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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Deutsch - Österreich

ein Walten des Zufalls erkennen. Die weit überwiegende Mehrzahl der Be¬
wohner Österreichs sind Nichtdeutsche, seine Interessen liegen im Osten und
im Süden außerhalb Deutschlands, wo es durch das Verschwinden der geist¬
lichen Neichsstünde und die Mediatisierungen seinen festesten Halt verloren
hatte. Daß die Metternichsche Staatsweisheit über ein Menschenalter hinaus
diese Sachlage verkannte und in ihr Gegenteil verkehren wollte, daß man nach
der nationalen Bewegung des achtundvierziger Jahres die Kaiserpolitik in
Deutschland wieder aufnehmen wollte, war ein kurzsichtiges Ankämpfen gegen
die selbstgeschaffne Strömung, der man nach der Entscheidung von 1866 doch
ihren Lauf lassen mußte. Um so rascher mußte unter den so veränderten Um¬
ständen der Rückgang eintreten, bei dem begreiflicherweise die Deutschöster¬
reicher am meisten zu leiden hatten. Darin liegt auch die einzige Erklärung
und Entschuldigung für die Verworrenheit in ihrem Lager, aus der sie sich
auch heute noch nicht herauszufinden vermögen, und die die eigentliche Ur¬
sache davon ist, daß sich der Slawismus in Österreich so breit machen kann-
Denn nur deshalb ist es um die Sache der Deutschösterreicher so traurig be¬
stellt, weil unter ihnen keine Einigkeit besteht.

Wohl sind die Deutschen in Österreich nur ein bescheidner Bruchteil der
Bevölkerung, und sie wohnen auch nur in einigen Kronländern in dichterer
Masse beisammen, aber trotz alledem sind sie im Kaiserstaate außer den Italienern
das einzige Volk mit selbständiger Kultur, und alle magyarisch-walachisch-
slawischen Völkerschaften zwischen Erzgebirge, Karpaten und Adria zehren von
den Früchten deutscher Bildung, wenn sie es auch heute großsprecherisch in
Abrede stellen möchten. Der Fern erstes ende sollte nun meinen, daß unter
solchen Umständen eine nusgesprochne Vorherrschaft der Deutschvsterreicher eine
selbstverständliche Sache und leicht ins Werk zu setzen sein müsse, namentlich
nach der Durchführung des Dualismus, der den Deutschösterreichern den Reichs¬
ten überlassen hat, worin sie am dichtesten sitzen, während im andern ebenfalls
eine Minderheit -- die magyarische -- recht wohl ihre Herrschaft aufzurichten
und zu erweitern verstanden hat, und nicht allein durch Gewalt, die ja aller¬
dings dort als Mittel zum Zweck auch nicht verschmäht wird. Wir werden
noch darauf zu sprechen kommen, wie sich Deutsche und Magyaren in ihren
politischen Eigenschaften unterscheiden.

Unter allen europäischen Staaten mit Ausnahme Rußlands hat keiner
eine Bevölkerung, die aus so viel Nationalitäten besteht, wie die des öster¬
reichischen Kaiserstaates. Im eigentlichen Österreich sind die drei Hauptvölker
Europas: Deutsche, Slawen und Romanen, auch die Hauptstämme. Der
Zahl nach überwiegt allerdings in Österreich die slawische Nation, aber diese
zerfällt in sechs, nicht allein dnrch Sprache, sondern auch durch Kultur und
Geschichte unterschiedne Stämme, die keine gemeinsame Schriftsprache haben
und als ebensoviele Völker angesehen werden müssen, die sich auch als solche
fühlen, wenn sie nicht gelegentlich einmal der Deutschenhaß zusammenführt.
Von ihnen bewohnen die Tschechen den mittlern und den südöstlichen Teil
Böhmens, den größern Teil von Mührer (mit Ausnahme des deutschen An¬
teils im Süden und im Norden) und einen kleinen Teil Schlesiens (südlich


Deutsch - Österreich

ein Walten des Zufalls erkennen. Die weit überwiegende Mehrzahl der Be¬
wohner Österreichs sind Nichtdeutsche, seine Interessen liegen im Osten und
im Süden außerhalb Deutschlands, wo es durch das Verschwinden der geist¬
lichen Neichsstünde und die Mediatisierungen seinen festesten Halt verloren
hatte. Daß die Metternichsche Staatsweisheit über ein Menschenalter hinaus
diese Sachlage verkannte und in ihr Gegenteil verkehren wollte, daß man nach
der nationalen Bewegung des achtundvierziger Jahres die Kaiserpolitik in
Deutschland wieder aufnehmen wollte, war ein kurzsichtiges Ankämpfen gegen
die selbstgeschaffne Strömung, der man nach der Entscheidung von 1866 doch
ihren Lauf lassen mußte. Um so rascher mußte unter den so veränderten Um¬
ständen der Rückgang eintreten, bei dem begreiflicherweise die Deutschöster¬
reicher am meisten zu leiden hatten. Darin liegt auch die einzige Erklärung
und Entschuldigung für die Verworrenheit in ihrem Lager, aus der sie sich
auch heute noch nicht herauszufinden vermögen, und die die eigentliche Ur¬
sache davon ist, daß sich der Slawismus in Österreich so breit machen kann-
Denn nur deshalb ist es um die Sache der Deutschösterreicher so traurig be¬
stellt, weil unter ihnen keine Einigkeit besteht.

Wohl sind die Deutschen in Österreich nur ein bescheidner Bruchteil der
Bevölkerung, und sie wohnen auch nur in einigen Kronländern in dichterer
Masse beisammen, aber trotz alledem sind sie im Kaiserstaate außer den Italienern
das einzige Volk mit selbständiger Kultur, und alle magyarisch-walachisch-
slawischen Völkerschaften zwischen Erzgebirge, Karpaten und Adria zehren von
den Früchten deutscher Bildung, wenn sie es auch heute großsprecherisch in
Abrede stellen möchten. Der Fern erstes ende sollte nun meinen, daß unter
solchen Umständen eine nusgesprochne Vorherrschaft der Deutschvsterreicher eine
selbstverständliche Sache und leicht ins Werk zu setzen sein müsse, namentlich
nach der Durchführung des Dualismus, der den Deutschösterreichern den Reichs¬
ten überlassen hat, worin sie am dichtesten sitzen, während im andern ebenfalls
eine Minderheit — die magyarische — recht wohl ihre Herrschaft aufzurichten
und zu erweitern verstanden hat, und nicht allein durch Gewalt, die ja aller¬
dings dort als Mittel zum Zweck auch nicht verschmäht wird. Wir werden
noch darauf zu sprechen kommen, wie sich Deutsche und Magyaren in ihren
politischen Eigenschaften unterscheiden.

Unter allen europäischen Staaten mit Ausnahme Rußlands hat keiner
eine Bevölkerung, die aus so viel Nationalitäten besteht, wie die des öster¬
reichischen Kaiserstaates. Im eigentlichen Österreich sind die drei Hauptvölker
Europas: Deutsche, Slawen und Romanen, auch die Hauptstämme. Der
Zahl nach überwiegt allerdings in Österreich die slawische Nation, aber diese
zerfällt in sechs, nicht allein dnrch Sprache, sondern auch durch Kultur und
Geschichte unterschiedne Stämme, die keine gemeinsame Schriftsprache haben
und als ebensoviele Völker angesehen werden müssen, die sich auch als solche
fühlen, wenn sie nicht gelegentlich einmal der Deutschenhaß zusammenführt.
Von ihnen bewohnen die Tschechen den mittlern und den südöstlichen Teil
Böhmens, den größern Teil von Mührer (mit Ausnahme des deutschen An¬
teils im Süden und im Norden) und einen kleinen Teil Schlesiens (südlich


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[0516] Deutsch - Österreich ein Walten des Zufalls erkennen. Die weit überwiegende Mehrzahl der Be¬ wohner Österreichs sind Nichtdeutsche, seine Interessen liegen im Osten und im Süden außerhalb Deutschlands, wo es durch das Verschwinden der geist¬ lichen Neichsstünde und die Mediatisierungen seinen festesten Halt verloren hatte. Daß die Metternichsche Staatsweisheit über ein Menschenalter hinaus diese Sachlage verkannte und in ihr Gegenteil verkehren wollte, daß man nach der nationalen Bewegung des achtundvierziger Jahres die Kaiserpolitik in Deutschland wieder aufnehmen wollte, war ein kurzsichtiges Ankämpfen gegen die selbstgeschaffne Strömung, der man nach der Entscheidung von 1866 doch ihren Lauf lassen mußte. Um so rascher mußte unter den so veränderten Um¬ ständen der Rückgang eintreten, bei dem begreiflicherweise die Deutschöster¬ reicher am meisten zu leiden hatten. Darin liegt auch die einzige Erklärung und Entschuldigung für die Verworrenheit in ihrem Lager, aus der sie sich auch heute noch nicht herauszufinden vermögen, und die die eigentliche Ur¬ sache davon ist, daß sich der Slawismus in Österreich so breit machen kann- Denn nur deshalb ist es um die Sache der Deutschösterreicher so traurig be¬ stellt, weil unter ihnen keine Einigkeit besteht. Wohl sind die Deutschen in Österreich nur ein bescheidner Bruchteil der Bevölkerung, und sie wohnen auch nur in einigen Kronländern in dichterer Masse beisammen, aber trotz alledem sind sie im Kaiserstaate außer den Italienern das einzige Volk mit selbständiger Kultur, und alle magyarisch-walachisch- slawischen Völkerschaften zwischen Erzgebirge, Karpaten und Adria zehren von den Früchten deutscher Bildung, wenn sie es auch heute großsprecherisch in Abrede stellen möchten. Der Fern erstes ende sollte nun meinen, daß unter solchen Umständen eine nusgesprochne Vorherrschaft der Deutschvsterreicher eine selbstverständliche Sache und leicht ins Werk zu setzen sein müsse, namentlich nach der Durchführung des Dualismus, der den Deutschösterreichern den Reichs¬ ten überlassen hat, worin sie am dichtesten sitzen, während im andern ebenfalls eine Minderheit — die magyarische — recht wohl ihre Herrschaft aufzurichten und zu erweitern verstanden hat, und nicht allein durch Gewalt, die ja aller¬ dings dort als Mittel zum Zweck auch nicht verschmäht wird. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen, wie sich Deutsche und Magyaren in ihren politischen Eigenschaften unterscheiden. Unter allen europäischen Staaten mit Ausnahme Rußlands hat keiner eine Bevölkerung, die aus so viel Nationalitäten besteht, wie die des öster¬ reichischen Kaiserstaates. Im eigentlichen Österreich sind die drei Hauptvölker Europas: Deutsche, Slawen und Romanen, auch die Hauptstämme. Der Zahl nach überwiegt allerdings in Österreich die slawische Nation, aber diese zerfällt in sechs, nicht allein dnrch Sprache, sondern auch durch Kultur und Geschichte unterschiedne Stämme, die keine gemeinsame Schriftsprache haben und als ebensoviele Völker angesehen werden müssen, die sich auch als solche fühlen, wenn sie nicht gelegentlich einmal der Deutschenhaß zusammenführt. Von ihnen bewohnen die Tschechen den mittlern und den südöstlichen Teil Böhmens, den größern Teil von Mührer (mit Ausnahme des deutschen An¬ teils im Süden und im Norden) und einen kleinen Teil Schlesiens (südlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/516>, abgerufen am 01.09.2024.