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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Gebrauch gekommen. Der deutsche Musiker reist heute zur Erholung, zum
Vergnügen, aber er macht keine Studienreisen mehr; er hat dafür auch das
Talent verloren. Führt ihn der Weg nach Italien, nach England, klagt er
dort über die schlechte Kirchenmusik, hier über die Salonmnsik, die Blüte der
Oper in dem einen, des Chorwescns im andern Lande, und eine Menge
kleinerer oder größerer Vorzüge kommen gegen heimische Anschauungen und
Nationalbewußtsein nicht durch. Franzosen und Norweger fördern noch gegen¬
wärtig hervorragende junge Musiker durch Stipendien ins Ausland. Auch für
Deutschland ist dieses alte Mittel der Weiterbildung zwar nicht mehr unent¬
behrlich, aber noch sehr wertvoll.

Am letzten Ende hängt aber nicht bloß die Weiterbildung, sondern die
Leistungsfähigkeit des Musikerstandes überhaupt eng mit seinen Erwerbsverhült-
nissen zusammen. Usus sang, in vorpms 83.no! Frische des Geistes setzt eine
gewisse Sorgenfreiheit voraus, und es fragt sich, ob diese dem tüchtigen Musiker
in demselben Grade gesichert ist, wie den Angehörigen andrer Stände. Da
muß zunächst entschieden werden, mit welchen Stünden sich der musikalische
vergleichen darf. Seiner Bedeutung und seinem Wesen nach gehört er zu den
privilegierten Berufsarten, denn er verrichtet im wesentlichen eine Kultur¬
arbeit, die wie die der Kirche und der Schule des Schutzes und der strengen
Regelung bedarf. Er hat diesen Schutz in der Zeit der Zünfte auch genossen,
ist aber im neunzehnten Jahrhundert mit andern Leidensgefährten in das Ex¬
periment der Gewerbefreiheit hineingezogen worden und der neuen Lage als
freier Gewerbetreibender bisher außerordentlich viel schuldig geblieben. In den
Erwerbsverhältnissen aller Musikerklassen, Komponisten, Virtuosen, Lehrer
herrscht eine übergroße Ungleichheit und Unsicherheit, und nur wenige Zweige
des Gewerbes, z. B. die Angehörigen der Zivilkapellen, haben etwas dagegen
gethan.

Zum guten Teil stehn wir bei dem Mißverhältnis zwischen Leistung und
äußerm Ertrag in der Musik vor einer unabänderlichen Thatsache. Etwas
unpraktischer, träumerischer Sinn ist von den meisten musikalischen Naturen
unzertrennlich, nur ausnahmsweise halten sich Talent und Weltklugheit die
Wage, und viele setzen ihre Kraft zu lang an falsche Ziele. Besonders groß
ist die Zahl der enttäuschten Komponisten und Virtuosen.

Der ältern Zeit war die Trennung zwischen schaffenden und ausübenden
Musikern unbekannt, weil ein zum Teil aus realen Verhältnissen, aus der
Unzulänglichkeit von Handel und Verkehr namentlich, entsprungner Partikula¬
rismus die Ansprüche an die Komposition beherrschte. Kirchenkantaten waren
meistens nur für den Entstehungsort zu brauchen, in der Nachbarstadt schon
wichen die zu Grunde liegenden Choräle in Text und Melodie ab. Jeder
Hof verlangte seine eignen Opern, Sinfonien und Konzerte, jede Bürger¬
familie für ihre Freuden- und Trauertage Motetten und Lieder nach ihrem
Sinn. Jeder Kapellmeister, jeder Kantor und Organist mußte Komponist sein.
Sitte und Brauch zwangen zur Fruchtbarkeit, verhinderten die Talente brach
zu liegen und machten manchen zum Meister wider Willen. Zustände und
Anschauungen haben sich mittlerweile umgewandelt. Heute würde Händel keine


Gebrauch gekommen. Der deutsche Musiker reist heute zur Erholung, zum
Vergnügen, aber er macht keine Studienreisen mehr; er hat dafür auch das
Talent verloren. Führt ihn der Weg nach Italien, nach England, klagt er
dort über die schlechte Kirchenmusik, hier über die Salonmnsik, die Blüte der
Oper in dem einen, des Chorwescns im andern Lande, und eine Menge
kleinerer oder größerer Vorzüge kommen gegen heimische Anschauungen und
Nationalbewußtsein nicht durch. Franzosen und Norweger fördern noch gegen¬
wärtig hervorragende junge Musiker durch Stipendien ins Ausland. Auch für
Deutschland ist dieses alte Mittel der Weiterbildung zwar nicht mehr unent¬
behrlich, aber noch sehr wertvoll.

Am letzten Ende hängt aber nicht bloß die Weiterbildung, sondern die
Leistungsfähigkeit des Musikerstandes überhaupt eng mit seinen Erwerbsverhült-
nissen zusammen. Usus sang, in vorpms 83.no! Frische des Geistes setzt eine
gewisse Sorgenfreiheit voraus, und es fragt sich, ob diese dem tüchtigen Musiker
in demselben Grade gesichert ist, wie den Angehörigen andrer Stände. Da
muß zunächst entschieden werden, mit welchen Stünden sich der musikalische
vergleichen darf. Seiner Bedeutung und seinem Wesen nach gehört er zu den
privilegierten Berufsarten, denn er verrichtet im wesentlichen eine Kultur¬
arbeit, die wie die der Kirche und der Schule des Schutzes und der strengen
Regelung bedarf. Er hat diesen Schutz in der Zeit der Zünfte auch genossen,
ist aber im neunzehnten Jahrhundert mit andern Leidensgefährten in das Ex¬
periment der Gewerbefreiheit hineingezogen worden und der neuen Lage als
freier Gewerbetreibender bisher außerordentlich viel schuldig geblieben. In den
Erwerbsverhältnissen aller Musikerklassen, Komponisten, Virtuosen, Lehrer
herrscht eine übergroße Ungleichheit und Unsicherheit, und nur wenige Zweige
des Gewerbes, z. B. die Angehörigen der Zivilkapellen, haben etwas dagegen
gethan.

Zum guten Teil stehn wir bei dem Mißverhältnis zwischen Leistung und
äußerm Ertrag in der Musik vor einer unabänderlichen Thatsache. Etwas
unpraktischer, träumerischer Sinn ist von den meisten musikalischen Naturen
unzertrennlich, nur ausnahmsweise halten sich Talent und Weltklugheit die
Wage, und viele setzen ihre Kraft zu lang an falsche Ziele. Besonders groß
ist die Zahl der enttäuschten Komponisten und Virtuosen.

Der ältern Zeit war die Trennung zwischen schaffenden und ausübenden
Musikern unbekannt, weil ein zum Teil aus realen Verhältnissen, aus der
Unzulänglichkeit von Handel und Verkehr namentlich, entsprungner Partikula¬
rismus die Ansprüche an die Komposition beherrschte. Kirchenkantaten waren
meistens nur für den Entstehungsort zu brauchen, in der Nachbarstadt schon
wichen die zu Grunde liegenden Choräle in Text und Melodie ab. Jeder
Hof verlangte seine eignen Opern, Sinfonien und Konzerte, jede Bürger¬
familie für ihre Freuden- und Trauertage Motetten und Lieder nach ihrem
Sinn. Jeder Kapellmeister, jeder Kantor und Organist mußte Komponist sein.
Sitte und Brauch zwangen zur Fruchtbarkeit, verhinderten die Talente brach
zu liegen und machten manchen zum Meister wider Willen. Zustände und
Anschauungen haben sich mittlerweile umgewandelt. Heute würde Händel keine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/90>, abgerufen am 06.10.2024.