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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Leibniz

fern, als Günstling hoher Herren und Damen an den Höfen, lind kein äußer¬
liches Hemmnis störte ihn im Vollgenuß des Forscherglücks, dessen sein fein
organisierter, reicher und starker Geist in so hohem Grade fähig war. Er
pries, wie zweihundert Jahre vor ihm Hütten, seine Zeit als die allerglück-
lichste. Des Menschen Macht sei ins unendliche gewachsen; das Meer habe
man mit beweglichen Brücken bedeckt, weit auseinander klaffende Länder ver
bunten, sich den Himmel mit Hilfe eines unscheinbaren Steinchens nahe ge¬
bracht, mit vervielfältigten Augen ins Innere der Dinge geschaut, die Welt
verhundertfacht, neue Welten, neue Arten von Wesen entdeckt, die dort dnrch
ihre Größe, hier durch ihre Kleinheit in Erstaunen setzen, und es fehle nicht
um andern Spühwerkzengen ((Z0N8xioilii8), mit deuen nicht allein das örtlich,
sondern auch das zeitlich entfernte entdeckt werden könne; so viel Licht sei über
die Geschichte verbreitet worden, daß wir immer gelebt zu haben scheinen. --
Von der französischen Revolution ab haben sich die Volksmassen, die der Ge¬
lehrte des siebzehnten Jahrhunderts uoch nicht unters Mikroskop zu nehmen
pflegte, die Aufmerksamkeit der herrschenden Stände erzwungen, und dieser
Aufmerksamkeit konnte denn die Tatsache nicht entgehn, die einen gewichtigen
Grund für den Pessimismus abgibt, daß nämlich der ungeheuern Mehrheit
der Menschen Leibnizens Himmel zeitlebens verschlossen bleibt, weil sie die
.Harmonie des Universums wahrzunehmen entweder geistig unfähig oder durch
den Druck der Not und deu Zwang zu mechanischen Beschäftigungen verhindert
sind. Dennoch führt der Weg, den Leibniz eingeschlagen hat, zur Überwindung
des Pessimismus. Die Weisheit und der Reichtum, die sich im Universum
offenbaren, begründen zusammen mit dem ans allen Verirrungen immer wieder
hervorbrechenden Drange des Menschenherzens nach Liebe und Gerechtigkeit
die Überzeugung, daß im Urgründe der Dinge Güte und Seligkeit wohnen
müssen, und berechtigen zu der Hoffnung, daß wir alle einmal in das Welt¬
zentrum gelangen werden, wo sich dem beglückten Auge die Wirrnis in Har¬
monie auflöst.

Wir zeigen bei dieser Gelegenheit noch drei philosophische Schriften an,
die wir nicht besprechen können. Otto Flügel steht Leibniz nahe und liefert
in seiner Schrift Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die neuern Wandlungen
gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe (dritte, vermehrte Auflage, Köthen, Otto
Schutze, 1902) eine vortreffliche Widerlegung des Materialismus. Otto Lieb¬
mann bereitet deu Lesern seiner Gedanken und Tatsachen (Straßburg
Karl I. Trübner, 1902) im dritten Hefte des zweiten Bandes eine angenehme
Erholung mit ästhetischen Betrachtungen und einer "Trilogie des Pessimismus"
(Hegestas Peisithanatos, Timon von Athen und Buddha Sakyamuni). Alfons
Hoffmann gibt unter dem Titel: Immanuel Kant (Halle a. S, Hugo
Peter, 1902) drei Lebensskizzen des Philosophen heraus, die Zeitgenossen und
vertraute Freunde: Jachmann, Borowski und Wasianski verfaßt haben.


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Leibniz

fern, als Günstling hoher Herren und Damen an den Höfen, lind kein äußer¬
liches Hemmnis störte ihn im Vollgenuß des Forscherglücks, dessen sein fein
organisierter, reicher und starker Geist in so hohem Grade fähig war. Er
pries, wie zweihundert Jahre vor ihm Hütten, seine Zeit als die allerglück-
lichste. Des Menschen Macht sei ins unendliche gewachsen; das Meer habe
man mit beweglichen Brücken bedeckt, weit auseinander klaffende Länder ver
bunten, sich den Himmel mit Hilfe eines unscheinbaren Steinchens nahe ge¬
bracht, mit vervielfältigten Augen ins Innere der Dinge geschaut, die Welt
verhundertfacht, neue Welten, neue Arten von Wesen entdeckt, die dort dnrch
ihre Größe, hier durch ihre Kleinheit in Erstaunen setzen, und es fehle nicht
um andern Spühwerkzengen ((Z0N8xioilii8), mit deuen nicht allein das örtlich,
sondern auch das zeitlich entfernte entdeckt werden könne; so viel Licht sei über
die Geschichte verbreitet worden, daß wir immer gelebt zu haben scheinen. —
Von der französischen Revolution ab haben sich die Volksmassen, die der Ge¬
lehrte des siebzehnten Jahrhunderts uoch nicht unters Mikroskop zu nehmen
pflegte, die Aufmerksamkeit der herrschenden Stände erzwungen, und dieser
Aufmerksamkeit konnte denn die Tatsache nicht entgehn, die einen gewichtigen
Grund für den Pessimismus abgibt, daß nämlich der ungeheuern Mehrheit
der Menschen Leibnizens Himmel zeitlebens verschlossen bleibt, weil sie die
.Harmonie des Universums wahrzunehmen entweder geistig unfähig oder durch
den Druck der Not und deu Zwang zu mechanischen Beschäftigungen verhindert
sind. Dennoch führt der Weg, den Leibniz eingeschlagen hat, zur Überwindung
des Pessimismus. Die Weisheit und der Reichtum, die sich im Universum
offenbaren, begründen zusammen mit dem ans allen Verirrungen immer wieder
hervorbrechenden Drange des Menschenherzens nach Liebe und Gerechtigkeit
die Überzeugung, daß im Urgründe der Dinge Güte und Seligkeit wohnen
müssen, und berechtigen zu der Hoffnung, daß wir alle einmal in das Welt¬
zentrum gelangen werden, wo sich dem beglückten Auge die Wirrnis in Har¬
monie auflöst.

Wir zeigen bei dieser Gelegenheit noch drei philosophische Schriften an,
die wir nicht besprechen können. Otto Flügel steht Leibniz nahe und liefert
in seiner Schrift Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die neuern Wandlungen
gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe (dritte, vermehrte Auflage, Köthen, Otto
Schutze, 1902) eine vortreffliche Widerlegung des Materialismus. Otto Lieb¬
mann bereitet deu Lesern seiner Gedanken und Tatsachen (Straßburg
Karl I. Trübner, 1902) im dritten Hefte des zweiten Bandes eine angenehme
Erholung mit ästhetischen Betrachtungen und einer „Trilogie des Pessimismus"
(Hegestas Peisithanatos, Timon von Athen und Buddha Sakyamuni). Alfons
Hoffmann gibt unter dem Titel: Immanuel Kant (Halle a. S, Hugo
Peter, 1902) drei Lebensskizzen des Philosophen heraus, die Zeitgenossen und
vertraute Freunde: Jachmann, Borowski und Wasianski verfaßt haben.


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[0154] Leibniz fern, als Günstling hoher Herren und Damen an den Höfen, lind kein äußer¬ liches Hemmnis störte ihn im Vollgenuß des Forscherglücks, dessen sein fein organisierter, reicher und starker Geist in so hohem Grade fähig war. Er pries, wie zweihundert Jahre vor ihm Hütten, seine Zeit als die allerglück- lichste. Des Menschen Macht sei ins unendliche gewachsen; das Meer habe man mit beweglichen Brücken bedeckt, weit auseinander klaffende Länder ver bunten, sich den Himmel mit Hilfe eines unscheinbaren Steinchens nahe ge¬ bracht, mit vervielfältigten Augen ins Innere der Dinge geschaut, die Welt verhundertfacht, neue Welten, neue Arten von Wesen entdeckt, die dort dnrch ihre Größe, hier durch ihre Kleinheit in Erstaunen setzen, und es fehle nicht um andern Spühwerkzengen ((Z0N8xioilii8), mit deuen nicht allein das örtlich, sondern auch das zeitlich entfernte entdeckt werden könne; so viel Licht sei über die Geschichte verbreitet worden, daß wir immer gelebt zu haben scheinen. — Von der französischen Revolution ab haben sich die Volksmassen, die der Ge¬ lehrte des siebzehnten Jahrhunderts uoch nicht unters Mikroskop zu nehmen pflegte, die Aufmerksamkeit der herrschenden Stände erzwungen, und dieser Aufmerksamkeit konnte denn die Tatsache nicht entgehn, die einen gewichtigen Grund für den Pessimismus abgibt, daß nämlich der ungeheuern Mehrheit der Menschen Leibnizens Himmel zeitlebens verschlossen bleibt, weil sie die .Harmonie des Universums wahrzunehmen entweder geistig unfähig oder durch den Druck der Not und deu Zwang zu mechanischen Beschäftigungen verhindert sind. Dennoch führt der Weg, den Leibniz eingeschlagen hat, zur Überwindung des Pessimismus. Die Weisheit und der Reichtum, die sich im Universum offenbaren, begründen zusammen mit dem ans allen Verirrungen immer wieder hervorbrechenden Drange des Menschenherzens nach Liebe und Gerechtigkeit die Überzeugung, daß im Urgründe der Dinge Güte und Seligkeit wohnen müssen, und berechtigen zu der Hoffnung, daß wir alle einmal in das Welt¬ zentrum gelangen werden, wo sich dem beglückten Auge die Wirrnis in Har¬ monie auflöst. Wir zeigen bei dieser Gelegenheit noch drei philosophische Schriften an, die wir nicht besprechen können. Otto Flügel steht Leibniz nahe und liefert in seiner Schrift Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die neuern Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe (dritte, vermehrte Auflage, Köthen, Otto Schutze, 1902) eine vortreffliche Widerlegung des Materialismus. Otto Lieb¬ mann bereitet deu Lesern seiner Gedanken und Tatsachen (Straßburg Karl I. Trübner, 1902) im dritten Hefte des zweiten Bandes eine angenehme Erholung mit ästhetischen Betrachtungen und einer „Trilogie des Pessimismus" (Hegestas Peisithanatos, Timon von Athen und Buddha Sakyamuni). Alfons Hoffmann gibt unter dem Titel: Immanuel Kant (Halle a. S, Hugo Peter, 1902) drei Lebensskizzen des Philosophen heraus, die Zeitgenossen und vertraute Freunde: Jachmann, Borowski und Wasianski verfaßt haben. 6- 2-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/154>, abgerufen am 24.11.2024.