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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Horbstbilder von der Roter und Pulsintz

mäßige Zustand des Grenzganes zwischen Roter und Elbe -- unaufhörlich
brechen die Nciterscharen Boleslaw Chrobrhs auf der hohen und der niedern
Straße von Schlesien her aus den düstern Grenzwüldern hervor, unaufhörlich
unternehmen auf denselben Pfaden in umgekehrter Richtung die Deutschen den
Nachezug. Nur eine kurze Rast bedeutet für dieses Gelände die kraftvolle Re¬
gierung Kaiser Heinrichs des Dritten. Unter seinem unglücklichen Sohne Heinrich
dem Vierten wird es in die unaufhörlichen Wirren und Kämpfe des deutscheu
Thronstreites hineingerissen. Vergebens versuchen die Bischöfe vou Naumburg,
denen der Kaiser große Strecken Landes zwischen Elbe und Pulsnitz verliehen
hat, diese Gegenden unter der Herrschaft des Krummstabes zu befriede", ver¬
gebens versucht der kühne Wradislaw von Böhmen, dem Heinrich der Vierte
die Mark Meißen versprochen und wohl auch zeitweise übergeben hat, sie
dauernder seinem großen Besitz anzugliedern -- ein halbes Jahrhundert lang
wird sie der Zankapfel zwischen den großen ostsüchsischen Dhnastengeschlechtcrn
der Bruuoncn, Wettiner, Wnlfinger (Groitzsch): kühne und verschlagne Recken
wie Eckbert der Zweite von Meißen und Wiprecht von Groitzsch und hünen¬
hafte Frauen wie die dämonische Adela von Löwen und die mutige Gertrud
von Eilenburg gehn hier, an die Helden und Heldinnen des Nibelungenlieds
gemahnend, Großes aber auch viel Böses wirkend, über die Bühne der Ge¬
schichte, bis endlich die Verleihung der Meißner Mark an den Wettiner Konrad
den Großen (1123) eine ruhigere und glücklichere Zeit herausführt. Erst uuter
seiner kräftig ausgreifenden Herrschaft beginnt auch auf dem rechten Elbufer
das große Werk der deutschen Kolonisation, das westlich vom Strome schon
ein Menschenalter früher anhebt.

Rasch blüht nun neben dein Bischofsitz und der Markgrafenstadt Meißen
das rechtselbische Hain empor. Der Verkehr mit den östlichen Landschaften
wird friedlicher und reger; um ihn zu sichern und zu überwachen, wird er
durch den wohlbefestigten Ort hindurchgelenkt. Bald ziehn aber nicht nur
Kaufleute und Reisige auf der "hohen Straße" dahin, sondern auch schwer¬
fällige, mit starken Rindern bespannte Bauernwagen: Frauen und Kinder sitzen
darauf, zwischen ihnen türmt sich das nötigste Hausgerüt aus Ton, Kupfer
und Zinn, ein Ballen grober Leinwand und wollenen Gespinstes, ewige Säcke
voll Mehl und Saatgetreide. Neben dein Wagen aber schreitet gedankenvoll,
doch getrost wuchtigen Schrittes der Gatte und Vater, ein schwarzköpfiger Baher
oder ein rothaariger Franke, ein ernster Friese oder ein munterer Thüring,
verschieden an Tracht und Sitte, je nach der Heimat, aber alle gleichermaßen
bereit, die schwielige Faust um den gewaltigen Pflug zu legen wie an des
Schwertes Krams. So ziehn sie dahin im sichern Gefühl kommenden Ge¬
deihens, die wertvolle Aussaat für ein neues, größeres Deutschland, das östlich
vom Elbstrom erwachsen soll. Wir werden uoch weiter von ihnen hören.
Doch zunächst kehren wir zurück nach Hain.

Die Stadt muß sich durch die günstigen Verhältnisse ihrer Lage schnell
zu einem bedeutenden Markt entwickelt haben; denn schon 1205 bei der Grün¬
dung des Afratlosters in Meißen werden die Getreidezinsen des Dorfes Diera
nach dem Hainer Scheffel iMmensis mon8urg.<z) bemessen. Dieser blieb auf


Horbstbilder von der Roter und Pulsintz

mäßige Zustand des Grenzganes zwischen Roter und Elbe — unaufhörlich
brechen die Nciterscharen Boleslaw Chrobrhs auf der hohen und der niedern
Straße von Schlesien her aus den düstern Grenzwüldern hervor, unaufhörlich
unternehmen auf denselben Pfaden in umgekehrter Richtung die Deutschen den
Nachezug. Nur eine kurze Rast bedeutet für dieses Gelände die kraftvolle Re¬
gierung Kaiser Heinrichs des Dritten. Unter seinem unglücklichen Sohne Heinrich
dem Vierten wird es in die unaufhörlichen Wirren und Kämpfe des deutscheu
Thronstreites hineingerissen. Vergebens versuchen die Bischöfe vou Naumburg,
denen der Kaiser große Strecken Landes zwischen Elbe und Pulsnitz verliehen
hat, diese Gegenden unter der Herrschaft des Krummstabes zu befriede», ver¬
gebens versucht der kühne Wradislaw von Böhmen, dem Heinrich der Vierte
die Mark Meißen versprochen und wohl auch zeitweise übergeben hat, sie
dauernder seinem großen Besitz anzugliedern — ein halbes Jahrhundert lang
wird sie der Zankapfel zwischen den großen ostsüchsischen Dhnastengeschlechtcrn
der Bruuoncn, Wettiner, Wnlfinger (Groitzsch): kühne und verschlagne Recken
wie Eckbert der Zweite von Meißen und Wiprecht von Groitzsch und hünen¬
hafte Frauen wie die dämonische Adela von Löwen und die mutige Gertrud
von Eilenburg gehn hier, an die Helden und Heldinnen des Nibelungenlieds
gemahnend, Großes aber auch viel Böses wirkend, über die Bühne der Ge¬
schichte, bis endlich die Verleihung der Meißner Mark an den Wettiner Konrad
den Großen (1123) eine ruhigere und glücklichere Zeit herausführt. Erst uuter
seiner kräftig ausgreifenden Herrschaft beginnt auch auf dem rechten Elbufer
das große Werk der deutschen Kolonisation, das westlich vom Strome schon
ein Menschenalter früher anhebt.

Rasch blüht nun neben dein Bischofsitz und der Markgrafenstadt Meißen
das rechtselbische Hain empor. Der Verkehr mit den östlichen Landschaften
wird friedlicher und reger; um ihn zu sichern und zu überwachen, wird er
durch den wohlbefestigten Ort hindurchgelenkt. Bald ziehn aber nicht nur
Kaufleute und Reisige auf der „hohen Straße" dahin, sondern auch schwer¬
fällige, mit starken Rindern bespannte Bauernwagen: Frauen und Kinder sitzen
darauf, zwischen ihnen türmt sich das nötigste Hausgerüt aus Ton, Kupfer
und Zinn, ein Ballen grober Leinwand und wollenen Gespinstes, ewige Säcke
voll Mehl und Saatgetreide. Neben dein Wagen aber schreitet gedankenvoll,
doch getrost wuchtigen Schrittes der Gatte und Vater, ein schwarzköpfiger Baher
oder ein rothaariger Franke, ein ernster Friese oder ein munterer Thüring,
verschieden an Tracht und Sitte, je nach der Heimat, aber alle gleichermaßen
bereit, die schwielige Faust um den gewaltigen Pflug zu legen wie an des
Schwertes Krams. So ziehn sie dahin im sichern Gefühl kommenden Ge¬
deihens, die wertvolle Aussaat für ein neues, größeres Deutschland, das östlich
vom Elbstrom erwachsen soll. Wir werden uoch weiter von ihnen hören.
Doch zunächst kehren wir zurück nach Hain.

Die Stadt muß sich durch die günstigen Verhältnisse ihrer Lage schnell
zu einem bedeutenden Markt entwickelt haben; denn schon 1205 bei der Grün¬
dung des Afratlosters in Meißen werden die Getreidezinsen des Dorfes Diera
nach dem Hainer Scheffel iMmensis mon8urg.<z) bemessen. Dieser blieb auf


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[0160] Horbstbilder von der Roter und Pulsintz mäßige Zustand des Grenzganes zwischen Roter und Elbe — unaufhörlich brechen die Nciterscharen Boleslaw Chrobrhs auf der hohen und der niedern Straße von Schlesien her aus den düstern Grenzwüldern hervor, unaufhörlich unternehmen auf denselben Pfaden in umgekehrter Richtung die Deutschen den Nachezug. Nur eine kurze Rast bedeutet für dieses Gelände die kraftvolle Re¬ gierung Kaiser Heinrichs des Dritten. Unter seinem unglücklichen Sohne Heinrich dem Vierten wird es in die unaufhörlichen Wirren und Kämpfe des deutscheu Thronstreites hineingerissen. Vergebens versuchen die Bischöfe vou Naumburg, denen der Kaiser große Strecken Landes zwischen Elbe und Pulsnitz verliehen hat, diese Gegenden unter der Herrschaft des Krummstabes zu befriede», ver¬ gebens versucht der kühne Wradislaw von Böhmen, dem Heinrich der Vierte die Mark Meißen versprochen und wohl auch zeitweise übergeben hat, sie dauernder seinem großen Besitz anzugliedern — ein halbes Jahrhundert lang wird sie der Zankapfel zwischen den großen ostsüchsischen Dhnastengeschlechtcrn der Bruuoncn, Wettiner, Wnlfinger (Groitzsch): kühne und verschlagne Recken wie Eckbert der Zweite von Meißen und Wiprecht von Groitzsch und hünen¬ hafte Frauen wie die dämonische Adela von Löwen und die mutige Gertrud von Eilenburg gehn hier, an die Helden und Heldinnen des Nibelungenlieds gemahnend, Großes aber auch viel Böses wirkend, über die Bühne der Ge¬ schichte, bis endlich die Verleihung der Meißner Mark an den Wettiner Konrad den Großen (1123) eine ruhigere und glücklichere Zeit herausführt. Erst uuter seiner kräftig ausgreifenden Herrschaft beginnt auch auf dem rechten Elbufer das große Werk der deutschen Kolonisation, das westlich vom Strome schon ein Menschenalter früher anhebt. Rasch blüht nun neben dein Bischofsitz und der Markgrafenstadt Meißen das rechtselbische Hain empor. Der Verkehr mit den östlichen Landschaften wird friedlicher und reger; um ihn zu sichern und zu überwachen, wird er durch den wohlbefestigten Ort hindurchgelenkt. Bald ziehn aber nicht nur Kaufleute und Reisige auf der „hohen Straße" dahin, sondern auch schwer¬ fällige, mit starken Rindern bespannte Bauernwagen: Frauen und Kinder sitzen darauf, zwischen ihnen türmt sich das nötigste Hausgerüt aus Ton, Kupfer und Zinn, ein Ballen grober Leinwand und wollenen Gespinstes, ewige Säcke voll Mehl und Saatgetreide. Neben dein Wagen aber schreitet gedankenvoll, doch getrost wuchtigen Schrittes der Gatte und Vater, ein schwarzköpfiger Baher oder ein rothaariger Franke, ein ernster Friese oder ein munterer Thüring, verschieden an Tracht und Sitte, je nach der Heimat, aber alle gleichermaßen bereit, die schwielige Faust um den gewaltigen Pflug zu legen wie an des Schwertes Krams. So ziehn sie dahin im sichern Gefühl kommenden Ge¬ deihens, die wertvolle Aussaat für ein neues, größeres Deutschland, das östlich vom Elbstrom erwachsen soll. Wir werden uoch weiter von ihnen hören. Doch zunächst kehren wir zurück nach Hain. Die Stadt muß sich durch die günstigen Verhältnisse ihrer Lage schnell zu einem bedeutenden Markt entwickelt haben; denn schon 1205 bei der Grün¬ dung des Afratlosters in Meißen werden die Getreidezinsen des Dorfes Diera nach dem Hainer Scheffel iMmensis mon8urg.<z) bemessen. Dieser blieb auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/160>, abgerufen am 24.11.2024.