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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Herbstbilder von der Roter und pnlsnitz

Jahrhunderte ein weit verbreitetes Maß: noch im Jahre 1615 wurde neben
dem riesenhaften Roland am Rathaus in Belgern ein steinerner "halber
Haynischer Scheffel" als Normalmaß angebracht. Die Überführung der Stadt
aus der Grnndherrschaft der Bischöfe von Naumburg in seine eigne betrieb
besonders Markgraf Heinrich der Erlauchte, der 1238 dem Naumburger Bischof
gegenüber auf sein Recht, die Anlage von Befestigungen innerhalb der Mark
Meißen zu verbieten, verzichtet, dafür aber außer Ortrand, Strehlen. Dudler usw.
auch die jenseit der Elbe liegende Stadt, die Jndago Hain) genannt wird,
mit ihren Gerichten und ihrem Zubehör (vnru suis iuclioüs ok xertwöntiis)
zu Lehen erhält. Verhältnismüßig spät, nämlich 1390, bekommt die Stadt
ihren ersten, vier Tage dauernden Jahrmarkt, dazu aber 1474 eiuen zweiten,
1498 das Privilegium des Waidhandels. 1501 zwei Wollmürktc. Gewerbliche
Tätigkeit kam hinzu, vor allem die aus Niederdeutschland eingeführte Tuch-
macherei. Die Hainer Tuchmacher und Tuchscherer waren eine stolze Zunft:
ein Altknecht der Tuchkuappeu, Dietz Grünrad, sollte 1292 den Markgrafen
Dietzmann durch seine Tapferkeit errettet haben und Stammvater der Familie
von Grünrode geworden sein; die Tuchscherer aber behauptete" gar, daß kein
Geringerer als Friedrich Barbarossa 1157 ihre Innung bestätigt habe.

Aber noch viel wichtiger als das Gewerbe war für die Größe und die
Wohlhabenheit der Stadt doch der tägliche Handelsverkehr, den die hohe Straße
hineinführte. Wir können uns im Zeitalter der Eisenbahnen und der Dampf¬
schiffahrt, der großstädtischen Zentralisation und der Warenhäuser nicht leicht
ein Bild von dein schwerfälligen und doch so vielgestaltigen Handelsverkehr
des Mittelalters machen, und noch viel weniger will es uns in den Sinn,
daß auch eine entlegne Kleinstadt dabei große Bedeutung erlangt haben soll.
Und doch ist dies bei Großcnhain der Fall: Ritter und Grafen, Fürsten
und verzöge, Kaiser und Könige sind in Bewegung gesetzt worden, um dre
Privilegien "der Stadt zum Haym über Elbe" zu schützen und zu mehren, und
im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert begegnen sich hier die duftigen
Weine des Rheins mit dem süßen Malvasier von Cypern, die Heringstonne"
und Stockfische der baltischen Gewässer mit dem Olivenöl, den Feigen, Mandeln
und Rosinen der Mittelmeerrüsten, der indische Pfeffer und Ingwer mit dem
Hallischen Salz, die Seide Italiens mit den Zobel- und Nerzfellen des innern
Rußlands, der litauische Honig mit dein böhmischen Dörrobst, das niederlän¬
dische Tuch mit der süddeutsche" oder Mailüuder Prachtrüstuug, die polnische
Ochsenhaut mit dem ungarischen Leder -- in langen Wagenzügen, neben denen
die ewig schimpfenden Fuhrleute im Kote einherstapfen und die trunlfesten kur¬
fürstlichen Geleitsknechte einherreiten, wird dies alles bei sinkender Sonne zum
Dresdner Tor hereingebracht und während der Nacht auf dem Markte in förm¬
lichen Wagenbnrgen aufgefahren, von wo es bald nach Sonnenaufgang durch
das Naundorfer Tor entschwindet.

Was für ein Treiben muß damals in den Schenken und den Gasthöfen der
Stadt geherrscht haben, von. denen einige, wie die "Goldne Kugel," wohl noch
den alten Platz, aber nicht mehr den alten Verkehr behaupten, welches bunte
Durcheinander um den Toren, wo die alten Gelcitszeichen geprüft, und für schweres


Herbstbilder von der Roter und pnlsnitz

Jahrhunderte ein weit verbreitetes Maß: noch im Jahre 1615 wurde neben
dem riesenhaften Roland am Rathaus in Belgern ein steinerner „halber
Haynischer Scheffel" als Normalmaß angebracht. Die Überführung der Stadt
aus der Grnndherrschaft der Bischöfe von Naumburg in seine eigne betrieb
besonders Markgraf Heinrich der Erlauchte, der 1238 dem Naumburger Bischof
gegenüber auf sein Recht, die Anlage von Befestigungen innerhalb der Mark
Meißen zu verbieten, verzichtet, dafür aber außer Ortrand, Strehlen. Dudler usw.
auch die jenseit der Elbe liegende Stadt, die Jndago Hain) genannt wird,
mit ihren Gerichten und ihrem Zubehör (vnru suis iuclioüs ok xertwöntiis)
zu Lehen erhält. Verhältnismüßig spät, nämlich 1390, bekommt die Stadt
ihren ersten, vier Tage dauernden Jahrmarkt, dazu aber 1474 eiuen zweiten,
1498 das Privilegium des Waidhandels. 1501 zwei Wollmürktc. Gewerbliche
Tätigkeit kam hinzu, vor allem die aus Niederdeutschland eingeführte Tuch-
macherei. Die Hainer Tuchmacher und Tuchscherer waren eine stolze Zunft:
ein Altknecht der Tuchkuappeu, Dietz Grünrad, sollte 1292 den Markgrafen
Dietzmann durch seine Tapferkeit errettet haben und Stammvater der Familie
von Grünrode geworden sein; die Tuchscherer aber behauptete« gar, daß kein
Geringerer als Friedrich Barbarossa 1157 ihre Innung bestätigt habe.

Aber noch viel wichtiger als das Gewerbe war für die Größe und die
Wohlhabenheit der Stadt doch der tägliche Handelsverkehr, den die hohe Straße
hineinführte. Wir können uns im Zeitalter der Eisenbahnen und der Dampf¬
schiffahrt, der großstädtischen Zentralisation und der Warenhäuser nicht leicht
ein Bild von dein schwerfälligen und doch so vielgestaltigen Handelsverkehr
des Mittelalters machen, und noch viel weniger will es uns in den Sinn,
daß auch eine entlegne Kleinstadt dabei große Bedeutung erlangt haben soll.
Und doch ist dies bei Großcnhain der Fall: Ritter und Grafen, Fürsten
und verzöge, Kaiser und Könige sind in Bewegung gesetzt worden, um dre
Privilegien „der Stadt zum Haym über Elbe" zu schützen und zu mehren, und
im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert begegnen sich hier die duftigen
Weine des Rheins mit dem süßen Malvasier von Cypern, die Heringstonne»
und Stockfische der baltischen Gewässer mit dem Olivenöl, den Feigen, Mandeln
und Rosinen der Mittelmeerrüsten, der indische Pfeffer und Ingwer mit dem
Hallischen Salz, die Seide Italiens mit den Zobel- und Nerzfellen des innern
Rußlands, der litauische Honig mit dein böhmischen Dörrobst, das niederlän¬
dische Tuch mit der süddeutsche« oder Mailüuder Prachtrüstuug, die polnische
Ochsenhaut mit dem ungarischen Leder — in langen Wagenzügen, neben denen
die ewig schimpfenden Fuhrleute im Kote einherstapfen und die trunlfesten kur¬
fürstlichen Geleitsknechte einherreiten, wird dies alles bei sinkender Sonne zum
Dresdner Tor hereingebracht und während der Nacht auf dem Markte in förm¬
lichen Wagenbnrgen aufgefahren, von wo es bald nach Sonnenaufgang durch
das Naundorfer Tor entschwindet.

Was für ein Treiben muß damals in den Schenken und den Gasthöfen der
Stadt geherrscht haben, von. denen einige, wie die „Goldne Kugel," wohl noch
den alten Platz, aber nicht mehr den alten Verkehr behaupten, welches bunte
Durcheinander um den Toren, wo die alten Gelcitszeichen geprüft, und für schweres


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/161>, abgerufen am 24.11.2024.