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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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haben zu verschiednen Zeiten in Delos Ausgrabungen veranstaltet, bis jetzt
aber nur in ungeordneter und unvollständiger Weise, sodaß ohne ein genaues
Studium kein Überblick möglich ist. Die spätern Ausgräber pflegten näm¬
lich um der größern Bequemlichkeit willen ihren Schutt immer auf die Aus¬
grabungen der frühern zu werfen. Jetzt hat aber Monsieur Homolle den Plan
gefaßt, wenn er mit Delphi fertig ist, den gesamten Schutt ins Meer zu schaffen.
Er will zu diesem Zweck eine Eisenbahn zum Meere bauen und mit dem Schutt
den alten Molo wiederherstellen, wenn möglich bis zu einem der Insel gegen¬
überliegenden Riff. Dadurch würde der antike Hafen in seinem alten Umfange
wieder erstes". Diese so geplante gründliche Aufräumung würde einen saubern,
übersichtlichen, anständigen Trümmerplatz schaffen, wie es die zu Olympia und
Delphi sind.

Von den Gebäuden zog natürlich vor allem der Apollotempel in der Mitte
der ganzen Anlage unsre Augen auf sich. Baedeker nimmt neben ihm einen
Tempel der Leto an. Dörpfeld hat aber festgestellt, daß hier drei Apollotempel
dicht nebeneinander liegen, die drei verschiedne Entwicklungsstufen der Archi¬
tektur darstellen; der rechts ist der älteste aus dem Anfang des fünften Jahr¬
hunderts, der in der Mitte entspricht in seinen Abmessungen genau dem Par¬
thenon auf der Akropolis ohne die Ninghalle und ist diesem offenbar nachgebildet,
stammt also aus ätherischer Zeit, der links gehört der hellenistischen Periode
an und ist etwa in das Ende des vierten Jahrhunderts zu setzen.

Nicht weit von diesem in drei Auflagen erhaltenen Tempel liegt der große
Rinderstnll für die Hekatomben, die dem Gotte geschlachtet wurden. Es wird
nicht leicht eiuen schönern Stall in der Welt gegeben haben oder geben als
diesen. Fast scheint es, als habe man den Schlachttieren vor ihrem Opfertode
noch eine besondre Freude und Ehre bereiten wollen. Der apollinische Ninderstall
ist ein langer, prächtiger Saal mit Vorraum und Hinterraum und einer bassin¬
artigen Vertiefung in der Mitte. Der Fußboden ist mit breiten, schönen Marmor-
platten bedeckt, die Wände sind mir Marmor verkleidet und mit einem umlaufenden
Fries geziert. Liegende Stiere und Stierköpfe bilden die Kapitüle der Ein¬
gangspfeiler. Neben diesem Stalle sieht man die Reste des als eines der sieben
Weltwunder gepriesenen "Hörneraltars," der die Form eines Schiffsschnabels
hatte und seinen Namen von den ihm angehefteten Widderhörnern trug.

Außer diesen dem Kultus geweihten Gebäuden sowie den üblichen Säulen¬
hallen, Schatzhäusern und Marktplätzen sind in Delos noch die guterhaltenen
Privathäuser bemerkenswert. Delos ist in dieser Hinsicht ein zweites Pompeji.
Diese Häuser stammen aus hellenistischer und römischer Zeit und gleichen in
der Anlage den pompejanischen, nnr daß sie sämtlich unter dem Atrium eine
Zisterne haben. Die Pompejaner hatten vorzügliches Leitungs- und Brunnen-
trinkwasscr, auf deu griechischen Inseln fehlt es daran, und noch heute hat
dort jedes Haus seine eigne Zisterne.

Im ganzen macht der Platz, wo einst die heilige Stadt Delos gestanden
hat, den Eindruck einer ziemlich ungeordneten, wüsten Trttmmerstätte. Schutt¬
haufen bedecken stellenweise die Überreste, und zwischen den Säulentrommeln
und Gebnlkstttcken sproßt hartes, stachliges Gestrüpp. Überragt ist das Ganze


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haben zu verschiednen Zeiten in Delos Ausgrabungen veranstaltet, bis jetzt
aber nur in ungeordneter und unvollständiger Weise, sodaß ohne ein genaues
Studium kein Überblick möglich ist. Die spätern Ausgräber pflegten näm¬
lich um der größern Bequemlichkeit willen ihren Schutt immer auf die Aus¬
grabungen der frühern zu werfen. Jetzt hat aber Monsieur Homolle den Plan
gefaßt, wenn er mit Delphi fertig ist, den gesamten Schutt ins Meer zu schaffen.
Er will zu diesem Zweck eine Eisenbahn zum Meere bauen und mit dem Schutt
den alten Molo wiederherstellen, wenn möglich bis zu einem der Insel gegen¬
überliegenden Riff. Dadurch würde der antike Hafen in seinem alten Umfange
wieder erstes». Diese so geplante gründliche Aufräumung würde einen saubern,
übersichtlichen, anständigen Trümmerplatz schaffen, wie es die zu Olympia und
Delphi sind.

Von den Gebäuden zog natürlich vor allem der Apollotempel in der Mitte
der ganzen Anlage unsre Augen auf sich. Baedeker nimmt neben ihm einen
Tempel der Leto an. Dörpfeld hat aber festgestellt, daß hier drei Apollotempel
dicht nebeneinander liegen, die drei verschiedne Entwicklungsstufen der Archi¬
tektur darstellen; der rechts ist der älteste aus dem Anfang des fünften Jahr¬
hunderts, der in der Mitte entspricht in seinen Abmessungen genau dem Par¬
thenon auf der Akropolis ohne die Ninghalle und ist diesem offenbar nachgebildet,
stammt also aus ätherischer Zeit, der links gehört der hellenistischen Periode
an und ist etwa in das Ende des vierten Jahrhunderts zu setzen.

Nicht weit von diesem in drei Auflagen erhaltenen Tempel liegt der große
Rinderstnll für die Hekatomben, die dem Gotte geschlachtet wurden. Es wird
nicht leicht eiuen schönern Stall in der Welt gegeben haben oder geben als
diesen. Fast scheint es, als habe man den Schlachttieren vor ihrem Opfertode
noch eine besondre Freude und Ehre bereiten wollen. Der apollinische Ninderstall
ist ein langer, prächtiger Saal mit Vorraum und Hinterraum und einer bassin¬
artigen Vertiefung in der Mitte. Der Fußboden ist mit breiten, schönen Marmor-
platten bedeckt, die Wände sind mir Marmor verkleidet und mit einem umlaufenden
Fries geziert. Liegende Stiere und Stierköpfe bilden die Kapitüle der Ein¬
gangspfeiler. Neben diesem Stalle sieht man die Reste des als eines der sieben
Weltwunder gepriesenen „Hörneraltars," der die Form eines Schiffsschnabels
hatte und seinen Namen von den ihm angehefteten Widderhörnern trug.

Außer diesen dem Kultus geweihten Gebäuden sowie den üblichen Säulen¬
hallen, Schatzhäusern und Marktplätzen sind in Delos noch die guterhaltenen
Privathäuser bemerkenswert. Delos ist in dieser Hinsicht ein zweites Pompeji.
Diese Häuser stammen aus hellenistischer und römischer Zeit und gleichen in
der Anlage den pompejanischen, nnr daß sie sämtlich unter dem Atrium eine
Zisterne haben. Die Pompejaner hatten vorzügliches Leitungs- und Brunnen-
trinkwasscr, auf deu griechischen Inseln fehlt es daran, und noch heute hat
dort jedes Haus seine eigne Zisterne.

Im ganzen macht der Platz, wo einst die heilige Stadt Delos gestanden
hat, den Eindruck einer ziemlich ungeordneten, wüsten Trttmmerstätte. Schutt¬
haufen bedecken stellenweise die Überreste, und zwischen den Säulentrommeln
und Gebnlkstttcken sproßt hartes, stachliges Gestrüpp. Überragt ist das Ganze


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[0106] Line Inselreihe: durch das griechische Meer haben zu verschiednen Zeiten in Delos Ausgrabungen veranstaltet, bis jetzt aber nur in ungeordneter und unvollständiger Weise, sodaß ohne ein genaues Studium kein Überblick möglich ist. Die spätern Ausgräber pflegten näm¬ lich um der größern Bequemlichkeit willen ihren Schutt immer auf die Aus¬ grabungen der frühern zu werfen. Jetzt hat aber Monsieur Homolle den Plan gefaßt, wenn er mit Delphi fertig ist, den gesamten Schutt ins Meer zu schaffen. Er will zu diesem Zweck eine Eisenbahn zum Meere bauen und mit dem Schutt den alten Molo wiederherstellen, wenn möglich bis zu einem der Insel gegen¬ überliegenden Riff. Dadurch würde der antike Hafen in seinem alten Umfange wieder erstes». Diese so geplante gründliche Aufräumung würde einen saubern, übersichtlichen, anständigen Trümmerplatz schaffen, wie es die zu Olympia und Delphi sind. Von den Gebäuden zog natürlich vor allem der Apollotempel in der Mitte der ganzen Anlage unsre Augen auf sich. Baedeker nimmt neben ihm einen Tempel der Leto an. Dörpfeld hat aber festgestellt, daß hier drei Apollotempel dicht nebeneinander liegen, die drei verschiedne Entwicklungsstufen der Archi¬ tektur darstellen; der rechts ist der älteste aus dem Anfang des fünften Jahr¬ hunderts, der in der Mitte entspricht in seinen Abmessungen genau dem Par¬ thenon auf der Akropolis ohne die Ninghalle und ist diesem offenbar nachgebildet, stammt also aus ätherischer Zeit, der links gehört der hellenistischen Periode an und ist etwa in das Ende des vierten Jahrhunderts zu setzen. Nicht weit von diesem in drei Auflagen erhaltenen Tempel liegt der große Rinderstnll für die Hekatomben, die dem Gotte geschlachtet wurden. Es wird nicht leicht eiuen schönern Stall in der Welt gegeben haben oder geben als diesen. Fast scheint es, als habe man den Schlachttieren vor ihrem Opfertode noch eine besondre Freude und Ehre bereiten wollen. Der apollinische Ninderstall ist ein langer, prächtiger Saal mit Vorraum und Hinterraum und einer bassin¬ artigen Vertiefung in der Mitte. Der Fußboden ist mit breiten, schönen Marmor- platten bedeckt, die Wände sind mir Marmor verkleidet und mit einem umlaufenden Fries geziert. Liegende Stiere und Stierköpfe bilden die Kapitüle der Ein¬ gangspfeiler. Neben diesem Stalle sieht man die Reste des als eines der sieben Weltwunder gepriesenen „Hörneraltars," der die Form eines Schiffsschnabels hatte und seinen Namen von den ihm angehefteten Widderhörnern trug. Außer diesen dem Kultus geweihten Gebäuden sowie den üblichen Säulen¬ hallen, Schatzhäusern und Marktplätzen sind in Delos noch die guterhaltenen Privathäuser bemerkenswert. Delos ist in dieser Hinsicht ein zweites Pompeji. Diese Häuser stammen aus hellenistischer und römischer Zeit und gleichen in der Anlage den pompejanischen, nnr daß sie sämtlich unter dem Atrium eine Zisterne haben. Die Pompejaner hatten vorzügliches Leitungs- und Brunnen- trinkwasscr, auf deu griechischen Inseln fehlt es daran, und noch heute hat dort jedes Haus seine eigne Zisterne. Im ganzen macht der Platz, wo einst die heilige Stadt Delos gestanden hat, den Eindruck einer ziemlich ungeordneten, wüsten Trttmmerstätte. Schutt¬ haufen bedecken stellenweise die Überreste, und zwischen den Säulentrommeln und Gebnlkstttcken sproßt hartes, stachliges Gestrüpp. Überragt ist das Ganze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/106>, abgerufen am 27.11.2024.