Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Marokko

geringern Posten einen besondern Grund haben müsse. Frische Nahrung be¬
kamen die Kombinationen, als der spanische Botschafter in Paris, Leon y
Eastillv, plötzlich nach Madrid berufen wurde, und in den französischen Zeitungen
ein auffallendes Bemühen um die Gunst Spaniens hervortrat. Daran mag
man die Nachricht reihen, die wir an der Spitze dieser Zeiten erwähnt habe":
das spanisch-französische Bündnis sei abgeschlossen worden.

Auf alle derartigen Kombinationen brauchte man nichts zu geben, wenn
nicht ein Untergrund allgemeiner Wahrscheinlichkeit für sie vorhanden wäre.
Marokko selbst ist so tief zerrüttet, daß seine Selbständigkeit nur noch geduldet
wird. Wenn es den andern Mächten einfällt, ihr ein Ende zu macheu, so
ist sie verloren. Es liegt ganz ähnlich damit, wie mit der Türkei, die auch
nur noch von der Uneinigkeit und vom Gleichgewicht der Nachbarn ihr Dasein
fristet. Kommt es zu einer Verständigung zwischen zwei Nachbarmächten, vor
der die dritte die Segel streicht, so ist über Marokko ebenso unbedingt ent¬
schieden, wie über Tunis oder Ägypten. Das wird wahrscheinlich nicht mit
offner Eroberung vor sich gehn, sondern in der Weise, daß der bisherige
Herrscher nominell Haupt des Landes bleibt und die Gerichtsbarkeit über seine
Stammesgenossen behält, sich aber in allem nach den Anweisungen der wahren
Gewalt richten muß. Tunis, Ägypten, viele indische Staaten geben das Vor-
bild dafür.

Wenn Madrid jetzt erklärt, ein Bündnis mit Frankreich sei nicht abge¬
schlossen worden, so glauben wir es gern. Noch ist ja auch Sagasta um
Ruder, der den Gedanken verworfen hat. Aber wenn der Führer der Kon¬
servativen ein solches Ziel offen verkündet, dann ist es eine der Realpolitik
angehörende Eventualität. Wird Silvela einmal wieder Minister, so kann die
Gefahr akut werden. Und eine solche Wendung ist an: Ende nicht fern. Das
marokkanische Problem sollte also nicht uur in England und Italien, sondern
anch in Deutschland sehr aufmerksam im Auge behalten werden.

Am meisten würde England betroffen werden. Seine ehemals so glänzende
Stellung im Mittelmeer ist durch das Emporkommen Frankreichs (man denke
nnr an Tunis mit Bizerta) und Rußlands (dem die Türkei jetzt nur uoch
wie eine morsche Planke entgegensteht) sehr verdunkelt. Die türkischen Be¬
festigungen und Kriegsschiffe bannen Rußland nicht mehr in den Bosporus.
England hat Ägypten gewonnen, aber seine Angreifbarkeit ist dadurch nur
noch mehr gewachsen. Die offne Verbindung mit dein fernen Osten durch den
Suezkanal ist ihm eine Lebensfrage. Die hierdurch angedeuteten Interessen
vervielfältigen und verfeinern sich von Jahr zu Jahr.

In dieser subtilen Lage der Dinge hat sich die englische Politik verleiten
lassen, ihre ehemalige Intimität mit Italien dein Verlangen nach Versöhnung
mit Frankreich zu opfern. Um über Faschvda ein heilendes Pflaster zu kleben,
hat sie mit Frankreich den Vertrag über das Hinterland von Tripolis ge¬
schlossen, wodurch diese italienische Znknnftshvffnnng ein entwertetes Ziel vor
sich sah. Geärgert dadurch hat sich Italien der französischen Republik ge¬
nähert und dieser die Erklärung abgegeben, in Marokko "desinteressiert" zu
sein; dafür hat es dann als französische Gegengabe die Versicherung empfangen,


Marokko

geringern Posten einen besondern Grund haben müsse. Frische Nahrung be¬
kamen die Kombinationen, als der spanische Botschafter in Paris, Leon y
Eastillv, plötzlich nach Madrid berufen wurde, und in den französischen Zeitungen
ein auffallendes Bemühen um die Gunst Spaniens hervortrat. Daran mag
man die Nachricht reihen, die wir an der Spitze dieser Zeiten erwähnt habe«:
das spanisch-französische Bündnis sei abgeschlossen worden.

Auf alle derartigen Kombinationen brauchte man nichts zu geben, wenn
nicht ein Untergrund allgemeiner Wahrscheinlichkeit für sie vorhanden wäre.
Marokko selbst ist so tief zerrüttet, daß seine Selbständigkeit nur noch geduldet
wird. Wenn es den andern Mächten einfällt, ihr ein Ende zu macheu, so
ist sie verloren. Es liegt ganz ähnlich damit, wie mit der Türkei, die auch
nur noch von der Uneinigkeit und vom Gleichgewicht der Nachbarn ihr Dasein
fristet. Kommt es zu einer Verständigung zwischen zwei Nachbarmächten, vor
der die dritte die Segel streicht, so ist über Marokko ebenso unbedingt ent¬
schieden, wie über Tunis oder Ägypten. Das wird wahrscheinlich nicht mit
offner Eroberung vor sich gehn, sondern in der Weise, daß der bisherige
Herrscher nominell Haupt des Landes bleibt und die Gerichtsbarkeit über seine
Stammesgenossen behält, sich aber in allem nach den Anweisungen der wahren
Gewalt richten muß. Tunis, Ägypten, viele indische Staaten geben das Vor-
bild dafür.

Wenn Madrid jetzt erklärt, ein Bündnis mit Frankreich sei nicht abge¬
schlossen worden, so glauben wir es gern. Noch ist ja auch Sagasta um
Ruder, der den Gedanken verworfen hat. Aber wenn der Führer der Kon¬
servativen ein solches Ziel offen verkündet, dann ist es eine der Realpolitik
angehörende Eventualität. Wird Silvela einmal wieder Minister, so kann die
Gefahr akut werden. Und eine solche Wendung ist an: Ende nicht fern. Das
marokkanische Problem sollte also nicht uur in England und Italien, sondern
anch in Deutschland sehr aufmerksam im Auge behalten werden.

Am meisten würde England betroffen werden. Seine ehemals so glänzende
Stellung im Mittelmeer ist durch das Emporkommen Frankreichs (man denke
nnr an Tunis mit Bizerta) und Rußlands (dem die Türkei jetzt nur uoch
wie eine morsche Planke entgegensteht) sehr verdunkelt. Die türkischen Be¬
festigungen und Kriegsschiffe bannen Rußland nicht mehr in den Bosporus.
England hat Ägypten gewonnen, aber seine Angreifbarkeit ist dadurch nur
noch mehr gewachsen. Die offne Verbindung mit dein fernen Osten durch den
Suezkanal ist ihm eine Lebensfrage. Die hierdurch angedeuteten Interessen
vervielfältigen und verfeinern sich von Jahr zu Jahr.

In dieser subtilen Lage der Dinge hat sich die englische Politik verleiten
lassen, ihre ehemalige Intimität mit Italien dein Verlangen nach Versöhnung
mit Frankreich zu opfern. Um über Faschvda ein heilendes Pflaster zu kleben,
hat sie mit Frankreich den Vertrag über das Hinterland von Tripolis ge¬
schlossen, wodurch diese italienische Znknnftshvffnnng ein entwertetes Ziel vor
sich sah. Geärgert dadurch hat sich Italien der französischen Republik ge¬
nähert und dieser die Erklärung abgegeben, in Marokko „desinteressiert" zu
sein; dafür hat es dann als französische Gegengabe die Versicherung empfangen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/238866"/>
          <fw type="header" place="top"> Marokko</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_281" prev="#ID_280"> geringern Posten einen besondern Grund haben müsse. Frische Nahrung be¬<lb/>
kamen die Kombinationen, als der spanische Botschafter in Paris, Leon y<lb/>
Eastillv, plötzlich nach Madrid berufen wurde, und in den französischen Zeitungen<lb/>
ein auffallendes Bemühen um die Gunst Spaniens hervortrat. Daran mag<lb/>
man die Nachricht reihen, die wir an der Spitze dieser Zeiten erwähnt habe«:<lb/>
das spanisch-französische Bündnis sei abgeschlossen worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_282"> Auf alle derartigen Kombinationen brauchte man nichts zu geben, wenn<lb/>
nicht ein Untergrund allgemeiner Wahrscheinlichkeit für sie vorhanden wäre.<lb/>
Marokko selbst ist so tief zerrüttet, daß seine Selbständigkeit nur noch geduldet<lb/>
wird. Wenn es den andern Mächten einfällt, ihr ein Ende zu macheu, so<lb/>
ist sie verloren. Es liegt ganz ähnlich damit, wie mit der Türkei, die auch<lb/>
nur noch von der Uneinigkeit und vom Gleichgewicht der Nachbarn ihr Dasein<lb/>
fristet. Kommt es zu einer Verständigung zwischen zwei Nachbarmächten, vor<lb/>
der die dritte die Segel streicht, so ist über Marokko ebenso unbedingt ent¬<lb/>
schieden, wie über Tunis oder Ägypten. Das wird wahrscheinlich nicht mit<lb/>
offner Eroberung vor sich gehn, sondern in der Weise, daß der bisherige<lb/>
Herrscher nominell Haupt des Landes bleibt und die Gerichtsbarkeit über seine<lb/>
Stammesgenossen behält, sich aber in allem nach den Anweisungen der wahren<lb/>
Gewalt richten muß. Tunis, Ägypten, viele indische Staaten geben das Vor-<lb/>
bild dafür.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_283"> Wenn Madrid jetzt erklärt, ein Bündnis mit Frankreich sei nicht abge¬<lb/>
schlossen worden, so glauben wir es gern. Noch ist ja auch Sagasta um<lb/>
Ruder, der den Gedanken verworfen hat. Aber wenn der Führer der Kon¬<lb/>
servativen ein solches Ziel offen verkündet, dann ist es eine der Realpolitik<lb/>
angehörende Eventualität. Wird Silvela einmal wieder Minister, so kann die<lb/>
Gefahr akut werden. Und eine solche Wendung ist an: Ende nicht fern. Das<lb/>
marokkanische Problem sollte also nicht uur in England und Italien, sondern<lb/>
anch in Deutschland sehr aufmerksam im Auge behalten werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_284"> Am meisten würde England betroffen werden. Seine ehemals so glänzende<lb/>
Stellung im Mittelmeer ist durch das Emporkommen Frankreichs (man denke<lb/>
nnr an Tunis mit Bizerta) und Rußlands (dem die Türkei jetzt nur uoch<lb/>
wie eine morsche Planke entgegensteht) sehr verdunkelt. Die türkischen Be¬<lb/>
festigungen und Kriegsschiffe bannen Rußland nicht mehr in den Bosporus.<lb/>
England hat Ägypten gewonnen, aber seine Angreifbarkeit ist dadurch nur<lb/>
noch mehr gewachsen. Die offne Verbindung mit dein fernen Osten durch den<lb/>
Suezkanal ist ihm eine Lebensfrage. Die hierdurch angedeuteten Interessen<lb/>
vervielfältigen und verfeinern sich von Jahr zu Jahr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_285" next="#ID_286"> In dieser subtilen Lage der Dinge hat sich die englische Politik verleiten<lb/>
lassen, ihre ehemalige Intimität mit Italien dein Verlangen nach Versöhnung<lb/>
mit Frankreich zu opfern. Um über Faschvda ein heilendes Pflaster zu kleben,<lb/>
hat sie mit Frankreich den Vertrag über das Hinterland von Tripolis ge¬<lb/>
schlossen, wodurch diese italienische Znknnftshvffnnng ein entwertetes Ziel vor<lb/>
sich sah. Geärgert dadurch hat sich Italien der französischen Republik ge¬<lb/>
nähert und dieser die Erklärung abgegeben, in Marokko &#x201E;desinteressiert" zu<lb/>
sein; dafür hat es dann als französische Gegengabe die Versicherung empfangen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0078] Marokko geringern Posten einen besondern Grund haben müsse. Frische Nahrung be¬ kamen die Kombinationen, als der spanische Botschafter in Paris, Leon y Eastillv, plötzlich nach Madrid berufen wurde, und in den französischen Zeitungen ein auffallendes Bemühen um die Gunst Spaniens hervortrat. Daran mag man die Nachricht reihen, die wir an der Spitze dieser Zeiten erwähnt habe«: das spanisch-französische Bündnis sei abgeschlossen worden. Auf alle derartigen Kombinationen brauchte man nichts zu geben, wenn nicht ein Untergrund allgemeiner Wahrscheinlichkeit für sie vorhanden wäre. Marokko selbst ist so tief zerrüttet, daß seine Selbständigkeit nur noch geduldet wird. Wenn es den andern Mächten einfällt, ihr ein Ende zu macheu, so ist sie verloren. Es liegt ganz ähnlich damit, wie mit der Türkei, die auch nur noch von der Uneinigkeit und vom Gleichgewicht der Nachbarn ihr Dasein fristet. Kommt es zu einer Verständigung zwischen zwei Nachbarmächten, vor der die dritte die Segel streicht, so ist über Marokko ebenso unbedingt ent¬ schieden, wie über Tunis oder Ägypten. Das wird wahrscheinlich nicht mit offner Eroberung vor sich gehn, sondern in der Weise, daß der bisherige Herrscher nominell Haupt des Landes bleibt und die Gerichtsbarkeit über seine Stammesgenossen behält, sich aber in allem nach den Anweisungen der wahren Gewalt richten muß. Tunis, Ägypten, viele indische Staaten geben das Vor- bild dafür. Wenn Madrid jetzt erklärt, ein Bündnis mit Frankreich sei nicht abge¬ schlossen worden, so glauben wir es gern. Noch ist ja auch Sagasta um Ruder, der den Gedanken verworfen hat. Aber wenn der Führer der Kon¬ servativen ein solches Ziel offen verkündet, dann ist es eine der Realpolitik angehörende Eventualität. Wird Silvela einmal wieder Minister, so kann die Gefahr akut werden. Und eine solche Wendung ist an: Ende nicht fern. Das marokkanische Problem sollte also nicht uur in England und Italien, sondern anch in Deutschland sehr aufmerksam im Auge behalten werden. Am meisten würde England betroffen werden. Seine ehemals so glänzende Stellung im Mittelmeer ist durch das Emporkommen Frankreichs (man denke nnr an Tunis mit Bizerta) und Rußlands (dem die Türkei jetzt nur uoch wie eine morsche Planke entgegensteht) sehr verdunkelt. Die türkischen Be¬ festigungen und Kriegsschiffe bannen Rußland nicht mehr in den Bosporus. England hat Ägypten gewonnen, aber seine Angreifbarkeit ist dadurch nur noch mehr gewachsen. Die offne Verbindung mit dein fernen Osten durch den Suezkanal ist ihm eine Lebensfrage. Die hierdurch angedeuteten Interessen vervielfältigen und verfeinern sich von Jahr zu Jahr. In dieser subtilen Lage der Dinge hat sich die englische Politik verleiten lassen, ihre ehemalige Intimität mit Italien dein Verlangen nach Versöhnung mit Frankreich zu opfern. Um über Faschvda ein heilendes Pflaster zu kleben, hat sie mit Frankreich den Vertrag über das Hinterland von Tripolis ge¬ schlossen, wodurch diese italienische Znknnftshvffnnng ein entwertetes Ziel vor sich sah. Geärgert dadurch hat sich Italien der französischen Republik ge¬ nähert und dieser die Erklärung abgegeben, in Marokko „desinteressiert" zu sein; dafür hat es dann als französische Gegengabe die Versicherung empfangen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/78
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/78>, abgerufen am 01.09.2024.