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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Rathcoer und Kanzel im preußischen Protestantismus

dazu, diese Brücke über die unerträgliche und unwürdige Kluft zu schlagen,
die den Protestantismus in seinem Eckpfeiler, der Wahrhaftigkeit, bedroht.
Ganz ohne Ärgernis ist noch keine Reformation, keine "Weiterbildung" der
Religion und des kirchlichen Lebens geschehn. Aber nur zu oft muß das
Ärgernis den orthodoxen Theologen auf die Rechnung geschrieben werden, die
den von ihnen beherrschten Massen jede Weiterbildung grundsätzlich verdächtigen,
unbekümmert darum, daß das, was sie als unantastbare Snbstnnz der Lehre
erhalten "vollen, den von ihnen nicht beherrschten, vielleicht noch viel größern
Massen noch viel größeres Ärgernis gibt und sie der Religion und der Kirche
ganz entfremdet. So dringend die Pflicht ist, Ärgernis zu vermeiden, wie
jetzt im preußischen Protestantismus die Dinge liegen, sollte man sich vor
nichts mehr hüten, als zum Vorwand des weitern I>ÄiK8ör-a11ör die Gefahr des
Ärgernisses zu übertreiben. Diese Gefahr ist in Preußen im "abgelegnen
Heidedorf" -- um mit Paulsen zu reden") -- wie in den Großstadtgemeinden
fast ganz und gar und von vornherein auf das "klerikale" -- wieder nach
Paulsen -- Konto zu setzen. Unsre von den "modernen Anschauungen" ganz
unberührten, im besten Sinne frommen protestantischen Bauern hatten schon
vor fünfzig Jahren herzlich wenig dogmatisches Interesse und Verständnis, wo
ihnen nicht ausnahmsweise Sektierertum eingeimpft war. Aber einem beliebten
Pastor folgten sie leicht, wenn er über Eingriffe "vou oben" in die alte Ord¬
nung im Gottesdienste jammerte, auch wo es sich um die nebensächlichsten,
inhaltslosesten Formeln handelte. Der orthodoxe Eifer ist bei den protestan¬
tischen Bauern Preußens, wo er sich findet, in gewissem Sinne etwas "mo
terres" und künstlich gezüchtetes. Und noch mehr gilt das doch für die
Stadtgemeinden.

Über das schwierige Problem der Wahrhaftigkeit auf der Kanzel hat
neuerdings Paulsen, der eben schon genannt wurde, in seinem System der
Ethik sehr viel schönes gesagt, worauf hier recht nachdrücklich hingewiesen sei.
Er ist gewiß kein stürmischer Neuerungssüchtler, sondern wo er Kritik um
Bestehenden und Hergebrachten übt, ist immer auf ein überreiches Maß von
Wenn und Aber zu rechnen. Unter anderm schreibt er, nachdem er treffend als
einen Zug unsrer Zeit "eine ganze Literatur, die die Entlarvung der Lüge
geschäftsmüßig betreibt." bezeichnet hat, folgendes: Daß der Zwiespalt zwischen
dem, was wir wirklich denken und glauben, und dem, was wir im kirchlichen
und schulmüßigen Unterricht die Jugend zu glauben oder zu sagen anhalten,
hieran mit schuld sei, darüber werde, wer Augen hat zu sehen, nicht im Zweifel
sein. Fast in jedem Leben trete diese Reaktion früher oder später, heftiger
oder gelinder auf, und da sie in ein auch durch andre Umstände kritisches
Lebensalter zu fallen pflege, so führe sie oft zu einer schweren Entwickluugs-
krisis, in der mancher dauernd Schaden nehme, mancher zu Grnnde gehe.
"Mit dem kirchlichen Glauben wird die Moral verdächtig, und die Aufklärung
wird zum Antrieb, in ostensibler Weise der Moralität sich zu entledigen. Halten
bei andern Trägheit, Rücksicht und Feigheit davon ab, sich zu seinen Gedanken



System der Ethik, zweiter Vnnd, S. 216 ff,
Rathcoer und Kanzel im preußischen Protestantismus

dazu, diese Brücke über die unerträgliche und unwürdige Kluft zu schlagen,
die den Protestantismus in seinem Eckpfeiler, der Wahrhaftigkeit, bedroht.
Ganz ohne Ärgernis ist noch keine Reformation, keine „Weiterbildung" der
Religion und des kirchlichen Lebens geschehn. Aber nur zu oft muß das
Ärgernis den orthodoxen Theologen auf die Rechnung geschrieben werden, die
den von ihnen beherrschten Massen jede Weiterbildung grundsätzlich verdächtigen,
unbekümmert darum, daß das, was sie als unantastbare Snbstnnz der Lehre
erhalten »vollen, den von ihnen nicht beherrschten, vielleicht noch viel größern
Massen noch viel größeres Ärgernis gibt und sie der Religion und der Kirche
ganz entfremdet. So dringend die Pflicht ist, Ärgernis zu vermeiden, wie
jetzt im preußischen Protestantismus die Dinge liegen, sollte man sich vor
nichts mehr hüten, als zum Vorwand des weitern I>ÄiK8ör-a11ör die Gefahr des
Ärgernisses zu übertreiben. Diese Gefahr ist in Preußen im „abgelegnen
Heidedorf" — um mit Paulsen zu reden") — wie in den Großstadtgemeinden
fast ganz und gar und von vornherein auf das „klerikale" — wieder nach
Paulsen — Konto zu setzen. Unsre von den „modernen Anschauungen" ganz
unberührten, im besten Sinne frommen protestantischen Bauern hatten schon
vor fünfzig Jahren herzlich wenig dogmatisches Interesse und Verständnis, wo
ihnen nicht ausnahmsweise Sektierertum eingeimpft war. Aber einem beliebten
Pastor folgten sie leicht, wenn er über Eingriffe „vou oben" in die alte Ord¬
nung im Gottesdienste jammerte, auch wo es sich um die nebensächlichsten,
inhaltslosesten Formeln handelte. Der orthodoxe Eifer ist bei den protestan¬
tischen Bauern Preußens, wo er sich findet, in gewissem Sinne etwas „mo
terres" und künstlich gezüchtetes. Und noch mehr gilt das doch für die
Stadtgemeinden.

Über das schwierige Problem der Wahrhaftigkeit auf der Kanzel hat
neuerdings Paulsen, der eben schon genannt wurde, in seinem System der
Ethik sehr viel schönes gesagt, worauf hier recht nachdrücklich hingewiesen sei.
Er ist gewiß kein stürmischer Neuerungssüchtler, sondern wo er Kritik um
Bestehenden und Hergebrachten übt, ist immer auf ein überreiches Maß von
Wenn und Aber zu rechnen. Unter anderm schreibt er, nachdem er treffend als
einen Zug unsrer Zeit „eine ganze Literatur, die die Entlarvung der Lüge
geschäftsmüßig betreibt." bezeichnet hat, folgendes: Daß der Zwiespalt zwischen
dem, was wir wirklich denken und glauben, und dem, was wir im kirchlichen
und schulmüßigen Unterricht die Jugend zu glauben oder zu sagen anhalten,
hieran mit schuld sei, darüber werde, wer Augen hat zu sehen, nicht im Zweifel
sein. Fast in jedem Leben trete diese Reaktion früher oder später, heftiger
oder gelinder auf, und da sie in ein auch durch andre Umstände kritisches
Lebensalter zu fallen pflege, so führe sie oft zu einer schweren Entwickluugs-
krisis, in der mancher dauernd Schaden nehme, mancher zu Grnnde gehe.
„Mit dem kirchlichen Glauben wird die Moral verdächtig, und die Aufklärung
wird zum Antrieb, in ostensibler Weise der Moralität sich zu entledigen. Halten
bei andern Trägheit, Rücksicht und Feigheit davon ab, sich zu seinen Gedanken



System der Ethik, zweiter Vnnd, S. 216 ff,
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[0337] Rathcoer und Kanzel im preußischen Protestantismus dazu, diese Brücke über die unerträgliche und unwürdige Kluft zu schlagen, die den Protestantismus in seinem Eckpfeiler, der Wahrhaftigkeit, bedroht. Ganz ohne Ärgernis ist noch keine Reformation, keine „Weiterbildung" der Religion und des kirchlichen Lebens geschehn. Aber nur zu oft muß das Ärgernis den orthodoxen Theologen auf die Rechnung geschrieben werden, die den von ihnen beherrschten Massen jede Weiterbildung grundsätzlich verdächtigen, unbekümmert darum, daß das, was sie als unantastbare Snbstnnz der Lehre erhalten »vollen, den von ihnen nicht beherrschten, vielleicht noch viel größern Massen noch viel größeres Ärgernis gibt und sie der Religion und der Kirche ganz entfremdet. So dringend die Pflicht ist, Ärgernis zu vermeiden, wie jetzt im preußischen Protestantismus die Dinge liegen, sollte man sich vor nichts mehr hüten, als zum Vorwand des weitern I>ÄiK8ör-a11ör die Gefahr des Ärgernisses zu übertreiben. Diese Gefahr ist in Preußen im „abgelegnen Heidedorf" — um mit Paulsen zu reden") — wie in den Großstadtgemeinden fast ganz und gar und von vornherein auf das „klerikale" — wieder nach Paulsen — Konto zu setzen. Unsre von den „modernen Anschauungen" ganz unberührten, im besten Sinne frommen protestantischen Bauern hatten schon vor fünfzig Jahren herzlich wenig dogmatisches Interesse und Verständnis, wo ihnen nicht ausnahmsweise Sektierertum eingeimpft war. Aber einem beliebten Pastor folgten sie leicht, wenn er über Eingriffe „vou oben" in die alte Ord¬ nung im Gottesdienste jammerte, auch wo es sich um die nebensächlichsten, inhaltslosesten Formeln handelte. Der orthodoxe Eifer ist bei den protestan¬ tischen Bauern Preußens, wo er sich findet, in gewissem Sinne etwas „mo terres" und künstlich gezüchtetes. Und noch mehr gilt das doch für die Stadtgemeinden. Über das schwierige Problem der Wahrhaftigkeit auf der Kanzel hat neuerdings Paulsen, der eben schon genannt wurde, in seinem System der Ethik sehr viel schönes gesagt, worauf hier recht nachdrücklich hingewiesen sei. Er ist gewiß kein stürmischer Neuerungssüchtler, sondern wo er Kritik um Bestehenden und Hergebrachten übt, ist immer auf ein überreiches Maß von Wenn und Aber zu rechnen. Unter anderm schreibt er, nachdem er treffend als einen Zug unsrer Zeit „eine ganze Literatur, die die Entlarvung der Lüge geschäftsmüßig betreibt." bezeichnet hat, folgendes: Daß der Zwiespalt zwischen dem, was wir wirklich denken und glauben, und dem, was wir im kirchlichen und schulmüßigen Unterricht die Jugend zu glauben oder zu sagen anhalten, hieran mit schuld sei, darüber werde, wer Augen hat zu sehen, nicht im Zweifel sein. Fast in jedem Leben trete diese Reaktion früher oder später, heftiger oder gelinder auf, und da sie in ein auch durch andre Umstände kritisches Lebensalter zu fallen pflege, so führe sie oft zu einer schweren Entwickluugs- krisis, in der mancher dauernd Schaden nehme, mancher zu Grnnde gehe. „Mit dem kirchlichen Glauben wird die Moral verdächtig, und die Aufklärung wird zum Antrieb, in ostensibler Weise der Moralität sich zu entledigen. Halten bei andern Trägheit, Rücksicht und Feigheit davon ab, sich zu seinen Gedanken System der Ethik, zweiter Vnnd, S. 216 ff,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/337>, abgerufen am 24.11.2024.