Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.Deutsch-Österreich -- ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Grenzen und Staatsbildungen -- Die Angelegenheit zwingt umsomehr zu einer Erörterung, als sie auch Deutsch-Österreich — ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Grenzen und Staatsbildungen — Die Angelegenheit zwingt umsomehr zu einer Erörterung, als sie auch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0518" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239306"/> <fw type="header" place="top"> Deutsch-Österreich</fw><lb/> <p xml:id="ID_2482" prev="#ID_2481"> — ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Grenzen und Staatsbildungen —<lb/> sehr stark berührt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2483" next="#ID_2484"> Die Angelegenheit zwingt umsomehr zu einer Erörterung, als sie auch<lb/> im deutschösterreichischen Lager aufgeworfen worden ist. In den letzten Jahren<lb/> ist mehrfach die sogenannte Katastrophenpolitik empfohlen worden, die Lösung:<lb/> „Je schlimmer, je besser!" ist durch gewisse deutschvsterreichische Blätter und<lb/> Flugschriften gegangen und hat auch Eingang in einen Teil der reichsdeutschen<lb/> Presse gefunden. Aus dem Übermaß des deutschen Elends müsse die Rettung<lb/> kommen, die Rettung durch das Deutsche Reich, das schon aus Gründen der<lb/> eignen Sicherheit die acht Millionen Stammesgenossen im Südosten nicht den<lb/> Slawen preisgeben könne. Der ehemalige altdeutsche Abgeordnete Karl Türk<lb/> hat sogar einmal den Tschechen mit dem Einmarsch preußischer Bataillone in<lb/> Böhmen gedroht. Nun liegt doch ohne weiteres auf der Hand, daß dem<lb/> Deutschen Reich aus seiner Eigenschaft als nationalem Staat noch nicht der<lb/> Beruf und die Aufgabe erwächst, sich in die innern Verhältnisse Österreichs<lb/> oder der Schweiz , wo Deutsche in geschlossenen Massen bei einander wohnen,<lb/> einzumischen, während dagegen wohl gelten kann, daß es eine gewaltsame<lb/> Unterdrückung seiner Stammesgenossen dort keinen dulden würde oder könnte.<lb/> Aber so liegen doch die Dinge in Österreich wahrhaftig nicht, und das auf¬<lb/> richtigste Mitgefühl mit dem schweren Kampf der Deutschösterreicher wird<lb/> niemand über die Thatsache hinwegtäuschen, daß dieser Kampf eine innere<lb/> Angelegenheit der Völkerschaften Österreichs ist, der ebensowenig wie eine Ver¬<lb/> ständigung unter ihnen eine Frage des Deutschen Reichs sein kann. Aber<lb/> nehmen wir einmal den Faden der Katastrophcnpolitik aus und sehen wir zu,<lb/> wohin diese führen müßte. Wir wollen selbst voraussetzen, daß sich die An¬<lb/> nexion des in Frage kommenden österreichischen Gebiets durch Deutschland leicht<lb/> durchführen ließe, was wohl kaum anzunehmen ist, was würde dann das Deutsche<lb/> Reich damit gewonnen haben? In erster Reihe mehrere Millionen Ultrmuontcme,<lb/> die das deutsche Zentrum vergrößern und seinen Charakter umgestalten würde,<lb/> dann mindestens sieben Millionen Slawen, dazu die Reichshauptstadt Wien,<lb/> die beim Hinabsinken zu einer Provinzialstadt der Herd der Unzufriedenheit,<lb/> der politischen und der sozialen Opposition würde. An innerer Lebenskraft<lb/> würde es nichts gewinnen, dagegen aber den Neid der Nachbarn erregen, in<lb/> Zerwürfnisse und Rußland geraten, denen früher oder später ein Existenzkampf<lb/> mit Rußland und Frankreich nachfolgen müßte. Nehmen wir auch noch an, das<lb/> Deutsche Reich, das sich gegen die Mißgunst von ganz Europa emporgerungen<lb/> hat, wäre auch diesem Weltkriege gewachsen, so hieße es doch, ihm große Alt-<lb/> klugheit zumuten, wenn es sich ohne die äußerste nationale Not auf so etwas<lb/> einlassen sollte. Eine ungeheure Verarmung des europäischen Kontinents<lb/> und seine wirtschaftliche Unterjochung durch England und die überseeischen<lb/> Mächte würde die unausbleibliche Folge davon sein. Der Gedanke hat auch<lb/> nur vorübergehend in einigen ungeklärten Kreisen Anklang gefunden und wird<lb/> zu keiner Zeit die Kraft haben, im Deutschen Reich eine Bewegung hervor¬<lb/> zurufen, die im Sinne der Annexion auf die Regierung drücken könnte. Ganz<lb/> Deutschland steht auf dem Standpunkt seines ersten Kanzlers, der noch in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0518]
Deutsch-Österreich
— ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Grenzen und Staatsbildungen —
sehr stark berührt.
Die Angelegenheit zwingt umsomehr zu einer Erörterung, als sie auch
im deutschösterreichischen Lager aufgeworfen worden ist. In den letzten Jahren
ist mehrfach die sogenannte Katastrophenpolitik empfohlen worden, die Lösung:
„Je schlimmer, je besser!" ist durch gewisse deutschvsterreichische Blätter und
Flugschriften gegangen und hat auch Eingang in einen Teil der reichsdeutschen
Presse gefunden. Aus dem Übermaß des deutschen Elends müsse die Rettung
kommen, die Rettung durch das Deutsche Reich, das schon aus Gründen der
eignen Sicherheit die acht Millionen Stammesgenossen im Südosten nicht den
Slawen preisgeben könne. Der ehemalige altdeutsche Abgeordnete Karl Türk
hat sogar einmal den Tschechen mit dem Einmarsch preußischer Bataillone in
Böhmen gedroht. Nun liegt doch ohne weiteres auf der Hand, daß dem
Deutschen Reich aus seiner Eigenschaft als nationalem Staat noch nicht der
Beruf und die Aufgabe erwächst, sich in die innern Verhältnisse Österreichs
oder der Schweiz , wo Deutsche in geschlossenen Massen bei einander wohnen,
einzumischen, während dagegen wohl gelten kann, daß es eine gewaltsame
Unterdrückung seiner Stammesgenossen dort keinen dulden würde oder könnte.
Aber so liegen doch die Dinge in Österreich wahrhaftig nicht, und das auf¬
richtigste Mitgefühl mit dem schweren Kampf der Deutschösterreicher wird
niemand über die Thatsache hinwegtäuschen, daß dieser Kampf eine innere
Angelegenheit der Völkerschaften Österreichs ist, der ebensowenig wie eine Ver¬
ständigung unter ihnen eine Frage des Deutschen Reichs sein kann. Aber
nehmen wir einmal den Faden der Katastrophcnpolitik aus und sehen wir zu,
wohin diese führen müßte. Wir wollen selbst voraussetzen, daß sich die An¬
nexion des in Frage kommenden österreichischen Gebiets durch Deutschland leicht
durchführen ließe, was wohl kaum anzunehmen ist, was würde dann das Deutsche
Reich damit gewonnen haben? In erster Reihe mehrere Millionen Ultrmuontcme,
die das deutsche Zentrum vergrößern und seinen Charakter umgestalten würde,
dann mindestens sieben Millionen Slawen, dazu die Reichshauptstadt Wien,
die beim Hinabsinken zu einer Provinzialstadt der Herd der Unzufriedenheit,
der politischen und der sozialen Opposition würde. An innerer Lebenskraft
würde es nichts gewinnen, dagegen aber den Neid der Nachbarn erregen, in
Zerwürfnisse und Rußland geraten, denen früher oder später ein Existenzkampf
mit Rußland und Frankreich nachfolgen müßte. Nehmen wir auch noch an, das
Deutsche Reich, das sich gegen die Mißgunst von ganz Europa emporgerungen
hat, wäre auch diesem Weltkriege gewachsen, so hieße es doch, ihm große Alt-
klugheit zumuten, wenn es sich ohne die äußerste nationale Not auf so etwas
einlassen sollte. Eine ungeheure Verarmung des europäischen Kontinents
und seine wirtschaftliche Unterjochung durch England und die überseeischen
Mächte würde die unausbleibliche Folge davon sein. Der Gedanke hat auch
nur vorübergehend in einigen ungeklärten Kreisen Anklang gefunden und wird
zu keiner Zeit die Kraft haben, im Deutschen Reich eine Bewegung hervor¬
zurufen, die im Sinne der Annexion auf die Regierung drücken könnte. Ganz
Deutschland steht auf dem Standpunkt seines ersten Kanzlers, der noch in
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |