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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Line Silvesterfeier im Zuchthaus

durch einsames Nachdenken, Dort drüben, links, nur je drei auf einer Bank
also in großen Abständen voneinander, die Isolierten, meist junge Burschen.
Oben auf dem Chor auch noch Gemeinschastsgefmigne. Ein mächtiger Altar!
Die beiden schweren Säulen zu seiner Seite rahmen das große Altarbild ein -
es ist schon stark gedunkelt, und bei dem Schein der vier brennenden Wachs¬
kerzen kann man nur mühsam erkennen, daß es Jesum den Gekreuzigten dar¬
stellt, den, der für die Sünder gestorben ist. Auch für diese hier? In goldnen
Buchstaben flammt ihnen allen, die hier versammelt sind, von der Altardecke
das größte und holdeste Wort entgegen, das je gesprochen worden ist: "Kommet
her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken."

Wer kann so sprechen? Wenn ein Mensch hente so spräche, sei es draußen
auf der lärmenden Gasse zur haftenden Menge, sei es hier drinnen im stillen
Kirchlein zu den Insassen des Zuchthauses -- müßte dem nicht die unruhige
Flamme des Größenwahns aus dem unsteten Auge lodern? Wer kann so
sprechen, hente noch wie einst? Gott -- Gott -- ein leises Achselzucken, ein
spöttischer Zug um die Mundwinkel verrät, was in jenem Gefangnen dort
vorgeht, der diese Gedankengänge macht; er läßt sein Auge weiter schweifen,
da trifft ihn hoch oben von der Wölbung der Altarnische das wohlbekannte Wort:
"Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein
Wohlgefallen!" -- und nun wird das Achselzucken energischer und verächtlicher,
um die blassen Lippen spielt bitterster Hohn. Jawohl! Friede auf Erden --
um Zuchthaus! deu Menschen ein Wohlgefallen -- im Zuchthaus -- im
Zuchthaus!

Da rasselt wieder ein Schlüsselbund, ein Riegel knarrt, eine Thür wird
geöffnet; ernst und gemessen schreitet der Geistliche durch den Mittelgang und
tritt in den kleinen als Sakristei dienenden Raum. Und nun braust Orgel¬
klang durch die Kirche.

Wie unendlich viel hängt hier von dem Manne ab, der in dieser
Umgebung, nnter diesen Verhältnissen an den Seelen dieser Menschen zu
arbeiten hat!

Silvesterabend! Zwar noch ist es nicht recht Abend, erst vier Uhr nach¬
mittags; der Gottesdienst muß beendet, und die Leute müssen wieder in ihre
Räume eingerückt sein, ehe die Austeilung der Abendsuppe um 5^ Uhr be¬
ginnt. So kämpft das vom großen Hofe durch die vergitterten Fenster herein¬
fallende Tageslicht noch ein Weilchen mit dem hellstrahlenden Glänze der
weit mehr als hundert Kerzen, die von den beiden großen Tannenbünmen herab-
schimmern, die rechts und links vom Altar aufgestellt und mit Lametta und
andern, Flitter behängt sind. Diese Kerzen brannten schon vor einer Woche,
bei dem Gottesdienst, der am heiligen Abend um dieselbe Stunde wie heute
die Gefangnen zur bitter wehmütigen Weihnachtsfeier vereinte.

Die Orgel -- sie ist nicht groß und auch an Tönen wenig umfangreich,
aber für den kleinen Raum völlig ausreichend -- hat nach kurzem Vorspiel
das ergreifende Silvesterlied der Fürstin Reuß intoniert:


Das Jahr geht still zu Ende,
So sei auch still, mein Herz!

Line Silvesterfeier im Zuchthaus

durch einsames Nachdenken, Dort drüben, links, nur je drei auf einer Bank
also in großen Abständen voneinander, die Isolierten, meist junge Burschen.
Oben auf dem Chor auch noch Gemeinschastsgefmigne. Ein mächtiger Altar!
Die beiden schweren Säulen zu seiner Seite rahmen das große Altarbild ein -
es ist schon stark gedunkelt, und bei dem Schein der vier brennenden Wachs¬
kerzen kann man nur mühsam erkennen, daß es Jesum den Gekreuzigten dar¬
stellt, den, der für die Sünder gestorben ist. Auch für diese hier? In goldnen
Buchstaben flammt ihnen allen, die hier versammelt sind, von der Altardecke
das größte und holdeste Wort entgegen, das je gesprochen worden ist: „Kommet
her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken."

Wer kann so sprechen? Wenn ein Mensch hente so spräche, sei es draußen
auf der lärmenden Gasse zur haftenden Menge, sei es hier drinnen im stillen
Kirchlein zu den Insassen des Zuchthauses — müßte dem nicht die unruhige
Flamme des Größenwahns aus dem unsteten Auge lodern? Wer kann so
sprechen, hente noch wie einst? Gott — Gott — ein leises Achselzucken, ein
spöttischer Zug um die Mundwinkel verrät, was in jenem Gefangnen dort
vorgeht, der diese Gedankengänge macht; er läßt sein Auge weiter schweifen,
da trifft ihn hoch oben von der Wölbung der Altarnische das wohlbekannte Wort:
«Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein
Wohlgefallen!" — und nun wird das Achselzucken energischer und verächtlicher,
um die blassen Lippen spielt bitterster Hohn. Jawohl! Friede auf Erden —
um Zuchthaus! deu Menschen ein Wohlgefallen — im Zuchthaus — im
Zuchthaus!

Da rasselt wieder ein Schlüsselbund, ein Riegel knarrt, eine Thür wird
geöffnet; ernst und gemessen schreitet der Geistliche durch den Mittelgang und
tritt in den kleinen als Sakristei dienenden Raum. Und nun braust Orgel¬
klang durch die Kirche.

Wie unendlich viel hängt hier von dem Manne ab, der in dieser
Umgebung, nnter diesen Verhältnissen an den Seelen dieser Menschen zu
arbeiten hat!

Silvesterabend! Zwar noch ist es nicht recht Abend, erst vier Uhr nach¬
mittags; der Gottesdienst muß beendet, und die Leute müssen wieder in ihre
Räume eingerückt sein, ehe die Austeilung der Abendsuppe um 5^ Uhr be¬
ginnt. So kämpft das vom großen Hofe durch die vergitterten Fenster herein¬
fallende Tageslicht noch ein Weilchen mit dem hellstrahlenden Glänze der
weit mehr als hundert Kerzen, die von den beiden großen Tannenbünmen herab-
schimmern, die rechts und links vom Altar aufgestellt und mit Lametta und
andern, Flitter behängt sind. Diese Kerzen brannten schon vor einer Woche,
bei dem Gottesdienst, der am heiligen Abend um dieselbe Stunde wie heute
die Gefangnen zur bitter wehmütigen Weihnachtsfeier vereinte.

Die Orgel — sie ist nicht groß und auch an Tönen wenig umfangreich,
aber für den kleinen Raum völlig ausreichend — hat nach kurzem Vorspiel
das ergreifende Silvesterlied der Fürstin Reuß intoniert:


Das Jahr geht still zu Ende,
So sei auch still, mein Herz!

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[0725] Line Silvesterfeier im Zuchthaus durch einsames Nachdenken, Dort drüben, links, nur je drei auf einer Bank also in großen Abständen voneinander, die Isolierten, meist junge Burschen. Oben auf dem Chor auch noch Gemeinschastsgefmigne. Ein mächtiger Altar! Die beiden schweren Säulen zu seiner Seite rahmen das große Altarbild ein - es ist schon stark gedunkelt, und bei dem Schein der vier brennenden Wachs¬ kerzen kann man nur mühsam erkennen, daß es Jesum den Gekreuzigten dar¬ stellt, den, der für die Sünder gestorben ist. Auch für diese hier? In goldnen Buchstaben flammt ihnen allen, die hier versammelt sind, von der Altardecke das größte und holdeste Wort entgegen, das je gesprochen worden ist: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken." Wer kann so sprechen? Wenn ein Mensch hente so spräche, sei es draußen auf der lärmenden Gasse zur haftenden Menge, sei es hier drinnen im stillen Kirchlein zu den Insassen des Zuchthauses — müßte dem nicht die unruhige Flamme des Größenwahns aus dem unsteten Auge lodern? Wer kann so sprechen, hente noch wie einst? Gott — Gott — ein leises Achselzucken, ein spöttischer Zug um die Mundwinkel verrät, was in jenem Gefangnen dort vorgeht, der diese Gedankengänge macht; er läßt sein Auge weiter schweifen, da trifft ihn hoch oben von der Wölbung der Altarnische das wohlbekannte Wort: «Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!" — und nun wird das Achselzucken energischer und verächtlicher, um die blassen Lippen spielt bitterster Hohn. Jawohl! Friede auf Erden — um Zuchthaus! deu Menschen ein Wohlgefallen — im Zuchthaus — im Zuchthaus! Da rasselt wieder ein Schlüsselbund, ein Riegel knarrt, eine Thür wird geöffnet; ernst und gemessen schreitet der Geistliche durch den Mittelgang und tritt in den kleinen als Sakristei dienenden Raum. Und nun braust Orgel¬ klang durch die Kirche. Wie unendlich viel hängt hier von dem Manne ab, der in dieser Umgebung, nnter diesen Verhältnissen an den Seelen dieser Menschen zu arbeiten hat! Silvesterabend! Zwar noch ist es nicht recht Abend, erst vier Uhr nach¬ mittags; der Gottesdienst muß beendet, und die Leute müssen wieder in ihre Räume eingerückt sein, ehe die Austeilung der Abendsuppe um 5^ Uhr be¬ ginnt. So kämpft das vom großen Hofe durch die vergitterten Fenster herein¬ fallende Tageslicht noch ein Weilchen mit dem hellstrahlenden Glänze der weit mehr als hundert Kerzen, die von den beiden großen Tannenbünmen herab- schimmern, die rechts und links vom Altar aufgestellt und mit Lametta und andern, Flitter behängt sind. Diese Kerzen brannten schon vor einer Woche, bei dem Gottesdienst, der am heiligen Abend um dieselbe Stunde wie heute die Gefangnen zur bitter wehmütigen Weihnachtsfeier vereinte. Die Orgel — sie ist nicht groß und auch an Tönen wenig umfangreich, aber für den kleinen Raum völlig ausreichend — hat nach kurzem Vorspiel das ergreifende Silvesterlied der Fürstin Reuß intoniert: Das Jahr geht still zu Ende, So sei auch still, mein Herz!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/725>, abgerufen am 01.09.2024.