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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

schlechten Lehrmethode, in der falschen Disziplin und in ungünstigen Verhältnissen,
das bestreitet heute wohl niemand mehr. Schon vor 800 Jahren sagte Anselm
von Canterbury einem Klosterabt, der sich über die Roheit und den Stumpfsinn seiner
Zöglinge beklagte, die er vergebens mit Schlägen zum Guten zu zwingen suche:
Eine traurige Erziehung das, mit der ihr ans Menschen Vieh und wilde Tiere
macht! Liegt es nun nicht nahe, alles sittlich Böse ans gleiche Weise zu erklären?
Die tiefste Wurzel freilich: der Ratschluß Gottes, eine Welt zu schaffen, in der sich
Natur, menschliches Unvermögen und menschlicher Unverstand vereinigen, immer
wieder aufs neue Böses zu erzeugen, der bleibt uns verborgen; aber um vernünftig
und heilsam zu wirken, bedürfen wir der Kenntnis dieses Ratschlusses nicht. Mochte
in diesem der Teufel auch wirklich eine Rolle spielen, für die Praxis, das sagt
uns eine zweitausendjährige Erfahrung, ist es weit nützlicher, wenn wir ihn aus
demi Spiele lassen und nur die Beweggründe und Bedürfnisse der Menschen, ihren
Verstand und ihren Unverstand in Rechnung stellen.

Der Kritik des heutigen Kirchenwesens in der vorliegenden Schrift können
wir beipflichten. Der Verfasser findet ihre Verfehlungen u. a. darin, daß die ka¬
tholische Kirche die Welt zu beherrschen suche, die protestantischen Kirchen ihr allzu¬
sehr dienen. Er schreibt: Es giebt keinen christlichen Staat und kann keinen geben,
und weist auch die Einbildung zurück, das echte und wahre Christentum sei ein
Privilegium der Deutschen. (Es giebt heutzutage mancherlei Urteutonen; die um
schönerer jammern darüber, daß Judentum und Christentum die Deutschen ver¬
dorben und ihnen ihre eigentümliche Religion geraubt hätten.) Diese.Kritik hängt
durchaus nicht so eng mit Pestalozzis Theologie zusammen, daß sie durch deren Ab¬
lehnung hinfällig würde. Mit seiner Theologie will er den Zeitgenossen zur wahren
Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis verhelfen. Nun bekennt er aber selbst, daß
die Belehrung nicht ausreicht, wo die persönliche Erfahrung fehlt, die allein eine
Gotteserkenntnis und eine Glaubenskraft erzeugen könne, wie sie Paulus hatte. Das
ist vollkommen richtig. Wir aber folgern daraus zweierlei. Erstens lassen sich weder
innere noch äußere Erfahrungen erzwingen. Was Musik ist, kann keiner wissen, der
nie Musik gehört hat. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen aber gleicht in Be¬
ziehung auf die Wahrnehmung des Göttlichen einem stocktauben. Folglich kann Gott
gar nicht wollen, daß alle Menschen im höchsten Sinne des Wortes Christen seien;
hätte er es gewollt, so hätte er ihnen die äußern Fügungen und das innere Organ
zu ihrer Wahrnehmung nicht versagt. Zweitens machen andre ganz andre Erfahrungen
als Pestalozzi, und sie glauben aus diesen Erfahrungen entnehmen zu sollen, daß
die Welt keineswegs, wie Pestalozzi glaubt, überwunden, der Weltsinn vernichtet
werden soll; sie finden, daß ohne die Welt und den Weltgeist das echte Christentum
und sein Gottesgeist gnr nicht da sein, sich nicht bethätigen könnten, und sie ver¬
muten, daß die Welt nicht vom Teufel, sondern sozusagen das Weben der linken
Hand Gottes ist, die mit der rechten zusammen der Gottheit lebendiges Kleid wirkt.
Buh so verschiednen Erfahrungen folgern wir, daß der einen nicht Alleinberechtigung
zuerkannt werden darf.


Eine konfessionelle Friedensliga?

"Die Botschaft hör ich wohl, allein
mir fehlt der Glaube." Dieses oft zitierte Wort bezeichnet am beste" die Auf¬
nahme, die der Versuch, auf eine konfessionelle Friedensvereinignng hinzuarbeiten,
bei den meisten in Nord- und Süddeutschland gefunden hat. Und doch haben wir
keine Veranlassung, den Gedanken an einen Friedensbund aufzugeben und alle dahin
zielenden Pläne in das Reich utopistischer Träumerei zu verweisen; denn große, kühne
Unternehmungen Pflegen nicht über Nacht fertig dazustehn, sondern bedürfen meist einer
langsamen, stetigen Entwicklung. Warum sollte es in diesem Fall anders sein?

Ja, auch dann, wenn der Versuch zu Wasser werden sollte, würde das Be¬
wußtsein, etwas Gutes für die Wohlfahrt der Nation gewollt zu haben, reichlich
trösten und die leidige Empfindung der Enttäuschung völlig aufheben. Noch sind
wir nicht so weit. Auch ans die Gefahr hin, zu den unverbesserlichen Idealisten


Maßgebliches und Unmaßgebliches

schlechten Lehrmethode, in der falschen Disziplin und in ungünstigen Verhältnissen,
das bestreitet heute wohl niemand mehr. Schon vor 800 Jahren sagte Anselm
von Canterbury einem Klosterabt, der sich über die Roheit und den Stumpfsinn seiner
Zöglinge beklagte, die er vergebens mit Schlägen zum Guten zu zwingen suche:
Eine traurige Erziehung das, mit der ihr ans Menschen Vieh und wilde Tiere
macht! Liegt es nun nicht nahe, alles sittlich Böse ans gleiche Weise zu erklären?
Die tiefste Wurzel freilich: der Ratschluß Gottes, eine Welt zu schaffen, in der sich
Natur, menschliches Unvermögen und menschlicher Unverstand vereinigen, immer
wieder aufs neue Böses zu erzeugen, der bleibt uns verborgen; aber um vernünftig
und heilsam zu wirken, bedürfen wir der Kenntnis dieses Ratschlusses nicht. Mochte
in diesem der Teufel auch wirklich eine Rolle spielen, für die Praxis, das sagt
uns eine zweitausendjährige Erfahrung, ist es weit nützlicher, wenn wir ihn aus
demi Spiele lassen und nur die Beweggründe und Bedürfnisse der Menschen, ihren
Verstand und ihren Unverstand in Rechnung stellen.

Der Kritik des heutigen Kirchenwesens in der vorliegenden Schrift können
wir beipflichten. Der Verfasser findet ihre Verfehlungen u. a. darin, daß die ka¬
tholische Kirche die Welt zu beherrschen suche, die protestantischen Kirchen ihr allzu¬
sehr dienen. Er schreibt: Es giebt keinen christlichen Staat und kann keinen geben,
und weist auch die Einbildung zurück, das echte und wahre Christentum sei ein
Privilegium der Deutschen. (Es giebt heutzutage mancherlei Urteutonen; die um
schönerer jammern darüber, daß Judentum und Christentum die Deutschen ver¬
dorben und ihnen ihre eigentümliche Religion geraubt hätten.) Diese.Kritik hängt
durchaus nicht so eng mit Pestalozzis Theologie zusammen, daß sie durch deren Ab¬
lehnung hinfällig würde. Mit seiner Theologie will er den Zeitgenossen zur wahren
Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis verhelfen. Nun bekennt er aber selbst, daß
die Belehrung nicht ausreicht, wo die persönliche Erfahrung fehlt, die allein eine
Gotteserkenntnis und eine Glaubenskraft erzeugen könne, wie sie Paulus hatte. Das
ist vollkommen richtig. Wir aber folgern daraus zweierlei. Erstens lassen sich weder
innere noch äußere Erfahrungen erzwingen. Was Musik ist, kann keiner wissen, der
nie Musik gehört hat. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen aber gleicht in Be¬
ziehung auf die Wahrnehmung des Göttlichen einem stocktauben. Folglich kann Gott
gar nicht wollen, daß alle Menschen im höchsten Sinne des Wortes Christen seien;
hätte er es gewollt, so hätte er ihnen die äußern Fügungen und das innere Organ
zu ihrer Wahrnehmung nicht versagt. Zweitens machen andre ganz andre Erfahrungen
als Pestalozzi, und sie glauben aus diesen Erfahrungen entnehmen zu sollen, daß
die Welt keineswegs, wie Pestalozzi glaubt, überwunden, der Weltsinn vernichtet
werden soll; sie finden, daß ohne die Welt und den Weltgeist das echte Christentum
und sein Gottesgeist gnr nicht da sein, sich nicht bethätigen könnten, und sie ver¬
muten, daß die Welt nicht vom Teufel, sondern sozusagen das Weben der linken
Hand Gottes ist, die mit der rechten zusammen der Gottheit lebendiges Kleid wirkt.
Buh so verschiednen Erfahrungen folgern wir, daß der einen nicht Alleinberechtigung
zuerkannt werden darf.


Eine konfessionelle Friedensliga?

„Die Botschaft hör ich wohl, allein
mir fehlt der Glaube." Dieses oft zitierte Wort bezeichnet am beste» die Auf¬
nahme, die der Versuch, auf eine konfessionelle Friedensvereinignng hinzuarbeiten,
bei den meisten in Nord- und Süddeutschland gefunden hat. Und doch haben wir
keine Veranlassung, den Gedanken an einen Friedensbund aufzugeben und alle dahin
zielenden Pläne in das Reich utopistischer Träumerei zu verweisen; denn große, kühne
Unternehmungen Pflegen nicht über Nacht fertig dazustehn, sondern bedürfen meist einer
langsamen, stetigen Entwicklung. Warum sollte es in diesem Fall anders sein?

Ja, auch dann, wenn der Versuch zu Wasser werden sollte, würde das Be¬
wußtsein, etwas Gutes für die Wohlfahrt der Nation gewollt zu haben, reichlich
trösten und die leidige Empfindung der Enttäuschung völlig aufheben. Noch sind
wir nicht so weit. Auch ans die Gefahr hin, zu den unverbesserlichen Idealisten


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[0756] Maßgebliches und Unmaßgebliches schlechten Lehrmethode, in der falschen Disziplin und in ungünstigen Verhältnissen, das bestreitet heute wohl niemand mehr. Schon vor 800 Jahren sagte Anselm von Canterbury einem Klosterabt, der sich über die Roheit und den Stumpfsinn seiner Zöglinge beklagte, die er vergebens mit Schlägen zum Guten zu zwingen suche: Eine traurige Erziehung das, mit der ihr ans Menschen Vieh und wilde Tiere macht! Liegt es nun nicht nahe, alles sittlich Böse ans gleiche Weise zu erklären? Die tiefste Wurzel freilich: der Ratschluß Gottes, eine Welt zu schaffen, in der sich Natur, menschliches Unvermögen und menschlicher Unverstand vereinigen, immer wieder aufs neue Böses zu erzeugen, der bleibt uns verborgen; aber um vernünftig und heilsam zu wirken, bedürfen wir der Kenntnis dieses Ratschlusses nicht. Mochte in diesem der Teufel auch wirklich eine Rolle spielen, für die Praxis, das sagt uns eine zweitausendjährige Erfahrung, ist es weit nützlicher, wenn wir ihn aus demi Spiele lassen und nur die Beweggründe und Bedürfnisse der Menschen, ihren Verstand und ihren Unverstand in Rechnung stellen. Der Kritik des heutigen Kirchenwesens in der vorliegenden Schrift können wir beipflichten. Der Verfasser findet ihre Verfehlungen u. a. darin, daß die ka¬ tholische Kirche die Welt zu beherrschen suche, die protestantischen Kirchen ihr allzu¬ sehr dienen. Er schreibt: Es giebt keinen christlichen Staat und kann keinen geben, und weist auch die Einbildung zurück, das echte und wahre Christentum sei ein Privilegium der Deutschen. (Es giebt heutzutage mancherlei Urteutonen; die um schönerer jammern darüber, daß Judentum und Christentum die Deutschen ver¬ dorben und ihnen ihre eigentümliche Religion geraubt hätten.) Diese.Kritik hängt durchaus nicht so eng mit Pestalozzis Theologie zusammen, daß sie durch deren Ab¬ lehnung hinfällig würde. Mit seiner Theologie will er den Zeitgenossen zur wahren Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis verhelfen. Nun bekennt er aber selbst, daß die Belehrung nicht ausreicht, wo die persönliche Erfahrung fehlt, die allein eine Gotteserkenntnis und eine Glaubenskraft erzeugen könne, wie sie Paulus hatte. Das ist vollkommen richtig. Wir aber folgern daraus zweierlei. Erstens lassen sich weder innere noch äußere Erfahrungen erzwingen. Was Musik ist, kann keiner wissen, der nie Musik gehört hat. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen aber gleicht in Be¬ ziehung auf die Wahrnehmung des Göttlichen einem stocktauben. Folglich kann Gott gar nicht wollen, daß alle Menschen im höchsten Sinne des Wortes Christen seien; hätte er es gewollt, so hätte er ihnen die äußern Fügungen und das innere Organ zu ihrer Wahrnehmung nicht versagt. Zweitens machen andre ganz andre Erfahrungen als Pestalozzi, und sie glauben aus diesen Erfahrungen entnehmen zu sollen, daß die Welt keineswegs, wie Pestalozzi glaubt, überwunden, der Weltsinn vernichtet werden soll; sie finden, daß ohne die Welt und den Weltgeist das echte Christentum und sein Gottesgeist gnr nicht da sein, sich nicht bethätigen könnten, und sie ver¬ muten, daß die Welt nicht vom Teufel, sondern sozusagen das Weben der linken Hand Gottes ist, die mit der rechten zusammen der Gottheit lebendiges Kleid wirkt. Buh so verschiednen Erfahrungen folgern wir, daß der einen nicht Alleinberechtigung zuerkannt werden darf. Eine konfessionelle Friedensliga? „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube." Dieses oft zitierte Wort bezeichnet am beste» die Auf¬ nahme, die der Versuch, auf eine konfessionelle Friedensvereinignng hinzuarbeiten, bei den meisten in Nord- und Süddeutschland gefunden hat. Und doch haben wir keine Veranlassung, den Gedanken an einen Friedensbund aufzugeben und alle dahin zielenden Pläne in das Reich utopistischer Träumerei zu verweisen; denn große, kühne Unternehmungen Pflegen nicht über Nacht fertig dazustehn, sondern bedürfen meist einer langsamen, stetigen Entwicklung. Warum sollte es in diesem Fall anders sein? Ja, auch dann, wenn der Versuch zu Wasser werden sollte, würde das Be¬ wußtsein, etwas Gutes für die Wohlfahrt der Nation gewollt zu haben, reichlich trösten und die leidige Empfindung der Enttäuschung völlig aufheben. Noch sind wir nicht so weit. Auch ans die Gefahr hin, zu den unverbesserlichen Idealisten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/756>, abgerufen am 01.09.2024.