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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die innere Lage

selbstverständlich anerkennen, daß die Vertreter der Regierung bei den Ver¬
handlungen über den Zolltarif die praktisch vielleicht am schwersten wiegenden,
in dem besondern Gebiet der Diplomatie liegenden Gründe nicht der parla¬
mentarischen Diskussion preisgaben und auch hinter den Kulissen nur mit
aller Reserve einige Kartei, aufdeckten. Die Geschichte früherer Handelsver¬
tragskampagnen lehrt, wie leicht mau geneigt ist, wirkliche und vermeintliche
üble Folgen von Verträgen ans vorzeitige Offenherzigkeit der Regierungen und
ihrer Unterhändler zurückzuführen, und doch scheint man nicht zu bedenken,
daß die Offenherzigkeit gegen das eigne Parlament genau derselbe Fehler ist
wie die Offenherzigkeit gegen das Ausland. Was für einen Tarif die Re¬
gierung für die Durchführung des jetzt gewiß schon eröffneten Kampfes um
eine möglichst günstige Position des Deutschen Reichs in der neuen internatio¬
nalen Handclsvertragspolitik haben muß, das konnte sie nur selbst beurteilen
und entscheiden.

So mußte der Regierung im parlamentarischen Kampf um den Zoll¬
tarif ein ziemlich weitgehendes Benesizium des Besserwissens und des Geheim-
haltens nach der Natur der Sache eingeräumt werden. In gewissem Sinne
gilt das vielleicht auch für den Schlußakt dieses Kampfes, für die in der
parlamentarischen Geschichte des Deutschen Reichs immerhin einzig dastehende
Abkürzung der zweiten Beratung im Plenum des Reichstags. Die Regierung
hat mit Recht jede Verantwortung für die Art, wie der Reichstag seine
Geschäftsordnung auslegt und handhabt, abgelehnt. Daß das "Bedenkliche"
im Antrag Kardorff -- um mit dem Grafen Ballestrem zu reden -- nicht
vermieden worden ist, wenn es vermieden werden konnte, ist jedenfalls nicht
ihre Sache. Wenn die Mehrheit nicht früher zur "Verständigung" zu bringen
war, und wenn sie die Verständigung endlich nnr in einer "bedenklichen" Form
zustande kommen lassen wollte, so mußte die Negierung natürlich die Sache
über diese von ihr gar nicht abhängende Form setzen und die unerwünschten
Nebenwirkungen in den Kauf nehmen. Sie brauchte die schleunige Verab¬
schiedung des Tarifs, und wo doch offenbar der energische Beginn der diplo¬
matischen Aktion auf die Nägel brennt, hat kein Mensch das Recht, ihr zu
bestreiten, daß sie ihn brauchte, um das Reich vor schwerem Schaden zu
bewahren. Das in Grund und Boden verfahrne Parteiwesen im Reichstag,
das unstaatsmännische, pflichtwidrige Verhalten der Parteien rechts und links
seit Jahr und Tag -- sogar als die Obstruktion der Sozialdemokratin und
ihrer Gehilfen schon angekündigt war und begonnen hatte -- mußte für das
Reich eine ernste, wirkliche Notlage heraufbeschwören. Die Vernunft ist den
Herren erst sehr spät gekommen, erst dann, als nur noch ein Notweg zur
Rettung offen stand. Erst das Verhalten der Obstruttionisten hat ihnen den will¬
kommenen Vorwand geboten, schließlich aus der Not eine Tugend zu machen.

Wir haben von dem bösen Willen der Sozialdemokratie immer das Schlimmste
erwartet, und die Mchrhcitsparteien hatten schon längst keinen Grund, etwas
andres zu erwarten. Sie wußten, was kommen würde, und sie schienen zum
Teil auch damit zu rechnen. Wenn sie jetzt von ihrer Notwehr gegen die
Obstruktion reden und schreiben, so sollten sie hinzusetzen, daß sie selbst sich


Die innere Lage

selbstverständlich anerkennen, daß die Vertreter der Regierung bei den Ver¬
handlungen über den Zolltarif die praktisch vielleicht am schwersten wiegenden,
in dem besondern Gebiet der Diplomatie liegenden Gründe nicht der parla¬
mentarischen Diskussion preisgaben und auch hinter den Kulissen nur mit
aller Reserve einige Kartei, aufdeckten. Die Geschichte früherer Handelsver¬
tragskampagnen lehrt, wie leicht mau geneigt ist, wirkliche und vermeintliche
üble Folgen von Verträgen ans vorzeitige Offenherzigkeit der Regierungen und
ihrer Unterhändler zurückzuführen, und doch scheint man nicht zu bedenken,
daß die Offenherzigkeit gegen das eigne Parlament genau derselbe Fehler ist
wie die Offenherzigkeit gegen das Ausland. Was für einen Tarif die Re¬
gierung für die Durchführung des jetzt gewiß schon eröffneten Kampfes um
eine möglichst günstige Position des Deutschen Reichs in der neuen internatio¬
nalen Handclsvertragspolitik haben muß, das konnte sie nur selbst beurteilen
und entscheiden.

So mußte der Regierung im parlamentarischen Kampf um den Zoll¬
tarif ein ziemlich weitgehendes Benesizium des Besserwissens und des Geheim-
haltens nach der Natur der Sache eingeräumt werden. In gewissem Sinne
gilt das vielleicht auch für den Schlußakt dieses Kampfes, für die in der
parlamentarischen Geschichte des Deutschen Reichs immerhin einzig dastehende
Abkürzung der zweiten Beratung im Plenum des Reichstags. Die Regierung
hat mit Recht jede Verantwortung für die Art, wie der Reichstag seine
Geschäftsordnung auslegt und handhabt, abgelehnt. Daß das „Bedenkliche"
im Antrag Kardorff — um mit dem Grafen Ballestrem zu reden — nicht
vermieden worden ist, wenn es vermieden werden konnte, ist jedenfalls nicht
ihre Sache. Wenn die Mehrheit nicht früher zur „Verständigung" zu bringen
war, und wenn sie die Verständigung endlich nnr in einer „bedenklichen" Form
zustande kommen lassen wollte, so mußte die Negierung natürlich die Sache
über diese von ihr gar nicht abhängende Form setzen und die unerwünschten
Nebenwirkungen in den Kauf nehmen. Sie brauchte die schleunige Verab¬
schiedung des Tarifs, und wo doch offenbar der energische Beginn der diplo¬
matischen Aktion auf die Nägel brennt, hat kein Mensch das Recht, ihr zu
bestreiten, daß sie ihn brauchte, um das Reich vor schwerem Schaden zu
bewahren. Das in Grund und Boden verfahrne Parteiwesen im Reichstag,
das unstaatsmännische, pflichtwidrige Verhalten der Parteien rechts und links
seit Jahr und Tag — sogar als die Obstruktion der Sozialdemokratin und
ihrer Gehilfen schon angekündigt war und begonnen hatte — mußte für das
Reich eine ernste, wirkliche Notlage heraufbeschwören. Die Vernunft ist den
Herren erst sehr spät gekommen, erst dann, als nur noch ein Notweg zur
Rettung offen stand. Erst das Verhalten der Obstruttionisten hat ihnen den will¬
kommenen Vorwand geboten, schließlich aus der Not eine Tugend zu machen.

Wir haben von dem bösen Willen der Sozialdemokratie immer das Schlimmste
erwartet, und die Mchrhcitsparteien hatten schon längst keinen Grund, etwas
andres zu erwarten. Sie wußten, was kommen würde, und sie schienen zum
Teil auch damit zu rechnen. Wenn sie jetzt von ihrer Notwehr gegen die
Obstruktion reden und schreiben, so sollten sie hinzusetzen, daß sie selbst sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/18>, abgerufen am 01.09.2024.