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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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wenigsten die Leute, die davon große Worte machen. Es ist auch dort das ein¬
fache "Geh weg, ich will mich an deinen Platz setzen," was unsern ge¬
samten demokratischen Bewegungen das Gepräge gibt. Gefährlich für die Re¬
gierungen ist dergleichen nicht mehr, aber beschwerlich. Für die österreichische
Regierung werden die Schwierigkeiten in Galizien in demselben Maße wachsen,
wie der unaufhaltsame Verfall der Schlachta fortschreitet. Es wäre falsch
anzunehmen, daß man in Wien nicht zuweilen gewußt habe, wie es in Ga¬
lizien eigentlich aussieht. Aber die Herrschaft der Schlachtn war das kleinere
Übel, das länger als ein Vierteljahrhundert allen österreichischen Regierungen
(darunter allein dem Ministerium Taaffe vierzehn Jahre) ermöglicht hat "fort¬
zuwursteln." Die unfruchtbare oppositionelle Kritik hat diesen Umstand schon
wiederholt breitgetreten, leider aber auch nicht gewußt und angegeben, wie
man es anders hätte machen sollen. Es war mindestens beqnem, wenn nicht
notwendig, für jede österreichische Regierung, die nie der Unterstützung der
Deutschen und meist auch der Tschechen sicher sein kann, die immer bereiten
Polnischen Stimmen zur Verfügung zu haben. In frühern Zeiten wurden ja
die Polen vom Liberalisinus gehätschelt, und es war darum uicht unpopulär
und erschien sogar ganz volksfreuudlich, Gnlizieu den hergebrachten polnischen
Herren auszuliefern. Die Zustünde dort waren wohl nicht erfreulich, am ähn¬
lichsten waren sie deuen im benachbarten Ungarn, doch auch die Magyaren
erfreuten sich seinerzeit sehr der Sympathie des europäischen Liberalismus.
Aber seit man nach mehr als drei Jahrzehnten die Früchte gesehen hat, haben
sich die Anschauungen bedeutend geändert. Die heutige politische Lage in
Europa verträgt keine Aufrollung der polnischen Frage mehr. Preußen wird
mit seineu Polen allein fertig werden müssen, und wie sich Österreich und
Rußland gegenüber polnischen Unruhen benehmen würden, das kann man schon
aus ihrem gemeinsamen Vorgehn gegen die Balkanhündel entnehmen, und
Polen liegt ihnen doch in verschiedner Beziehung um ein erkleckliches näher.
Von dieser Seite her droht keine Gefahr. Die Schwierigkeiten werden bloß
innerer Natur sein, aber sie werden für Österreich von grundlegender Bedeu¬
tung werden. Wenn auch noch in Galizien die radikale Demokratie zum Ein¬
fluß kommt, dann kann in Österreich die bisherige Regierungsweise schlechthin
nicht fortgesetzt werden, und in Galizien wird man mit Hilfe der Nuthenen,
der Reste des Deutschtums und der Wiederbelebung der Staatsautorität dem
Lande eine neue Zukunft bringen, namentlich nach der wirtschaftlichen und
der sozialen Richtung hin, überhaupt Galizien für Österreich neu erobern müssen.
Dann wird sich erst zeigen, welche Schwierigkeiten man dnrch Jahrzehnte
währendes Geschehenlassen herangezogen hat; denn der österreichische Beamte
kann nicht polnisch, und der jetzige galizische Beamte denkt nur in seltnen
Fällen österreichisch; hier liegt der tatsächliche Beweis vor, wohin der Föde¬
ralismus in Österreich führen müßte. Es wird ganz von der Entschlu߬
fähigkeit der Krone und den Regierungen in Österreich abhängen, und welcher
Entschiedenheit und welche" Mitteln man vorgehn wird, aber einschreiten wird
man müssen. Dann kann allerdings der Fall eintreten, daß man zu einer
./Sonderstellung Galiziens" kommt, freilich noch in ganz andern: Sinne, als


wenigsten die Leute, die davon große Worte machen. Es ist auch dort das ein¬
fache „Geh weg, ich will mich an deinen Platz setzen," was unsern ge¬
samten demokratischen Bewegungen das Gepräge gibt. Gefährlich für die Re¬
gierungen ist dergleichen nicht mehr, aber beschwerlich. Für die österreichische
Regierung werden die Schwierigkeiten in Galizien in demselben Maße wachsen,
wie der unaufhaltsame Verfall der Schlachta fortschreitet. Es wäre falsch
anzunehmen, daß man in Wien nicht zuweilen gewußt habe, wie es in Ga¬
lizien eigentlich aussieht. Aber die Herrschaft der Schlachtn war das kleinere
Übel, das länger als ein Vierteljahrhundert allen österreichischen Regierungen
(darunter allein dem Ministerium Taaffe vierzehn Jahre) ermöglicht hat „fort¬
zuwursteln." Die unfruchtbare oppositionelle Kritik hat diesen Umstand schon
wiederholt breitgetreten, leider aber auch nicht gewußt und angegeben, wie
man es anders hätte machen sollen. Es war mindestens beqnem, wenn nicht
notwendig, für jede österreichische Regierung, die nie der Unterstützung der
Deutschen und meist auch der Tschechen sicher sein kann, die immer bereiten
Polnischen Stimmen zur Verfügung zu haben. In frühern Zeiten wurden ja
die Polen vom Liberalisinus gehätschelt, und es war darum uicht unpopulär
und erschien sogar ganz volksfreuudlich, Gnlizieu den hergebrachten polnischen
Herren auszuliefern. Die Zustünde dort waren wohl nicht erfreulich, am ähn¬
lichsten waren sie deuen im benachbarten Ungarn, doch auch die Magyaren
erfreuten sich seinerzeit sehr der Sympathie des europäischen Liberalismus.
Aber seit man nach mehr als drei Jahrzehnten die Früchte gesehen hat, haben
sich die Anschauungen bedeutend geändert. Die heutige politische Lage in
Europa verträgt keine Aufrollung der polnischen Frage mehr. Preußen wird
mit seineu Polen allein fertig werden müssen, und wie sich Österreich und
Rußland gegenüber polnischen Unruhen benehmen würden, das kann man schon
aus ihrem gemeinsamen Vorgehn gegen die Balkanhündel entnehmen, und
Polen liegt ihnen doch in verschiedner Beziehung um ein erkleckliches näher.
Von dieser Seite her droht keine Gefahr. Die Schwierigkeiten werden bloß
innerer Natur sein, aber sie werden für Österreich von grundlegender Bedeu¬
tung werden. Wenn auch noch in Galizien die radikale Demokratie zum Ein¬
fluß kommt, dann kann in Österreich die bisherige Regierungsweise schlechthin
nicht fortgesetzt werden, und in Galizien wird man mit Hilfe der Nuthenen,
der Reste des Deutschtums und der Wiederbelebung der Staatsautorität dem
Lande eine neue Zukunft bringen, namentlich nach der wirtschaftlichen und
der sozialen Richtung hin, überhaupt Galizien für Österreich neu erobern müssen.
Dann wird sich erst zeigen, welche Schwierigkeiten man dnrch Jahrzehnte
währendes Geschehenlassen herangezogen hat; denn der österreichische Beamte
kann nicht polnisch, und der jetzige galizische Beamte denkt nur in seltnen
Fällen österreichisch; hier liegt der tatsächliche Beweis vor, wohin der Föde¬
ralismus in Österreich führen müßte. Es wird ganz von der Entschlu߬
fähigkeit der Krone und den Regierungen in Österreich abhängen, und welcher
Entschiedenheit und welche» Mitteln man vorgehn wird, aber einschreiten wird
man müssen. Dann kann allerdings der Fall eintreten, daß man zu einer
./Sonderstellung Galiziens" kommt, freilich noch in ganz andern: Sinne, als


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[0347] wenigsten die Leute, die davon große Worte machen. Es ist auch dort das ein¬ fache „Geh weg, ich will mich an deinen Platz setzen," was unsern ge¬ samten demokratischen Bewegungen das Gepräge gibt. Gefährlich für die Re¬ gierungen ist dergleichen nicht mehr, aber beschwerlich. Für die österreichische Regierung werden die Schwierigkeiten in Galizien in demselben Maße wachsen, wie der unaufhaltsame Verfall der Schlachta fortschreitet. Es wäre falsch anzunehmen, daß man in Wien nicht zuweilen gewußt habe, wie es in Ga¬ lizien eigentlich aussieht. Aber die Herrschaft der Schlachtn war das kleinere Übel, das länger als ein Vierteljahrhundert allen österreichischen Regierungen (darunter allein dem Ministerium Taaffe vierzehn Jahre) ermöglicht hat „fort¬ zuwursteln." Die unfruchtbare oppositionelle Kritik hat diesen Umstand schon wiederholt breitgetreten, leider aber auch nicht gewußt und angegeben, wie man es anders hätte machen sollen. Es war mindestens beqnem, wenn nicht notwendig, für jede österreichische Regierung, die nie der Unterstützung der Deutschen und meist auch der Tschechen sicher sein kann, die immer bereiten Polnischen Stimmen zur Verfügung zu haben. In frühern Zeiten wurden ja die Polen vom Liberalisinus gehätschelt, und es war darum uicht unpopulär und erschien sogar ganz volksfreuudlich, Gnlizieu den hergebrachten polnischen Herren auszuliefern. Die Zustünde dort waren wohl nicht erfreulich, am ähn¬ lichsten waren sie deuen im benachbarten Ungarn, doch auch die Magyaren erfreuten sich seinerzeit sehr der Sympathie des europäischen Liberalismus. Aber seit man nach mehr als drei Jahrzehnten die Früchte gesehen hat, haben sich die Anschauungen bedeutend geändert. Die heutige politische Lage in Europa verträgt keine Aufrollung der polnischen Frage mehr. Preußen wird mit seineu Polen allein fertig werden müssen, und wie sich Österreich und Rußland gegenüber polnischen Unruhen benehmen würden, das kann man schon aus ihrem gemeinsamen Vorgehn gegen die Balkanhündel entnehmen, und Polen liegt ihnen doch in verschiedner Beziehung um ein erkleckliches näher. Von dieser Seite her droht keine Gefahr. Die Schwierigkeiten werden bloß innerer Natur sein, aber sie werden für Österreich von grundlegender Bedeu¬ tung werden. Wenn auch noch in Galizien die radikale Demokratie zum Ein¬ fluß kommt, dann kann in Österreich die bisherige Regierungsweise schlechthin nicht fortgesetzt werden, und in Galizien wird man mit Hilfe der Nuthenen, der Reste des Deutschtums und der Wiederbelebung der Staatsautorität dem Lande eine neue Zukunft bringen, namentlich nach der wirtschaftlichen und der sozialen Richtung hin, überhaupt Galizien für Österreich neu erobern müssen. Dann wird sich erst zeigen, welche Schwierigkeiten man dnrch Jahrzehnte währendes Geschehenlassen herangezogen hat; denn der österreichische Beamte kann nicht polnisch, und der jetzige galizische Beamte denkt nur in seltnen Fällen österreichisch; hier liegt der tatsächliche Beweis vor, wohin der Föde¬ ralismus in Österreich führen müßte. Es wird ganz von der Entschlu߬ fähigkeit der Krone und den Regierungen in Österreich abhängen, und welcher Entschiedenheit und welche» Mitteln man vorgehn wird, aber einschreiten wird man müssen. Dann kann allerdings der Fall eintreten, daß man zu einer ./Sonderstellung Galiziens" kommt, freilich noch in ganz andern: Sinne, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/347>, abgerufen am 24.11.2024.