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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Line Inselreihe durch das griechische Meer

Weißen Häuser einer Stadt steigen vom Strande ans einen oder mehrere Hügel
hinan, und dahinter erheben sich kahle graugrüne Berge, Auf Naxos ist die
Stadt größer und nnsehulicher, die Berge sind stattlicher und höher als anderswo;
ist doch Naxos mit 15000 Einwohnern die bevölkertste aller Kyklciden, der
Oxici ans Naxos mit 1003 Metern der höchste Berg auf thuen. Was aber dem
Blick auf die Insel vom Meer ans einen ganz eignen, melancholischen Reiz ver¬
leiht, ist eine hohe Säule, der einzige Rest eines antiken Tempels, die auf eiuer
wogenumbraudeten Klippe vor dem Hafen einsam zu trauern und an die ver¬
gangnen Zeiten zu denken scheint, wo sie mit vielen Schwestern heiterer Feste
Zeugin war. Es ist wunderbar, was so ein einziges überlebendes Denkmal
einer großen Vergangenheit einem Landschaftsbilde für einen Zauber zu ver
leihen vermag.

Eine Stunde lang etwa durften nur uns des Anblicks der Naxosstadt
erfreuen, dann wurde es Zeit, für die Nacht einen schützenden Hafen aufzu¬
suchen. Einen solchen sollte uns Jos bieten. Doch hatte die nach mäßiger
Fahrt vor uns liegende Insel scheinbar gar keinen Hafen. Nur ein weißes
Kirchlein lag vor uns ans schroffem Felshang. Aber als wir um diesen herum¬
fuhren, sahen wir mit einemmal eine geräumige Bucht mit völlig ruhiger See
vor uns, in die wir alsbald freudig hincindampftcn. Hinter uns schien sich
die schmale Öffnung wieder zu schließen, sodaß wir in einem völlig ge¬
schlossenen Becken zu sein glaubte". Rechts am Strande bemerkten wir nur
einige Häuser, die eigentliche Stadt lag oben auf dem Berge. Hier wurde
im Altertum das Grab Homers gezeigt. Aber man kann nicht annehmen,
daß es echt war; auch ist Homer nicht tot, denn er lebt noch heute.

Einige vou uns schickten sich an, noch in aller Eile, ehe das letzte Tages¬
licht verblich, der Stadt einen kurzen Besuch abzustatten. Unter Philippsohns
Führung, der überall uns den Inseln und an den Küsten des griechischen
Meeres Bescheid weiß, weil er überall das Land geographisch studiert hat,
stiegen wir so schnell wie möglich den wohlgepflastcrten Reitweg hinauf.
Krügetragende Mädchen begegneten uns und grüßten die Fremden mit einem
freundlichen l<lati8psrÄ (guten Abend). Wir wollten gemeinsam ein Kaphcnion
aufsuchen, aber schon an den ersten Häusern der Stadt traf Philippsohn auf ein
Paar Gastfreunde von früher her, denn ihm wohnen ans allen Inseln solche.
Diese nahmen ihn sofort in Beschlag und entführten ihn uns unter lauten
Freudenbezeugungen. Wir wanden uns also allem bis zur Platia hinauf und
begaben uns in das der beiden Kaphenia. das uns als das lcallitero (schönste)
bezeichnet wurde. Es war natürlich sofort bis zum letzten Platz mit Menschen
gefüllt, die die europäischen Gäste sehen wollten, und es begann nun der
landesübliche Austausch von Höflichkeiten und das gegenseitige Zutrinken süßen
Weins. Wenn man dort auf den Inseln einen Krassi (Glas Wein) fordert, so be¬
kommt man in einem normalen Wasserglase nur eine drei bis vier Zentimeter hohe
Flüssigkeit und dazu ein andres Glas voll Wasser. Der Wein ist nämlich dort
echt und sehr feurig und wird deshalb nur gemischt getrunken. Uns genügte
das nicht recht, und die Joder mochten wohl erstaune" über die Zahl der
von de" Nordländern genossenen Krassis. Verständige mah"de" dann doch


Line Inselreihe durch das griechische Meer

Weißen Häuser einer Stadt steigen vom Strande ans einen oder mehrere Hügel
hinan, und dahinter erheben sich kahle graugrüne Berge, Auf Naxos ist die
Stadt größer und nnsehulicher, die Berge sind stattlicher und höher als anderswo;
ist doch Naxos mit 15000 Einwohnern die bevölkertste aller Kyklciden, der
Oxici ans Naxos mit 1003 Metern der höchste Berg auf thuen. Was aber dem
Blick auf die Insel vom Meer ans einen ganz eignen, melancholischen Reiz ver¬
leiht, ist eine hohe Säule, der einzige Rest eines antiken Tempels, die auf eiuer
wogenumbraudeten Klippe vor dem Hafen einsam zu trauern und an die ver¬
gangnen Zeiten zu denken scheint, wo sie mit vielen Schwestern heiterer Feste
Zeugin war. Es ist wunderbar, was so ein einziges überlebendes Denkmal
einer großen Vergangenheit einem Landschaftsbilde für einen Zauber zu ver
leihen vermag.

Eine Stunde lang etwa durften nur uns des Anblicks der Naxosstadt
erfreuen, dann wurde es Zeit, für die Nacht einen schützenden Hafen aufzu¬
suchen. Einen solchen sollte uns Jos bieten. Doch hatte die nach mäßiger
Fahrt vor uns liegende Insel scheinbar gar keinen Hafen. Nur ein weißes
Kirchlein lag vor uns ans schroffem Felshang. Aber als wir um diesen herum¬
fuhren, sahen wir mit einemmal eine geräumige Bucht mit völlig ruhiger See
vor uns, in die wir alsbald freudig hincindampftcn. Hinter uns schien sich
die schmale Öffnung wieder zu schließen, sodaß wir in einem völlig ge¬
schlossenen Becken zu sein glaubte». Rechts am Strande bemerkten wir nur
einige Häuser, die eigentliche Stadt lag oben auf dem Berge. Hier wurde
im Altertum das Grab Homers gezeigt. Aber man kann nicht annehmen,
daß es echt war; auch ist Homer nicht tot, denn er lebt noch heute.

Einige vou uns schickten sich an, noch in aller Eile, ehe das letzte Tages¬
licht verblich, der Stadt einen kurzen Besuch abzustatten. Unter Philippsohns
Führung, der überall uns den Inseln und an den Küsten des griechischen
Meeres Bescheid weiß, weil er überall das Land geographisch studiert hat,
stiegen wir so schnell wie möglich den wohlgepflastcrten Reitweg hinauf.
Krügetragende Mädchen begegneten uns und grüßten die Fremden mit einem
freundlichen l<lati8psrÄ (guten Abend). Wir wollten gemeinsam ein Kaphcnion
aufsuchen, aber schon an den ersten Häusern der Stadt traf Philippsohn auf ein
Paar Gastfreunde von früher her, denn ihm wohnen ans allen Inseln solche.
Diese nahmen ihn sofort in Beschlag und entführten ihn uns unter lauten
Freudenbezeugungen. Wir wanden uns also allem bis zur Platia hinauf und
begaben uns in das der beiden Kaphenia. das uns als das lcallitero (schönste)
bezeichnet wurde. Es war natürlich sofort bis zum letzten Platz mit Menschen
gefüllt, die die europäischen Gäste sehen wollten, und es begann nun der
landesübliche Austausch von Höflichkeiten und das gegenseitige Zutrinken süßen
Weins. Wenn man dort auf den Inseln einen Krassi (Glas Wein) fordert, so be¬
kommt man in einem normalen Wasserglase nur eine drei bis vier Zentimeter hohe
Flüssigkeit und dazu ein andres Glas voll Wasser. Der Wein ist nämlich dort
echt und sehr feurig und wird deshalb nur gemischt getrunken. Uns genügte
das nicht recht, und die Joder mochten wohl erstaune» über die Zahl der
von de» Nordländern genossenen Krassis. Verständige mah»de» dann doch


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[0353] Line Inselreihe durch das griechische Meer Weißen Häuser einer Stadt steigen vom Strande ans einen oder mehrere Hügel hinan, und dahinter erheben sich kahle graugrüne Berge, Auf Naxos ist die Stadt größer und nnsehulicher, die Berge sind stattlicher und höher als anderswo; ist doch Naxos mit 15000 Einwohnern die bevölkertste aller Kyklciden, der Oxici ans Naxos mit 1003 Metern der höchste Berg auf thuen. Was aber dem Blick auf die Insel vom Meer ans einen ganz eignen, melancholischen Reiz ver¬ leiht, ist eine hohe Säule, der einzige Rest eines antiken Tempels, die auf eiuer wogenumbraudeten Klippe vor dem Hafen einsam zu trauern und an die ver¬ gangnen Zeiten zu denken scheint, wo sie mit vielen Schwestern heiterer Feste Zeugin war. Es ist wunderbar, was so ein einziges überlebendes Denkmal einer großen Vergangenheit einem Landschaftsbilde für einen Zauber zu ver leihen vermag. Eine Stunde lang etwa durften nur uns des Anblicks der Naxosstadt erfreuen, dann wurde es Zeit, für die Nacht einen schützenden Hafen aufzu¬ suchen. Einen solchen sollte uns Jos bieten. Doch hatte die nach mäßiger Fahrt vor uns liegende Insel scheinbar gar keinen Hafen. Nur ein weißes Kirchlein lag vor uns ans schroffem Felshang. Aber als wir um diesen herum¬ fuhren, sahen wir mit einemmal eine geräumige Bucht mit völlig ruhiger See vor uns, in die wir alsbald freudig hincindampftcn. Hinter uns schien sich die schmale Öffnung wieder zu schließen, sodaß wir in einem völlig ge¬ schlossenen Becken zu sein glaubte». Rechts am Strande bemerkten wir nur einige Häuser, die eigentliche Stadt lag oben auf dem Berge. Hier wurde im Altertum das Grab Homers gezeigt. Aber man kann nicht annehmen, daß es echt war; auch ist Homer nicht tot, denn er lebt noch heute. Einige vou uns schickten sich an, noch in aller Eile, ehe das letzte Tages¬ licht verblich, der Stadt einen kurzen Besuch abzustatten. Unter Philippsohns Führung, der überall uns den Inseln und an den Küsten des griechischen Meeres Bescheid weiß, weil er überall das Land geographisch studiert hat, stiegen wir so schnell wie möglich den wohlgepflastcrten Reitweg hinauf. Krügetragende Mädchen begegneten uns und grüßten die Fremden mit einem freundlichen l<lati8psrÄ (guten Abend). Wir wollten gemeinsam ein Kaphcnion aufsuchen, aber schon an den ersten Häusern der Stadt traf Philippsohn auf ein Paar Gastfreunde von früher her, denn ihm wohnen ans allen Inseln solche. Diese nahmen ihn sofort in Beschlag und entführten ihn uns unter lauten Freudenbezeugungen. Wir wanden uns also allem bis zur Platia hinauf und begaben uns in das der beiden Kaphenia. das uns als das lcallitero (schönste) bezeichnet wurde. Es war natürlich sofort bis zum letzten Platz mit Menschen gefüllt, die die europäischen Gäste sehen wollten, und es begann nun der landesübliche Austausch von Höflichkeiten und das gegenseitige Zutrinken süßen Weins. Wenn man dort auf den Inseln einen Krassi (Glas Wein) fordert, so be¬ kommt man in einem normalen Wasserglase nur eine drei bis vier Zentimeter hohe Flüssigkeit und dazu ein andres Glas voll Wasser. Der Wein ist nämlich dort echt und sehr feurig und wird deshalb nur gemischt getrunken. Uns genügte das nicht recht, und die Joder mochten wohl erstaune» über die Zahl der von de» Nordländern genossenen Krassis. Verständige mah»de» dann doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/353>, abgerufen am 24.11.2024.