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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Scheiks Christus und der Bischof von Rottenburg

können, ohne exkommuniziert zu werden, so lange konunt es nicht zu der Re¬
form, die sie ersehnen. Der erste Teil des lnschöflichen Herzensergusses fehl^
"Wir brauchen, Kur wollen katholische Männer, Streiter Gottes. Katholischen
Männern füllt es nicht ein, sich in Reformsimpel verwandeln zu lassen. Die
mögen jenseits der Vogesen sich ansiedeln. In Frankreich herrscht die Phrase,
in Deutschland herrsche das Wort Gottes." Also in Frankreich herrscht die
Phrase, und nicht das Wort Gottes? Ja, was leistet denn dn der katholische
Klerus in dein ganz katholischen Lande? Was leisten denn die über, hundert¬
tausend Mönche und Nonnen? Was leistet denn die "Mutter Gottes," die
Patronin Frankreichs, die ab und zu einmal leibhaftig erscheint? Kann man
katholischer sein als die französischen Bigotten, und was nutzt nun der echt
und streng katholische Charakter, wenn er das Volk der Phrase unterwirft, und
was der Bischof zu erwähnen rücksichtsvoll unterläßt, der Herrschaft der Atheisten
ausliefert, die dieses katholische Volk durch freie Wahl in die Kammer schickt?
Und worauf gründet denn Bischof Keppler die Erwartung, daß in Deutschland
das Wort Gottes die Herrschaft behaupten werde? Doch wohl nicht darauf,
daß zwei Drittel der Deutschen Protestanten sind? Also auf die Volksart?
Aber wenn das Heil vom Volkscharakter kommt, dann kommt es doch nicht
von der katholischen Kirche!

Nachdem schon die Kölnische Volkszeitung die unbedingte Verurteilung
aller Reformbestrebungen gemißbilligt und einige schwere Gebrechen des heutigen
Katholizismus namhaft gemacht hatte, antwortet in der Germania vom 28. De¬
zember ein Mann "der freiern Richtung" (eine Bezeichnung, die er dem Aus¬
druck Nefornckatholik vorzieht) dem Bischof Keppler sehr kräftig, ohne ihn zu
nennen. Er zählt auf, was die freie Richtung nicht will, und was sie null.
Das erste in der Form, daß er 35 Sätze aus Kepplers Vortrag mit "sie will
(oder leugnet) nicht" anführt und zurückweist. Unter anderm heißt es: "Sie
will nicht den Gebildeten die bittere Glaubeuspillc durch Kultursirup ver¬
süßen, aber sie glaubt, daß zwischen dem Glauben der Gebildete" und dem der
Ungebildeten immerhin ein Unterschied bestehe. Sie will nicht, daß man das
christliche Voll verachte oder als irÜ8ör!r eontribuens xlsbs behandle; sie be¬
zeichnet das Glaubensleben des Landvolks nicht als Paganismus, sondern
fürchtet nur, daß das Christentum immer mehr auf das Landvolk beschränkt
und dadurch zum Paganismus im philologischen Sinne des Wortes werde.
Sie will nicht, daß man eines aus den Kleinen ärgere, will aber auch nicht,
daß man an den Gebildeten in allen Beziehungen den nämlichen Maßstab an¬
lege wie an das gewöhnliche Volk. Sie will nicht, daß das Volk auf die
Stufe der Gebildeten emporgehoben werde, denn sie will nichts Unmögliches.
Sie leugnet nicht, daß man das Volk mit doppelter Liebe ins Herz einschließen
solle, glaubt aber, daß es auch noch andre Aufgaben gibt. Sie null nicht vor
dem Unglauben der Gelehrten höfliche Verbeugungen machen, glaubt aber an¬
erkennen zu müssen, was sie Wahres zu Tage fördern. Sie will nicht, daß
die Katholiken lediglich durch Vermehrung ihres Wissens gehoben werden
sollen, will aber auch nicht, daß die katholische Wissenschaft immer mehr ins
Hintertreffen gerate. Sie will nicht Reformvorschläge, die jeder Freimaurer


Scheiks Christus und der Bischof von Rottenburg

können, ohne exkommuniziert zu werden, so lange konunt es nicht zu der Re¬
form, die sie ersehnen. Der erste Teil des lnschöflichen Herzensergusses fehl^
„Wir brauchen, Kur wollen katholische Männer, Streiter Gottes. Katholischen
Männern füllt es nicht ein, sich in Reformsimpel verwandeln zu lassen. Die
mögen jenseits der Vogesen sich ansiedeln. In Frankreich herrscht die Phrase,
in Deutschland herrsche das Wort Gottes." Also in Frankreich herrscht die
Phrase, und nicht das Wort Gottes? Ja, was leistet denn dn der katholische
Klerus in dein ganz katholischen Lande? Was leisten denn die über, hundert¬
tausend Mönche und Nonnen? Was leistet denn die „Mutter Gottes," die
Patronin Frankreichs, die ab und zu einmal leibhaftig erscheint? Kann man
katholischer sein als die französischen Bigotten, und was nutzt nun der echt
und streng katholische Charakter, wenn er das Volk der Phrase unterwirft, und
was der Bischof zu erwähnen rücksichtsvoll unterläßt, der Herrschaft der Atheisten
ausliefert, die dieses katholische Volk durch freie Wahl in die Kammer schickt?
Und worauf gründet denn Bischof Keppler die Erwartung, daß in Deutschland
das Wort Gottes die Herrschaft behaupten werde? Doch wohl nicht darauf,
daß zwei Drittel der Deutschen Protestanten sind? Also auf die Volksart?
Aber wenn das Heil vom Volkscharakter kommt, dann kommt es doch nicht
von der katholischen Kirche!

Nachdem schon die Kölnische Volkszeitung die unbedingte Verurteilung
aller Reformbestrebungen gemißbilligt und einige schwere Gebrechen des heutigen
Katholizismus namhaft gemacht hatte, antwortet in der Germania vom 28. De¬
zember ein Mann „der freiern Richtung" (eine Bezeichnung, die er dem Aus¬
druck Nefornckatholik vorzieht) dem Bischof Keppler sehr kräftig, ohne ihn zu
nennen. Er zählt auf, was die freie Richtung nicht will, und was sie null.
Das erste in der Form, daß er 35 Sätze aus Kepplers Vortrag mit „sie will
(oder leugnet) nicht" anführt und zurückweist. Unter anderm heißt es: „Sie
will nicht den Gebildeten die bittere Glaubeuspillc durch Kultursirup ver¬
süßen, aber sie glaubt, daß zwischen dem Glauben der Gebildete» und dem der
Ungebildeten immerhin ein Unterschied bestehe. Sie will nicht, daß man das
christliche Voll verachte oder als irÜ8ör!r eontribuens xlsbs behandle; sie be¬
zeichnet das Glaubensleben des Landvolks nicht als Paganismus, sondern
fürchtet nur, daß das Christentum immer mehr auf das Landvolk beschränkt
und dadurch zum Paganismus im philologischen Sinne des Wortes werde.
Sie will nicht, daß man eines aus den Kleinen ärgere, will aber auch nicht,
daß man an den Gebildeten in allen Beziehungen den nämlichen Maßstab an¬
lege wie an das gewöhnliche Volk. Sie will nicht, daß das Volk auf die
Stufe der Gebildeten emporgehoben werde, denn sie will nichts Unmögliches.
Sie leugnet nicht, daß man das Volk mit doppelter Liebe ins Herz einschließen
solle, glaubt aber, daß es auch noch andre Aufgaben gibt. Sie null nicht vor
dem Unglauben der Gelehrten höfliche Verbeugungen machen, glaubt aber an¬
erkennen zu müssen, was sie Wahres zu Tage fördern. Sie will nicht, daß
die Katholiken lediglich durch Vermehrung ihres Wissens gehoben werden
sollen, will aber auch nicht, daß die katholische Wissenschaft immer mehr ins
Hintertreffen gerate. Sie will nicht Reformvorschläge, die jeder Freimaurer


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[0130] Scheiks Christus und der Bischof von Rottenburg können, ohne exkommuniziert zu werden, so lange konunt es nicht zu der Re¬ form, die sie ersehnen. Der erste Teil des lnschöflichen Herzensergusses fehl^ „Wir brauchen, Kur wollen katholische Männer, Streiter Gottes. Katholischen Männern füllt es nicht ein, sich in Reformsimpel verwandeln zu lassen. Die mögen jenseits der Vogesen sich ansiedeln. In Frankreich herrscht die Phrase, in Deutschland herrsche das Wort Gottes." Also in Frankreich herrscht die Phrase, und nicht das Wort Gottes? Ja, was leistet denn dn der katholische Klerus in dein ganz katholischen Lande? Was leisten denn die über, hundert¬ tausend Mönche und Nonnen? Was leistet denn die „Mutter Gottes," die Patronin Frankreichs, die ab und zu einmal leibhaftig erscheint? Kann man katholischer sein als die französischen Bigotten, und was nutzt nun der echt und streng katholische Charakter, wenn er das Volk der Phrase unterwirft, und was der Bischof zu erwähnen rücksichtsvoll unterläßt, der Herrschaft der Atheisten ausliefert, die dieses katholische Volk durch freie Wahl in die Kammer schickt? Und worauf gründet denn Bischof Keppler die Erwartung, daß in Deutschland das Wort Gottes die Herrschaft behaupten werde? Doch wohl nicht darauf, daß zwei Drittel der Deutschen Protestanten sind? Also auf die Volksart? Aber wenn das Heil vom Volkscharakter kommt, dann kommt es doch nicht von der katholischen Kirche! Nachdem schon die Kölnische Volkszeitung die unbedingte Verurteilung aller Reformbestrebungen gemißbilligt und einige schwere Gebrechen des heutigen Katholizismus namhaft gemacht hatte, antwortet in der Germania vom 28. De¬ zember ein Mann „der freiern Richtung" (eine Bezeichnung, die er dem Aus¬ druck Nefornckatholik vorzieht) dem Bischof Keppler sehr kräftig, ohne ihn zu nennen. Er zählt auf, was die freie Richtung nicht will, und was sie null. Das erste in der Form, daß er 35 Sätze aus Kepplers Vortrag mit „sie will (oder leugnet) nicht" anführt und zurückweist. Unter anderm heißt es: „Sie will nicht den Gebildeten die bittere Glaubeuspillc durch Kultursirup ver¬ süßen, aber sie glaubt, daß zwischen dem Glauben der Gebildete» und dem der Ungebildeten immerhin ein Unterschied bestehe. Sie will nicht, daß man das christliche Voll verachte oder als irÜ8ör!r eontribuens xlsbs behandle; sie be¬ zeichnet das Glaubensleben des Landvolks nicht als Paganismus, sondern fürchtet nur, daß das Christentum immer mehr auf das Landvolk beschränkt und dadurch zum Paganismus im philologischen Sinne des Wortes werde. Sie will nicht, daß man eines aus den Kleinen ärgere, will aber auch nicht, daß man an den Gebildeten in allen Beziehungen den nämlichen Maßstab an¬ lege wie an das gewöhnliche Volk. Sie will nicht, daß das Volk auf die Stufe der Gebildeten emporgehoben werde, denn sie will nichts Unmögliches. Sie leugnet nicht, daß man das Volk mit doppelter Liebe ins Herz einschließen solle, glaubt aber, daß es auch noch andre Aufgaben gibt. Sie null nicht vor dem Unglauben der Gelehrten höfliche Verbeugungen machen, glaubt aber an¬ erkennen zu müssen, was sie Wahres zu Tage fördern. Sie will nicht, daß die Katholiken lediglich durch Vermehrung ihres Wissens gehoben werden sollen, will aber auch nicht, daß die katholische Wissenschaft immer mehr ins Hintertreffen gerate. Sie will nicht Reformvorschläge, die jeder Freimaurer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/130>, abgerufen am 27.11.2024.