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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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wurde von etwa dreißig schwarzzopfigen, bunt uniformierten Chinesen verteidigt,
gegen die etwa ebensoviel deutsches Fußvolk in Tropenuniform stürmend vor¬
ging. Ein kurzes Handgemenge, ein Krachen wie von einstürzenden Pfosten,
dann drängten sich die Deutschen durch die eingedrückten Torflügel ins Innere
des abgegrenzten Raumes hinein und machten die Chinesen zu Kriegsgefangnen.
Man sah die Befehlshaber der Deutschen, uuter thuen einen stattlichen Manu
mit schwarzem Schnurrbart, der schon vorher durch seine Reitkünste unsre Auf¬
merksamkeit erregt hatte, in ein Zelt treten; sie kamen wieder heraus, es wurde
einen Augenblick still im Getümmel, ein Todesurteil wurde verkündet -- und
ein Chinese schwebte am Strick des Henkers am eilig errichteten Galgen empor.
Aber diese Prozedur genügte offenbar nicht, die Wut der Sieger zu stillen,
Sübclspitzcn richteten sich ans den Unglücklichen, aus seiner Brust floß Blut --
da reißt der Strick, und der Körper des Entseelten stürzt herunter.

Alles dies hatte sich mit dramatischer Lebendigkeit vor unsern Augen ab¬
gespielt; nun erst kamen wir dazu, einen der umherstehenden Zuschauer nach Zweck
und Ziel des sonderbaren Schauspiels zu fragen. Da erfuhren wir, daß uns ein
günstiger Zufall zum "guten Montage" der Bauern von Jessen -- einem
Dorf nordöstlich von Ockrilla -- geführt habe, die hier mitten im Walde mit
einem so groß angelegten Kampfspiel und einem darunter verborgne" Schweine-
schlachten die Nachfeier des Erntefestes begingen. Das Schwein, das in den
Kesseln brodelte und nunmehr in gewaltigen Portionen als "Wellfleisch" mit
Schwarzbrot, Salz lind Pfeffer unter die ermatteten Kämpfer verteilt wurde,
war wenig Stunden zuvor noch lebend ans einem von einem riesigen Ziegen¬
bock gezognen Wagen mit in dein Festzuge gewesen, der sich von Jessen nach
Ockrilla und von da in den Wald bewegt hatte. Es hatte erst den Deutschen
gehört, war dann im Walde von den "Boxern" erobert und nach "Peking"
gebracht worden so hieß das umzäunte, mit dem großen Tor verschlossene
Viereck -- und war nun wieder, unterdessen geschlachtet und gesotten, den
braven Blauröcken in die Hände gefallen. Weiter ergab sich, daß diese Art
der Feier des "guten Montags" in Jessen etwa seit fünfzehn Jahren besteht,
doch hat sich das Kriegsspiel, das immer den Zeitvcrhältmsscn möglichst an¬
gepaßt wird, erst allmählich unter der Leitung eines Fleischermeisters, der ein
vortrefflicher Reiter und zugleich ein phantasievoller Kopf ist, bis zu seiner
jetzigen Höhe entwickelt. Da die Jessener Bauernsöhne in großer Anzahl bei
der Reiterei oder der Artillerie zu dienen pflegen, so fehlt es nie an der
nötigen berittenen Mannschaft -- sogar "Buffalo Bill und der wilde Westen"
ist vor einigen Jahren aufgeführt worden. Das Ganze ist mir typisch dafür,
daß auch in unsrer Bauernschaft die Sehnsucht nach einem fröhlichen Volks¬
fest voll männlicher Lust zu erwachen beginnt.

Hinter dem Walde, wo wir so Denkwürdiges erlebten, liegen nu der
Straße tu kurzen Zwischenräumen die Dörfer Gävernitz, Piskowitz, Wantewitz
auf dem Plateau, das das Elbtal vom Nödertal scheidet. Den höchsten Punkt
erreicht dieses Gelände westlich von der Straße bei einem trigonometrischen Signal
(215 Meter) zwischen Blattersleben und Porschütz; als Wahrzeichen der ganzen
Gegend aber gilt die hochliegende Kirche von Wantewitz, deren schlanker Turm


wurde von etwa dreißig schwarzzopfigen, bunt uniformierten Chinesen verteidigt,
gegen die etwa ebensoviel deutsches Fußvolk in Tropenuniform stürmend vor¬
ging. Ein kurzes Handgemenge, ein Krachen wie von einstürzenden Pfosten,
dann drängten sich die Deutschen durch die eingedrückten Torflügel ins Innere
des abgegrenzten Raumes hinein und machten die Chinesen zu Kriegsgefangnen.
Man sah die Befehlshaber der Deutschen, uuter thuen einen stattlichen Manu
mit schwarzem Schnurrbart, der schon vorher durch seine Reitkünste unsre Auf¬
merksamkeit erregt hatte, in ein Zelt treten; sie kamen wieder heraus, es wurde
einen Augenblick still im Getümmel, ein Todesurteil wurde verkündet — und
ein Chinese schwebte am Strick des Henkers am eilig errichteten Galgen empor.
Aber diese Prozedur genügte offenbar nicht, die Wut der Sieger zu stillen,
Sübclspitzcn richteten sich ans den Unglücklichen, aus seiner Brust floß Blut —
da reißt der Strick, und der Körper des Entseelten stürzt herunter.

Alles dies hatte sich mit dramatischer Lebendigkeit vor unsern Augen ab¬
gespielt; nun erst kamen wir dazu, einen der umherstehenden Zuschauer nach Zweck
und Ziel des sonderbaren Schauspiels zu fragen. Da erfuhren wir, daß uns ein
günstiger Zufall zum „guten Montage" der Bauern von Jessen — einem
Dorf nordöstlich von Ockrilla — geführt habe, die hier mitten im Walde mit
einem so groß angelegten Kampfspiel und einem darunter verborgne» Schweine-
schlachten die Nachfeier des Erntefestes begingen. Das Schwein, das in den
Kesseln brodelte und nunmehr in gewaltigen Portionen als „Wellfleisch" mit
Schwarzbrot, Salz lind Pfeffer unter die ermatteten Kämpfer verteilt wurde,
war wenig Stunden zuvor noch lebend ans einem von einem riesigen Ziegen¬
bock gezognen Wagen mit in dein Festzuge gewesen, der sich von Jessen nach
Ockrilla und von da in den Wald bewegt hatte. Es hatte erst den Deutschen
gehört, war dann im Walde von den „Boxern" erobert und nach „Peking"
gebracht worden so hieß das umzäunte, mit dem großen Tor verschlossene
Viereck — und war nun wieder, unterdessen geschlachtet und gesotten, den
braven Blauröcken in die Hände gefallen. Weiter ergab sich, daß diese Art
der Feier des „guten Montags" in Jessen etwa seit fünfzehn Jahren besteht,
doch hat sich das Kriegsspiel, das immer den Zeitvcrhältmsscn möglichst an¬
gepaßt wird, erst allmählich unter der Leitung eines Fleischermeisters, der ein
vortrefflicher Reiter und zugleich ein phantasievoller Kopf ist, bis zu seiner
jetzigen Höhe entwickelt. Da die Jessener Bauernsöhne in großer Anzahl bei
der Reiterei oder der Artillerie zu dienen pflegen, so fehlt es nie an der
nötigen berittenen Mannschaft — sogar „Buffalo Bill und der wilde Westen"
ist vor einigen Jahren aufgeführt worden. Das Ganze ist mir typisch dafür,
daß auch in unsrer Bauernschaft die Sehnsucht nach einem fröhlichen Volks¬
fest voll männlicher Lust zu erwachen beginnt.

Hinter dem Walde, wo wir so Denkwürdiges erlebten, liegen nu der
Straße tu kurzen Zwischenräumen die Dörfer Gävernitz, Piskowitz, Wantewitz
auf dem Plateau, das das Elbtal vom Nödertal scheidet. Den höchsten Punkt
erreicht dieses Gelände westlich von der Straße bei einem trigonometrischen Signal
(215 Meter) zwischen Blattersleben und Porschütz; als Wahrzeichen der ganzen
Gegend aber gilt die hochliegende Kirche von Wantewitz, deren schlanker Turm


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[0158] wurde von etwa dreißig schwarzzopfigen, bunt uniformierten Chinesen verteidigt, gegen die etwa ebensoviel deutsches Fußvolk in Tropenuniform stürmend vor¬ ging. Ein kurzes Handgemenge, ein Krachen wie von einstürzenden Pfosten, dann drängten sich die Deutschen durch die eingedrückten Torflügel ins Innere des abgegrenzten Raumes hinein und machten die Chinesen zu Kriegsgefangnen. Man sah die Befehlshaber der Deutschen, uuter thuen einen stattlichen Manu mit schwarzem Schnurrbart, der schon vorher durch seine Reitkünste unsre Auf¬ merksamkeit erregt hatte, in ein Zelt treten; sie kamen wieder heraus, es wurde einen Augenblick still im Getümmel, ein Todesurteil wurde verkündet — und ein Chinese schwebte am Strick des Henkers am eilig errichteten Galgen empor. Aber diese Prozedur genügte offenbar nicht, die Wut der Sieger zu stillen, Sübclspitzcn richteten sich ans den Unglücklichen, aus seiner Brust floß Blut — da reißt der Strick, und der Körper des Entseelten stürzt herunter. Alles dies hatte sich mit dramatischer Lebendigkeit vor unsern Augen ab¬ gespielt; nun erst kamen wir dazu, einen der umherstehenden Zuschauer nach Zweck und Ziel des sonderbaren Schauspiels zu fragen. Da erfuhren wir, daß uns ein günstiger Zufall zum „guten Montage" der Bauern von Jessen — einem Dorf nordöstlich von Ockrilla — geführt habe, die hier mitten im Walde mit einem so groß angelegten Kampfspiel und einem darunter verborgne» Schweine- schlachten die Nachfeier des Erntefestes begingen. Das Schwein, das in den Kesseln brodelte und nunmehr in gewaltigen Portionen als „Wellfleisch" mit Schwarzbrot, Salz lind Pfeffer unter die ermatteten Kämpfer verteilt wurde, war wenig Stunden zuvor noch lebend ans einem von einem riesigen Ziegen¬ bock gezognen Wagen mit in dein Festzuge gewesen, der sich von Jessen nach Ockrilla und von da in den Wald bewegt hatte. Es hatte erst den Deutschen gehört, war dann im Walde von den „Boxern" erobert und nach „Peking" gebracht worden so hieß das umzäunte, mit dem großen Tor verschlossene Viereck — und war nun wieder, unterdessen geschlachtet und gesotten, den braven Blauröcken in die Hände gefallen. Weiter ergab sich, daß diese Art der Feier des „guten Montags" in Jessen etwa seit fünfzehn Jahren besteht, doch hat sich das Kriegsspiel, das immer den Zeitvcrhältmsscn möglichst an¬ gepaßt wird, erst allmählich unter der Leitung eines Fleischermeisters, der ein vortrefflicher Reiter und zugleich ein phantasievoller Kopf ist, bis zu seiner jetzigen Höhe entwickelt. Da die Jessener Bauernsöhne in großer Anzahl bei der Reiterei oder der Artillerie zu dienen pflegen, so fehlt es nie an der nötigen berittenen Mannschaft — sogar „Buffalo Bill und der wilde Westen" ist vor einigen Jahren aufgeführt worden. Das Ganze ist mir typisch dafür, daß auch in unsrer Bauernschaft die Sehnsucht nach einem fröhlichen Volks¬ fest voll männlicher Lust zu erwachen beginnt. Hinter dem Walde, wo wir so Denkwürdiges erlebten, liegen nu der Straße tu kurzen Zwischenräumen die Dörfer Gävernitz, Piskowitz, Wantewitz auf dem Plateau, das das Elbtal vom Nödertal scheidet. Den höchsten Punkt erreicht dieses Gelände westlich von der Straße bei einem trigonometrischen Signal (215 Meter) zwischen Blattersleben und Porschütz; als Wahrzeichen der ganzen Gegend aber gilt die hochliegende Kirche von Wantewitz, deren schlanker Turm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/158>, abgerufen am 24.11.2024.