fuß, oder ihren Hals und ihren Arm, oder ihr Auge und ihr blnnschwarz glänzendes Haar bewundern sollte. Dabei eine Grazie, ein Lächeln, eine Haltung, wie man sie nie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/359>, abgerufen am 28.07.2024.