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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Das Goldne Vließ

ranken eine solche Trophäe über das Meer herübergebracht haben sollten. An
ähnlichen künstlichen und späterer Phantasie entsprungnen Erklärungen an sich
einfacher Dinge hat es bekanntlich zu keiner Zeit gefehlt.

Daß den Herzog Philipp bei der Wahl des Widderfells als Emblems
für einen Orden die Absicht einer Glorifizierung der -- Schafwolle mitbestimmt
haben könnte, wird von den meisten Schriftstellern als eine unwürdige Ver¬
mutung zurückgewiesen. So ganz außer Frage scheint jedoch die Sache nicht
zu sein. Den erstaunlichen Reichtum der flandrischen und brabantischen Städte
verdankte man vor allem der Schafzucht und der Tuchfabrikation. Das konnte
dem Beherrscher dieser Landstriche unmöglich entgangen sein. In den Sta¬
tuten wird Wolle ausdrücklich als Stoff für die Ordenskleidung bestimmt; auch
die beiden dem Orden oft beigelegten Namen des Lämbleins von Burgund
und des belgischen Schäpers beweisen, daß man in weiten Kreisen den goldnen
Widder weniger in Kolchis als auf den nahrhaften Triften der niederlän¬
dischen Tiefebne suchte. Warum sollte es dein Herzog so gar fern gelegen
haben, bei Gründung seines Ritterordens zugleich auch dankbar derer zu ge¬
denken, durch deren Wolle und durch deren Fleiß Wohlleben und Überfluß
ins Land gekommen war? Und das waren -- in dein Gedanken liegt für
die Ritterschaft nichts Entwürdigendes -- die Widder und die Tuchmacher.
Mau konnte mit dem Widderfell den Nährstand und den Wehrstand zugleich
ehre": sollte ein Herzog, der sich den Beinamen des Gütigen erworben hat, nicht
an alle seine Untertanen gedacht haben?

Wenn in einem Handbuche gesagt wird, es gebe sich auch beim Goldner
Vließ (wie beim Hosenbandorden) "schon der Übergang vom mittelalterlichen
Ordenswesen zu dem moderne" monarchischen kund," so ist das zwar richtig,
aber es muß jedenfalls für die ersten Jahrhunderte des Bestehns des Ordens
(zum 8'iÄiro sküis verstanden werden. In den Anfängen war der Charakter
des Ordens, wie der Leser selbst am besten aus deu Tatsachen ersehen wird,
noch sehr mittelalterlich; er war ganz kirchlich und feudal, alles andre als im
modernen Sinn monarchisch.

Den von Leo dem Zehnten im Jahre 1516 erteilten Privilegien zufolge
hatte der Ordenskanzler, der geistlichen Standes sein sollte, die Befugnis, die
Ritter und die Beamten des Ordens auch in "vorbehältnen" Fällen zu ab¬
solvieren, deren Gelübde abzuändern, auch ihnen alljährlich einmal sowie
in Ntieulo raortis völlige Sündenvergebung zu erteilen. Die Ritter durften
während der Fastenzeit Eier und Milchspeise" genießen und sich zwei Altäre
wählen, denen der Papst alle Ablaßberechtigungen der römischen Wallfahrts-
stntioncn verlieh; es war ihnen erlaubt, die Messe bei sich im Hause lesen zu
lassen. Anderseits war der Souverüu durch die ersten Ordensstatuten in
seinen Machtbefugnisse,! so beschränkt, daß er ohne vorheriges Anhören der
Vließritter weder Krieg erklären noch Frieden schließen konnte. Sie waren
berechtigt, am Staatsrat mit Sitz und Stimme teilzunehmen. Wie sie die Be¬
fugnis und die Pflicht hatten, die Lebensführung ihrer Ordensbrüder zu kon¬
trollieren, so durften sie auch dem regierende!? Fürsten mit Vorwurf und Tadeb
entgegentreten.


Das Goldne Vließ

ranken eine solche Trophäe über das Meer herübergebracht haben sollten. An
ähnlichen künstlichen und späterer Phantasie entsprungnen Erklärungen an sich
einfacher Dinge hat es bekanntlich zu keiner Zeit gefehlt.

Daß den Herzog Philipp bei der Wahl des Widderfells als Emblems
für einen Orden die Absicht einer Glorifizierung der — Schafwolle mitbestimmt
haben könnte, wird von den meisten Schriftstellern als eine unwürdige Ver¬
mutung zurückgewiesen. So ganz außer Frage scheint jedoch die Sache nicht
zu sein. Den erstaunlichen Reichtum der flandrischen und brabantischen Städte
verdankte man vor allem der Schafzucht und der Tuchfabrikation. Das konnte
dem Beherrscher dieser Landstriche unmöglich entgangen sein. In den Sta¬
tuten wird Wolle ausdrücklich als Stoff für die Ordenskleidung bestimmt; auch
die beiden dem Orden oft beigelegten Namen des Lämbleins von Burgund
und des belgischen Schäpers beweisen, daß man in weiten Kreisen den goldnen
Widder weniger in Kolchis als auf den nahrhaften Triften der niederlän¬
dischen Tiefebne suchte. Warum sollte es dein Herzog so gar fern gelegen
haben, bei Gründung seines Ritterordens zugleich auch dankbar derer zu ge¬
denken, durch deren Wolle und durch deren Fleiß Wohlleben und Überfluß
ins Land gekommen war? Und das waren — in dein Gedanken liegt für
die Ritterschaft nichts Entwürdigendes — die Widder und die Tuchmacher.
Mau konnte mit dem Widderfell den Nährstand und den Wehrstand zugleich
ehre«: sollte ein Herzog, der sich den Beinamen des Gütigen erworben hat, nicht
an alle seine Untertanen gedacht haben?

Wenn in einem Handbuche gesagt wird, es gebe sich auch beim Goldner
Vließ (wie beim Hosenbandorden) „schon der Übergang vom mittelalterlichen
Ordenswesen zu dem moderne» monarchischen kund," so ist das zwar richtig,
aber es muß jedenfalls für die ersten Jahrhunderte des Bestehns des Ordens
(zum 8'iÄiro sküis verstanden werden. In den Anfängen war der Charakter
des Ordens, wie der Leser selbst am besten aus deu Tatsachen ersehen wird,
noch sehr mittelalterlich; er war ganz kirchlich und feudal, alles andre als im
modernen Sinn monarchisch.

Den von Leo dem Zehnten im Jahre 1516 erteilten Privilegien zufolge
hatte der Ordenskanzler, der geistlichen Standes sein sollte, die Befugnis, die
Ritter und die Beamten des Ordens auch in „vorbehältnen" Fällen zu ab¬
solvieren, deren Gelübde abzuändern, auch ihnen alljährlich einmal sowie
in Ntieulo raortis völlige Sündenvergebung zu erteilen. Die Ritter durften
während der Fastenzeit Eier und Milchspeise« genießen und sich zwei Altäre
wählen, denen der Papst alle Ablaßberechtigungen der römischen Wallfahrts-
stntioncn verlieh; es war ihnen erlaubt, die Messe bei sich im Hause lesen zu
lassen. Anderseits war der Souverüu durch die ersten Ordensstatuten in
seinen Machtbefugnisse,! so beschränkt, daß er ohne vorheriges Anhören der
Vließritter weder Krieg erklären noch Frieden schließen konnte. Sie waren
berechtigt, am Staatsrat mit Sitz und Stimme teilzunehmen. Wie sie die Be¬
fugnis und die Pflicht hatten, die Lebensführung ihrer Ordensbrüder zu kon¬
trollieren, so durften sie auch dem regierende!? Fürsten mit Vorwurf und Tadeb
entgegentreten.


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[0029] Das Goldne Vließ ranken eine solche Trophäe über das Meer herübergebracht haben sollten. An ähnlichen künstlichen und späterer Phantasie entsprungnen Erklärungen an sich einfacher Dinge hat es bekanntlich zu keiner Zeit gefehlt. Daß den Herzog Philipp bei der Wahl des Widderfells als Emblems für einen Orden die Absicht einer Glorifizierung der — Schafwolle mitbestimmt haben könnte, wird von den meisten Schriftstellern als eine unwürdige Ver¬ mutung zurückgewiesen. So ganz außer Frage scheint jedoch die Sache nicht zu sein. Den erstaunlichen Reichtum der flandrischen und brabantischen Städte verdankte man vor allem der Schafzucht und der Tuchfabrikation. Das konnte dem Beherrscher dieser Landstriche unmöglich entgangen sein. In den Sta¬ tuten wird Wolle ausdrücklich als Stoff für die Ordenskleidung bestimmt; auch die beiden dem Orden oft beigelegten Namen des Lämbleins von Burgund und des belgischen Schäpers beweisen, daß man in weiten Kreisen den goldnen Widder weniger in Kolchis als auf den nahrhaften Triften der niederlän¬ dischen Tiefebne suchte. Warum sollte es dein Herzog so gar fern gelegen haben, bei Gründung seines Ritterordens zugleich auch dankbar derer zu ge¬ denken, durch deren Wolle und durch deren Fleiß Wohlleben und Überfluß ins Land gekommen war? Und das waren — in dein Gedanken liegt für die Ritterschaft nichts Entwürdigendes — die Widder und die Tuchmacher. Mau konnte mit dem Widderfell den Nährstand und den Wehrstand zugleich ehre«: sollte ein Herzog, der sich den Beinamen des Gütigen erworben hat, nicht an alle seine Untertanen gedacht haben? Wenn in einem Handbuche gesagt wird, es gebe sich auch beim Goldner Vließ (wie beim Hosenbandorden) „schon der Übergang vom mittelalterlichen Ordenswesen zu dem moderne» monarchischen kund," so ist das zwar richtig, aber es muß jedenfalls für die ersten Jahrhunderte des Bestehns des Ordens (zum 8'iÄiro sküis verstanden werden. In den Anfängen war der Charakter des Ordens, wie der Leser selbst am besten aus deu Tatsachen ersehen wird, noch sehr mittelalterlich; er war ganz kirchlich und feudal, alles andre als im modernen Sinn monarchisch. Den von Leo dem Zehnten im Jahre 1516 erteilten Privilegien zufolge hatte der Ordenskanzler, der geistlichen Standes sein sollte, die Befugnis, die Ritter und die Beamten des Ordens auch in „vorbehältnen" Fällen zu ab¬ solvieren, deren Gelübde abzuändern, auch ihnen alljährlich einmal sowie in Ntieulo raortis völlige Sündenvergebung zu erteilen. Die Ritter durften während der Fastenzeit Eier und Milchspeise« genießen und sich zwei Altäre wählen, denen der Papst alle Ablaßberechtigungen der römischen Wallfahrts- stntioncn verlieh; es war ihnen erlaubt, die Messe bei sich im Hause lesen zu lassen. Anderseits war der Souverüu durch die ersten Ordensstatuten in seinen Machtbefugnisse,! so beschränkt, daß er ohne vorheriges Anhören der Vließritter weder Krieg erklären noch Frieden schließen konnte. Sie waren berechtigt, am Staatsrat mit Sitz und Stimme teilzunehmen. Wie sie die Be¬ fugnis und die Pflicht hatten, die Lebensführung ihrer Ordensbrüder zu kon¬ trollieren, so durften sie auch dem regierende!? Fürsten mit Vorwurf und Tadeb entgegentreten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/29>, abgerufen am 24.11.2024.