Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Auf Grund dieser exakten Befunde, die außerordentlich schnell aufgenommen Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, da erhob sich der Greis und rief Maßgebliches und Unmaßgebliches Auf Grund dieser exakten Befunde, die außerordentlich schnell aufgenommen Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, da erhob sich der Greis und rief <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0247" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239803"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1265"> Auf Grund dieser exakten Befunde, die außerordentlich schnell aufgenommen<lb/> wurden, erfolgte die Klassenabsondernng für die weitere Ausbildung, Die Kraft¬<lb/> menschen, die Kopfarbeiter, die Entdecker und Erfinder der Zukunft d:e Hand¬<lb/> arbeiter, die Ackerbauer wurden auf Grund untrüglicher biologischer Auslese besondern<lb/> Abteilungen für die weitere Behandlung überwiesen. Dabei fiel nur auf daß es<lb/> besondre Frende erregte, wenn eine der Meßantoritäten ausrief: Hier em Sechs-<lb/> sinniger, Ein Wesen mit sechs Sinnen? Wie sah das ">.s? Em zartes Geschöpf<lb/> wird von seiner Mutter mit freudestrahlendem stolzem Gesicht der kleinen Schar,<lb/> die für das Übermenschentnm auserlesen waren, zugeführt. Da standen sie — stywacy-<lb/> Uche. zarte Glieder -. ob die Beine wohl den Körper tragen können? Der<lb/> Kopf, fast wie ein umgestülptes Dreieck uach oben sich weidend. Mund, Nase ver¬<lb/> kümmert, aber die Ohren zu großen Muscheln gedehnt, die staubig vibrierten.<lb/> Alles beherrschte der Schädel, der wie ein übergroßer Dachgiebel das zMMmen-<lb/> gedrückte Gesichtchen überragte. Mund, Nase fielen mir besonders auf. Kann der<lb/> Mund noch mit Behagen kauen? Kann diese verengte Nase noch riechen-- ^se<lb/> auch nicht nötig, hörte ich von der Seite. Da stand wieder der Greis. Der muß<lb/> meine Gedanken gelesen haben. Siehst du nicht ein, sagte er lebhaft, daß kein<lb/> Fortschritt ohne Einbuße bleibt? Gewiß, der Geschmackssinn und der Geruchssinn<lb/> sind bei den Sechssinnigen fast erstorben — diese überlassen sie den Geschöpfen<lb/> niedrer Ordnung. Dafür aber sind sie Telepatheu. Was die Antipoden tun, das<lb/> wissen sie. ohne es zu fehen. Den Witterungswechsel auf dem Mars können sie<lb/> mit innerer Wahrnehmung verfolgen. Was dn jetzt denkst, was irgendwo auf<lb/> dem Erdenrund erlebt, gedacht, erstrebt wird, das vermögen sie mit dem sechsten<lb/> Sinn zu erfassen. Der sechste Sinu — das ist das glänzendste Zeugnis für die<lb/> Allgewalt der rationellen Meuscheuzüchtuug. Und dann das Gehör. Ihr unendlich<lb/> verfeinertes Gehör vernimmt auch die Wundertöne der Sphärenmusik. — Und sie<lb/> schmecken nichts, und sie riechen nichts! Das siud ja die reinen Kunstprodukte, die<lb/> armen Würmer!</p><lb/> <p xml:id="ID_1266"> Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, da erhob sich der Greis und rief<lb/> mit drohender Stimme: Halt, wer bist du eigentlich? Du redest wie eiuer, der<lb/> dem rückständigen anthropologischen Proletnriertum angehört, und doch scheinst du<lb/> etwas andres. Wie hast du dich hierher verirrt? Ich fühlte mich plötzlich fort¬<lb/> gerissen in einen dunkeln Raum. Das Hiruscioptikum her, rief der Greis. Grä߬<lb/> lich, ich wurde deu Strahlen des Hirndurchleuchtungsnpparats ausgesetzt und erblickte<lb/> das Innere meines Schädels auf der Wandfläche. alle Windungen, alle die dnrch-<lb/> wirrten unübersehbar verschlungnen Nervenknäuel — alles riesengroß, das kleine<lb/> Hirn sich wie eine hundertjährige Eiche ausbreitend, die Nervenfäden wie Ankertaue,<lb/> die Windungen des großen Hirns wie Gebirgstäler. Und was ist das? Überall<lb/> drängen sich Bilder hinein in das Nervengeflecht und massige Aufhäufungen von<lb/> Bildern, die sich an einzelnen Stellen abgelagert haben wie geologische Schichten — alle<lb/> Bilder unendlich klein und doch unheimlich deutlich, eins neben dem andern oder<lb/> mit dem andern verwachsen, alles in zuckender, stoßender, sich kreiselnder und<lb/> kreuzender Bewegung. Wahrhaftig, alles, was ich erlebt habe und gedacht und<lb/> gefühlt, meine Dummheiten und meine Kraftleistungen, meine Ideale und meine<lb/> Heimlichkeiten — alles, alles wimmelt und kribbelt vor aller Angen auf der<lb/> Wandfläche. Ein schrilles ssohngelnchter schlägt mir ans Ohr. Seht, das ist ja<lb/> ein Kabinettsstück von atavistischem Illusionismus. Der Mensch gehört in die Ent-<lb/> wilderungsabteiluug. sonst stört er mit seinen Illusionen von sittlicher Freiheit und<lb/> von Menschenrechten und Idealen unsre Ordnung. Mich ergreift eme unbeschreib¬<lb/> liche Angst. Von allen Seiten drängen leuchtende Großschädel ans mich ein, deren<lb/> Augen herausquellen wie die Augen der Teleskopfische. Ich schreie mit aller Kraft<lb/> "uf und schlage mit den Armen um mich--— da fühlte ich eine weiche Hand<lb/> auf meiner Stirn. Ich sprang auf. riß die Augen auf. rieb mir die Stirn. Vor<lb/> wir stand meine Frau und sah mich besorgt an: Was hast du, was qiM dich? —<lb/> G<note type="byline"> H></note> ottlob, ich hatte nur geträumt! </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0247]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Auf Grund dieser exakten Befunde, die außerordentlich schnell aufgenommen
wurden, erfolgte die Klassenabsondernng für die weitere Ausbildung, Die Kraft¬
menschen, die Kopfarbeiter, die Entdecker und Erfinder der Zukunft d:e Hand¬
arbeiter, die Ackerbauer wurden auf Grund untrüglicher biologischer Auslese besondern
Abteilungen für die weitere Behandlung überwiesen. Dabei fiel nur auf daß es
besondre Frende erregte, wenn eine der Meßantoritäten ausrief: Hier em Sechs-
sinniger, Ein Wesen mit sechs Sinnen? Wie sah das ">.s? Em zartes Geschöpf
wird von seiner Mutter mit freudestrahlendem stolzem Gesicht der kleinen Schar,
die für das Übermenschentnm auserlesen waren, zugeführt. Da standen sie — stywacy-
Uche. zarte Glieder -. ob die Beine wohl den Körper tragen können? Der
Kopf, fast wie ein umgestülptes Dreieck uach oben sich weidend. Mund, Nase ver¬
kümmert, aber die Ohren zu großen Muscheln gedehnt, die staubig vibrierten.
Alles beherrschte der Schädel, der wie ein übergroßer Dachgiebel das zMMmen-
gedrückte Gesichtchen überragte. Mund, Nase fielen mir besonders auf. Kann der
Mund noch mit Behagen kauen? Kann diese verengte Nase noch riechen-- ^se
auch nicht nötig, hörte ich von der Seite. Da stand wieder der Greis. Der muß
meine Gedanken gelesen haben. Siehst du nicht ein, sagte er lebhaft, daß kein
Fortschritt ohne Einbuße bleibt? Gewiß, der Geschmackssinn und der Geruchssinn
sind bei den Sechssinnigen fast erstorben — diese überlassen sie den Geschöpfen
niedrer Ordnung. Dafür aber sind sie Telepatheu. Was die Antipoden tun, das
wissen sie. ohne es zu fehen. Den Witterungswechsel auf dem Mars können sie
mit innerer Wahrnehmung verfolgen. Was dn jetzt denkst, was irgendwo auf
dem Erdenrund erlebt, gedacht, erstrebt wird, das vermögen sie mit dem sechsten
Sinn zu erfassen. Der sechste Sinu — das ist das glänzendste Zeugnis für die
Allgewalt der rationellen Meuscheuzüchtuug. Und dann das Gehör. Ihr unendlich
verfeinertes Gehör vernimmt auch die Wundertöne der Sphärenmusik. — Und sie
schmecken nichts, und sie riechen nichts! Das siud ja die reinen Kunstprodukte, die
armen Würmer!
Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, da erhob sich der Greis und rief
mit drohender Stimme: Halt, wer bist du eigentlich? Du redest wie eiuer, der
dem rückständigen anthropologischen Proletnriertum angehört, und doch scheinst du
etwas andres. Wie hast du dich hierher verirrt? Ich fühlte mich plötzlich fort¬
gerissen in einen dunkeln Raum. Das Hiruscioptikum her, rief der Greis. Grä߬
lich, ich wurde deu Strahlen des Hirndurchleuchtungsnpparats ausgesetzt und erblickte
das Innere meines Schädels auf der Wandfläche. alle Windungen, alle die dnrch-
wirrten unübersehbar verschlungnen Nervenknäuel — alles riesengroß, das kleine
Hirn sich wie eine hundertjährige Eiche ausbreitend, die Nervenfäden wie Ankertaue,
die Windungen des großen Hirns wie Gebirgstäler. Und was ist das? Überall
drängen sich Bilder hinein in das Nervengeflecht und massige Aufhäufungen von
Bildern, die sich an einzelnen Stellen abgelagert haben wie geologische Schichten — alle
Bilder unendlich klein und doch unheimlich deutlich, eins neben dem andern oder
mit dem andern verwachsen, alles in zuckender, stoßender, sich kreiselnder und
kreuzender Bewegung. Wahrhaftig, alles, was ich erlebt habe und gedacht und
gefühlt, meine Dummheiten und meine Kraftleistungen, meine Ideale und meine
Heimlichkeiten — alles, alles wimmelt und kribbelt vor aller Angen auf der
Wandfläche. Ein schrilles ssohngelnchter schlägt mir ans Ohr. Seht, das ist ja
ein Kabinettsstück von atavistischem Illusionismus. Der Mensch gehört in die Ent-
wilderungsabteiluug. sonst stört er mit seinen Illusionen von sittlicher Freiheit und
von Menschenrechten und Idealen unsre Ordnung. Mich ergreift eme unbeschreib¬
liche Angst. Von allen Seiten drängen leuchtende Großschädel ans mich ein, deren
Augen herausquellen wie die Augen der Teleskopfische. Ich schreie mit aller Kraft
"uf und schlage mit den Armen um mich--— da fühlte ich eine weiche Hand
auf meiner Stirn. Ich sprang auf. riß die Augen auf. rieb mir die Stirn. Vor
wir stand meine Frau und sah mich besorgt an: Was hast du, was qiM dich? —
G H> ottlob, ich hatte nur geträumt!
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