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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Gedanke a" die Strenge des Gesetzes, an die Mitleidlosigkeit der Menschen
und -- der Blick in das eigne Herz wecken keine Hoffnungen. Und Erwar¬
tungen? -- ach ja, erwarten darfst du mancherlei, nur nichts Gutes, nichts
Frohes, nichts Schönes mehr! Was erwartet dich, wenn die Stunde der Freiheit
dir einst schlägt? Wenn du nach verbüßter Strafe aus dem Zuchthaus ent¬
lassen, in die Welt hinaus, unter deine Brüder trittst? Ach, wo ist da einer,
der nicht dem ältern Bruder des Gleichnisses gliche, der da zornig wurde, als
seines Vaters Verlorner Sohn wiedergekehrt war, und der es nicht mit ansehen
konnte, daß jenem wieder der Tisch gedeckt wurde? New, erwarte nichts mehr,
wenn du in diesem Hanse gewesen bist. Wenn deine Strafe verbüßt ist, so
fängt sie eigentlich erst an!

Das sind die Silvestergedanken, mit denen sich die ernstern unter den Ge¬
fangnen tragen, die Unglücklichen, die nicht Stammgäste werden wollen in diesem
Hanse, in das ich den Leser heute zu flüchtigen Besuche geführt habe. Wie
wäre es, wenn diese Silvesterfeier den Leser dazu anregte, sich im kommenden
Jahre nicht bloß mit einem kalten Geldbeitrag für irgendeinen der "Fürsorge-
Vereine für entlassene Sträflinge," deren Name allein schon die Hilfesuchenden
abschreckt, abzufinden, sondern dem jüngern Bruder selbst freundlich die Hand
zu reichen, wenn er etwa an seiue Thür klopfen sollte?




Griechische Kultur in der modernen
Johannes Geffcken von

chon UM die Mitte der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahr¬
hunderts sind die realistischen Schulen aufgekommen, deren erste
energische Lebensbethätigung sich in heftiger Polemik gegen "die
auf der Sitzbank vermüfften Geschöpfe" des Gymnasiunis'äußerte,
wie es Immermann in seinem Zeitspiegel, den "Epigonen," einem
Realschulmann in den Mund legt. Auch damals schon siel im
Lager der glücklich Besitzenden, der Freunde der absoluten Gymnasialbildung,
manches Wort, das in spätern Zeiten wieder erklungen ist, und auch manche
Parteiphrase. Dann wurde es wieder auf lange Zeit ruhig; die Vertreter
der humanistischen Bildung glaubten sich weiter ihres ungestörten Besitzes er¬
neuen zu können, obwohl die Gegner, rührig wie jede Attivnspartei° nicht
müßig blieben, bis dann endlich vorausfliegende Sturmvögel auch dem behag¬
lichsten Schulmann in der Geißblattlaube eines kleinen Städtchens, dem un¬
gläubigsten Optimisten einen Orkan gegen alles, was ihm bisher teuer gewesen
war, verkündete.

Nun wurde mobil gemacht im Philologeulager; der Abfall weniger, die
chrer Wissenschaft nicht froh geworden waren, zählte nicht viel, machte die
Leiden noch nicht dünner. Aber leider war die Mobilmachung doch nicht
allgemein; die Universitäten hielten sich fast ganz beiseite. Männer, von denen
man erwartet hatte, daß sie ihre bisher bei jeder Gelegenheit so kräftig be¬
herrschende Stimme erheben würden, schwiegen oder meinten, die Wissenschaft
würde dadurch, daß sie den Boden der Schule verlöre, in sublnner Höhe über
ven Erdenstnub schwebend nur um so freier die glänzenden Schwingen ent-


Grenzboten IV 1902 "1

Gedanke a» die Strenge des Gesetzes, an die Mitleidlosigkeit der Menschen
und — der Blick in das eigne Herz wecken keine Hoffnungen. Und Erwar¬
tungen? — ach ja, erwarten darfst du mancherlei, nur nichts Gutes, nichts
Frohes, nichts Schönes mehr! Was erwartet dich, wenn die Stunde der Freiheit
dir einst schlägt? Wenn du nach verbüßter Strafe aus dem Zuchthaus ent¬
lassen, in die Welt hinaus, unter deine Brüder trittst? Ach, wo ist da einer,
der nicht dem ältern Bruder des Gleichnisses gliche, der da zornig wurde, als
seines Vaters Verlorner Sohn wiedergekehrt war, und der es nicht mit ansehen
konnte, daß jenem wieder der Tisch gedeckt wurde? New, erwarte nichts mehr,
wenn du in diesem Hanse gewesen bist. Wenn deine Strafe verbüßt ist, so
fängt sie eigentlich erst an!

Das sind die Silvestergedanken, mit denen sich die ernstern unter den Ge¬
fangnen tragen, die Unglücklichen, die nicht Stammgäste werden wollen in diesem
Hanse, in das ich den Leser heute zu flüchtigen Besuche geführt habe. Wie
wäre es, wenn diese Silvesterfeier den Leser dazu anregte, sich im kommenden
Jahre nicht bloß mit einem kalten Geldbeitrag für irgendeinen der „Fürsorge-
Vereine für entlassene Sträflinge," deren Name allein schon die Hilfesuchenden
abschreckt, abzufinden, sondern dem jüngern Bruder selbst freundlich die Hand
zu reichen, wenn er etwa an seiue Thür klopfen sollte?




Griechische Kultur in der modernen
Johannes Geffcken von

chon UM die Mitte der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahr¬
hunderts sind die realistischen Schulen aufgekommen, deren erste
energische Lebensbethätigung sich in heftiger Polemik gegen „die
auf der Sitzbank vermüfften Geschöpfe" des Gymnasiunis'äußerte,
wie es Immermann in seinem Zeitspiegel, den „Epigonen," einem
Realschulmann in den Mund legt. Auch damals schon siel im
Lager der glücklich Besitzenden, der Freunde der absoluten Gymnasialbildung,
manches Wort, das in spätern Zeiten wieder erklungen ist, und auch manche
Parteiphrase. Dann wurde es wieder auf lange Zeit ruhig; die Vertreter
der humanistischen Bildung glaubten sich weiter ihres ungestörten Besitzes er¬
neuen zu können, obwohl die Gegner, rührig wie jede Attivnspartei° nicht
müßig blieben, bis dann endlich vorausfliegende Sturmvögel auch dem behag¬
lichsten Schulmann in der Geißblattlaube eines kleinen Städtchens, dem un¬
gläubigsten Optimisten einen Orkan gegen alles, was ihm bisher teuer gewesen
war, verkündete.

Nun wurde mobil gemacht im Philologeulager; der Abfall weniger, die
chrer Wissenschaft nicht froh geworden waren, zählte nicht viel, machte die
Leiden noch nicht dünner. Aber leider war die Mobilmachung doch nicht
allgemein; die Universitäten hielten sich fast ganz beiseite. Männer, von denen
man erwartet hatte, daß sie ihre bisher bei jeder Gelegenheit so kräftig be¬
herrschende Stimme erheben würden, schwiegen oder meinten, die Wissenschaft
würde dadurch, daß sie den Boden der Schule verlöre, in sublnner Höhe über
ven Erdenstnub schwebend nur um so freier die glänzenden Schwingen ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/731>, abgerufen am 01.09.2024.