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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Erinnerungen aus dem polnischen Insurrektionskriege

Wo er gefallen war, von verschiednen Zeugen verschieden angegeben. Möglich, daß
er schon verwundet gewesen war, als er die tödliche Wunde empfing, und daß von
einigen schon der Platz seiner ersten Verwundung irrigerweise als die Stelle
bezeichnet wurde, wo er gefallen Wäre. Diese Unsicherheit der Angaben erregte
bei der in Schweidnitz lebenden Mutter Zweifel, ob ihr Sohn wirklich gefallen
oder ob er vielleicht doch noch am Leben sei, vielleicht irgendwo verborgen und
gefangen gehalten werde, eine Vermutung, in der sie dnrch die Aussagen einer
sogenannten Somnambule, die damals in Leipzig viel von sich reden machte, bestärkt
wurde Diese sagte ihr, als Frau von Athenäum selbst zu ihrer Befragung nach
Leipzig kam: "Dein Sohn lebt noch, aber sein Leben steht in großer Gefahr, er
wird in dem letzten Quartier, das er am Tage vor jener Schlacht inne gehabt hat,
von polnischen Kossenieren versteckt und gefangen gehalten. Schnelle Hilfe thut
not." -- Die unglückliche, getäuschte Mutter kam nun selbst nach Posen, aber das
letzte Quartier ihres Sohne!s war schwer zu finden -- es war auf der Feldwache
unter freiem Himmel gewesen. Sie bereiste nun alle Orte im Posenschen, wo ihr
Sohn während des Krieges Quartier gehabt hatte, alles ohne Erfolg; sie kam nach
Miloslaw, sie ließ durch Vermittlung der Militärbehörden noch am Abend ihrer
Ankunft die große Grube auf dem Kirchhof öffnen, in die nach dem Gefecht die
Gefallnen versenkt worden waren, sie ließ die Toten jenes Tages mit den zum
Teil schon in Verwesung übergegnnqnen Zügen noch einmal emporholen, sie leuchtete
jedem einzelnen mit der flackernden Laterne in das starre Antlitz -- er war nicht
darunter. Die unglückliche Mutter reiste ohne jede Nachricht vou ihrem Sohn
wieder in die Heimat, sie überließ sich der schmerzlichen Täuschung, daß ihr Sohn
noch lebe, anch noch fernerhin, nachdem die strenge amtliche Untersuchung das
Gegenteil festgestellt hatte, bis zu dem Wiedersehen in einer andern Welt. -- Leut¬
nant v. Gayette war, durch mehrere Kugeln und Sensenhiebe schwer verwundet,
bewußtlos und für tot in der Stadt zurückgelassen worden und wurde ebenfalls
einige Zeit ganz vermißt. Als wir einige Tage darauf durch die Gegend von
Miloslaw marschierten, wurde ein Offizier des Regiments in meiner Begleitung nach
Miloslaw abgeschickt, Erkundigungen über Gayette einzuziehn. Wir fanden ihn
endlich in guter Privatpflege. Zwei anmutige junge Polinnen in weißen Kleidern
(der polnischen Nationaltrauertracht) saßen als seine treuen Pflegerinnen an seinem
Lager und weigerten sich entschieden, den Kranken aus ihrer Pflege zu lassen, wofür
dieser ihnen sehr dankbar zu sein schien. Im folgenden Jahre erlag er zu Mernn,
wo er Genesung gesucht hatte, seinen Wunden.

Der Erfolg vou Miloslaw gab der Insurrektion neuen Aufschwung; aber
"und auf der rudern Seite wurde jetzt mehr Ernst gezeigt. Die beiden Kolonnen,
die bei Xions und Miloslaw gefochten hatten, wurden zu einem Korps vereinigt,
und die Operationen unter Leitung des Generals von Wedell wurden mit Nach¬
druck wieder aufgenommen. Mieroslawski. dessen Jnsurgentenkorps auf nahe an
zehntausend Muni gewachsen War. war klug genug, einem abermaligen ernsthaften Zu¬
sammenstoß mit den Truppen auszuweichen, und wandte sich den ganz polnischen Grenz¬
distrikten im nordöstlichen Teile der Provinz zu, wohl in der Hoffnung, den Aufstand
von hier aus nach Russisch-Polen hinüberzuspielen und durch Zuzug von dort unter¬
stützt zu werden. Bittere Täuschung! Auch die russische Regierung hatte ihre Vor¬
kehrungen getroffen. Die Grenze war durch einen Kosakenkordon abgesperrt worden,
und in den russischen Grenzstädten Kalisch, Peisern usw. standen russische Truppen
bereit, die etwa übertretenden Jnsurgentenhaufeu sogleich in Empfang zu nehmen.

Für uus galt es unterdessen, den Spruch Turennes zu bewähren, daß die
Taktik in deu Beinen liege. Nach einigen Kreuz- und Querzügen über Gnesen,
Trzemeßno, Mogilno, Witkowo hatten wir die Insurgenten endlich derart von allen
Seiten umstellt und gegen die russische Grenze gedrängt, daß ihnen keine Wahl
mehr blieb, als einen verzweifelten Kampf zu wagen oder die Waffen zu strecken,
^hre Anführer wählten das letzte, aber schon hatte ihr Wort keine Geltung mehr.
Noch ehe die mit ihnen abgeschlossene Kapitulation zur Ausführung kam, löste sich
dre Mieroslawskische Armee von selbst auf. Die Leute schössen auf ihre etgueu


Erinnerungen aus dem polnischen Insurrektionskriege

Wo er gefallen war, von verschiednen Zeugen verschieden angegeben. Möglich, daß
er schon verwundet gewesen war, als er die tödliche Wunde empfing, und daß von
einigen schon der Platz seiner ersten Verwundung irrigerweise als die Stelle
bezeichnet wurde, wo er gefallen Wäre. Diese Unsicherheit der Angaben erregte
bei der in Schweidnitz lebenden Mutter Zweifel, ob ihr Sohn wirklich gefallen
oder ob er vielleicht doch noch am Leben sei, vielleicht irgendwo verborgen und
gefangen gehalten werde, eine Vermutung, in der sie dnrch die Aussagen einer
sogenannten Somnambule, die damals in Leipzig viel von sich reden machte, bestärkt
wurde Diese sagte ihr, als Frau von Athenäum selbst zu ihrer Befragung nach
Leipzig kam: „Dein Sohn lebt noch, aber sein Leben steht in großer Gefahr, er
wird in dem letzten Quartier, das er am Tage vor jener Schlacht inne gehabt hat,
von polnischen Kossenieren versteckt und gefangen gehalten. Schnelle Hilfe thut
not." — Die unglückliche, getäuschte Mutter kam nun selbst nach Posen, aber das
letzte Quartier ihres Sohne!s war schwer zu finden — es war auf der Feldwache
unter freiem Himmel gewesen. Sie bereiste nun alle Orte im Posenschen, wo ihr
Sohn während des Krieges Quartier gehabt hatte, alles ohne Erfolg; sie kam nach
Miloslaw, sie ließ durch Vermittlung der Militärbehörden noch am Abend ihrer
Ankunft die große Grube auf dem Kirchhof öffnen, in die nach dem Gefecht die
Gefallnen versenkt worden waren, sie ließ die Toten jenes Tages mit den zum
Teil schon in Verwesung übergegnnqnen Zügen noch einmal emporholen, sie leuchtete
jedem einzelnen mit der flackernden Laterne in das starre Antlitz — er war nicht
darunter. Die unglückliche Mutter reiste ohne jede Nachricht vou ihrem Sohn
wieder in die Heimat, sie überließ sich der schmerzlichen Täuschung, daß ihr Sohn
noch lebe, anch noch fernerhin, nachdem die strenge amtliche Untersuchung das
Gegenteil festgestellt hatte, bis zu dem Wiedersehen in einer andern Welt. — Leut¬
nant v. Gayette war, durch mehrere Kugeln und Sensenhiebe schwer verwundet,
bewußtlos und für tot in der Stadt zurückgelassen worden und wurde ebenfalls
einige Zeit ganz vermißt. Als wir einige Tage darauf durch die Gegend von
Miloslaw marschierten, wurde ein Offizier des Regiments in meiner Begleitung nach
Miloslaw abgeschickt, Erkundigungen über Gayette einzuziehn. Wir fanden ihn
endlich in guter Privatpflege. Zwei anmutige junge Polinnen in weißen Kleidern
(der polnischen Nationaltrauertracht) saßen als seine treuen Pflegerinnen an seinem
Lager und weigerten sich entschieden, den Kranken aus ihrer Pflege zu lassen, wofür
dieser ihnen sehr dankbar zu sein schien. Im folgenden Jahre erlag er zu Mernn,
wo er Genesung gesucht hatte, seinen Wunden.

Der Erfolg vou Miloslaw gab der Insurrektion neuen Aufschwung; aber
"und auf der rudern Seite wurde jetzt mehr Ernst gezeigt. Die beiden Kolonnen,
die bei Xions und Miloslaw gefochten hatten, wurden zu einem Korps vereinigt,
und die Operationen unter Leitung des Generals von Wedell wurden mit Nach¬
druck wieder aufgenommen. Mieroslawski. dessen Jnsurgentenkorps auf nahe an
zehntausend Muni gewachsen War. war klug genug, einem abermaligen ernsthaften Zu¬
sammenstoß mit den Truppen auszuweichen, und wandte sich den ganz polnischen Grenz¬
distrikten im nordöstlichen Teile der Provinz zu, wohl in der Hoffnung, den Aufstand
von hier aus nach Russisch-Polen hinüberzuspielen und durch Zuzug von dort unter¬
stützt zu werden. Bittere Täuschung! Auch die russische Regierung hatte ihre Vor¬
kehrungen getroffen. Die Grenze war durch einen Kosakenkordon abgesperrt worden,
und in den russischen Grenzstädten Kalisch, Peisern usw. standen russische Truppen
bereit, die etwa übertretenden Jnsurgentenhaufeu sogleich in Empfang zu nehmen.

Für uus galt es unterdessen, den Spruch Turennes zu bewähren, daß die
Taktik in deu Beinen liege. Nach einigen Kreuz- und Querzügen über Gnesen,
Trzemeßno, Mogilno, Witkowo hatten wir die Insurgenten endlich derart von allen
Seiten umstellt und gegen die russische Grenze gedrängt, daß ihnen keine Wahl
mehr blieb, als einen verzweifelten Kampf zu wagen oder die Waffen zu strecken,
^hre Anführer wählten das letzte, aber schon hatte ihr Wort keine Geltung mehr.
Noch ehe die mit ihnen abgeschlossene Kapitulation zur Ausführung kam, löste sich
dre Mieroslawskische Armee von selbst auf. Die Leute schössen auf ihre etgueu


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[0681] Erinnerungen aus dem polnischen Insurrektionskriege Wo er gefallen war, von verschiednen Zeugen verschieden angegeben. Möglich, daß er schon verwundet gewesen war, als er die tödliche Wunde empfing, und daß von einigen schon der Platz seiner ersten Verwundung irrigerweise als die Stelle bezeichnet wurde, wo er gefallen Wäre. Diese Unsicherheit der Angaben erregte bei der in Schweidnitz lebenden Mutter Zweifel, ob ihr Sohn wirklich gefallen oder ob er vielleicht doch noch am Leben sei, vielleicht irgendwo verborgen und gefangen gehalten werde, eine Vermutung, in der sie dnrch die Aussagen einer sogenannten Somnambule, die damals in Leipzig viel von sich reden machte, bestärkt wurde Diese sagte ihr, als Frau von Athenäum selbst zu ihrer Befragung nach Leipzig kam: „Dein Sohn lebt noch, aber sein Leben steht in großer Gefahr, er wird in dem letzten Quartier, das er am Tage vor jener Schlacht inne gehabt hat, von polnischen Kossenieren versteckt und gefangen gehalten. Schnelle Hilfe thut not." — Die unglückliche, getäuschte Mutter kam nun selbst nach Posen, aber das letzte Quartier ihres Sohne!s war schwer zu finden — es war auf der Feldwache unter freiem Himmel gewesen. Sie bereiste nun alle Orte im Posenschen, wo ihr Sohn während des Krieges Quartier gehabt hatte, alles ohne Erfolg; sie kam nach Miloslaw, sie ließ durch Vermittlung der Militärbehörden noch am Abend ihrer Ankunft die große Grube auf dem Kirchhof öffnen, in die nach dem Gefecht die Gefallnen versenkt worden waren, sie ließ die Toten jenes Tages mit den zum Teil schon in Verwesung übergegnnqnen Zügen noch einmal emporholen, sie leuchtete jedem einzelnen mit der flackernden Laterne in das starre Antlitz — er war nicht darunter. Die unglückliche Mutter reiste ohne jede Nachricht vou ihrem Sohn wieder in die Heimat, sie überließ sich der schmerzlichen Täuschung, daß ihr Sohn noch lebe, anch noch fernerhin, nachdem die strenge amtliche Untersuchung das Gegenteil festgestellt hatte, bis zu dem Wiedersehen in einer andern Welt. — Leut¬ nant v. Gayette war, durch mehrere Kugeln und Sensenhiebe schwer verwundet, bewußtlos und für tot in der Stadt zurückgelassen worden und wurde ebenfalls einige Zeit ganz vermißt. Als wir einige Tage darauf durch die Gegend von Miloslaw marschierten, wurde ein Offizier des Regiments in meiner Begleitung nach Miloslaw abgeschickt, Erkundigungen über Gayette einzuziehn. Wir fanden ihn endlich in guter Privatpflege. Zwei anmutige junge Polinnen in weißen Kleidern (der polnischen Nationaltrauertracht) saßen als seine treuen Pflegerinnen an seinem Lager und weigerten sich entschieden, den Kranken aus ihrer Pflege zu lassen, wofür dieser ihnen sehr dankbar zu sein schien. Im folgenden Jahre erlag er zu Mernn, wo er Genesung gesucht hatte, seinen Wunden. Der Erfolg vou Miloslaw gab der Insurrektion neuen Aufschwung; aber "und auf der rudern Seite wurde jetzt mehr Ernst gezeigt. Die beiden Kolonnen, die bei Xions und Miloslaw gefochten hatten, wurden zu einem Korps vereinigt, und die Operationen unter Leitung des Generals von Wedell wurden mit Nach¬ druck wieder aufgenommen. Mieroslawski. dessen Jnsurgentenkorps auf nahe an zehntausend Muni gewachsen War. war klug genug, einem abermaligen ernsthaften Zu¬ sammenstoß mit den Truppen auszuweichen, und wandte sich den ganz polnischen Grenz¬ distrikten im nordöstlichen Teile der Provinz zu, wohl in der Hoffnung, den Aufstand von hier aus nach Russisch-Polen hinüberzuspielen und durch Zuzug von dort unter¬ stützt zu werden. Bittere Täuschung! Auch die russische Regierung hatte ihre Vor¬ kehrungen getroffen. Die Grenze war durch einen Kosakenkordon abgesperrt worden, und in den russischen Grenzstädten Kalisch, Peisern usw. standen russische Truppen bereit, die etwa übertretenden Jnsurgentenhaufeu sogleich in Empfang zu nehmen. Für uus galt es unterdessen, den Spruch Turennes zu bewähren, daß die Taktik in deu Beinen liege. Nach einigen Kreuz- und Querzügen über Gnesen, Trzemeßno, Mogilno, Witkowo hatten wir die Insurgenten endlich derart von allen Seiten umstellt und gegen die russische Grenze gedrängt, daß ihnen keine Wahl mehr blieb, als einen verzweifelten Kampf zu wagen oder die Waffen zu strecken, ^hre Anführer wählten das letzte, aber schon hatte ihr Wort keine Geltung mehr. Noch ehe die mit ihnen abgeschlossene Kapitulation zur Ausführung kam, löste sich dre Mieroslawskische Armee von selbst auf. Die Leute schössen auf ihre etgueu

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/681>, abgerufen am 01.09.2024.