Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Am Se. Gotthard

schreitend, bis an den Bodensee führte. Am 24. September 1799 hatte Suworvw
unter beständigen Gefechten Hospenthal erreicht; am 25. September drangen
seine Vortruppen unter Rosenberg, die Franzosen durch Umgehung zur Räumung
des Urnerlochs zwingend, bis an die Teufelsbrücke vor, von der der kleinere
Bogen auf der rechten Uferseite gesprengt war. Nun wird überall erzählt, die
Russen hätten einzeln unterhalb der stark besetzten Brücke im Feuer des Feindes
die Neuß durchwatet, Hütten ihn so wieder umgangen und zum Rückzug nach
Amsteg genötigt. Wer jemals an dieser Stelle gestanden hat, der wird die
Möglichkeit dieses verwegnen Manövers stark bezweifeln, denn die Uferstellen
fallen nach der Reus; hin zuletzt überall glatt ab, sodaß es zwar möglich sein
mag, an ihnen hinab ins Wasser zu gleiten, aber unmöglich scheint, an der
andern Seite wieder hinnufzukliminen; vor allem aber wäre Menschenkraft schwer¬
lich imstande gewesen, der ungeheuern Wucht des herabstürzenden Wassers in
diesen Katarakten zu widerstehn, deren Grund unregelmäßige, glatte Granit¬
blöcke bilden, die nirgends sichern Tritt gewähren. Auch bedürfte es eines so
abenteuerlichem Versuchs gar nicht. Ein schmales Grasband des rechten Ufers,
an dem jetzt das Nussendenkmal steht, genügte, russische Schützen soweit vor¬
zuschieben, daß sie die Brücke im Rücken fassen und den abwärts führenden Saum¬
pfad wirksam unter Feuer nehmen konnten, und darauf allein kam es an.

Hinter dein Nussenkreuz sperrt der vorspringende Tenfelsberg mit dein
Bützberg gegenüber die Straße derart, daß eben hier die "staubende Brücke" auf-
gehüugt werden mußte. Erst 1707 sprengte der italienische Ingenieur Pietro
Moretiui durch den grauschwarzen Schieferfelsen einen nur 2^ Meter breiten
und eben so hohen Stollen, das Urnerloch, und erst beim Neubau der Gott-
hardstraße wurde es zu einem Tunnel von fünf Metern Höhe und sechs Metern
Breite erweitert, der die Durchfahrt vou Wagen ermöglicht, jetzt übrigens auch
durch ein eisernes Thor jederzeit gesperrt werden kann. Begreiflich ebenso,
daß Goethen in diesem dunkeln engen Schlund am Ende eines so mühseligen
Wegs eine "verdrießliche" Stimmung überkam, wie daß er von dem Anblick
des Urserenthals anmutig überrascht wurde. Diesen seinen Eindruck spiegeln
auch Schillers Verse im "Berglied" wieder:

Und im "Tell" weist dieser dem flüchtigen Johann Parrieida, freilich mit starkem
Anachronismus, denselben Weg:

Heute ist der Gegensatz nicht mehr so schroff, weil die Anstrengung des
Wegs nnr gering ist, aber überraschend wirkt der Übergang aus der engen,
nackten Schlucht in das weite, grüne Thal dennoch. Die Reuß, die dort den
Reisenden fortwährend mit donnerndem Brausen begleitet hat, verwandelt sich
oberhalb des Urnerlochs mit einemmal in einen zwar rasch und stark aber


Am Se. Gotthard

schreitend, bis an den Bodensee führte. Am 24. September 1799 hatte Suworvw
unter beständigen Gefechten Hospenthal erreicht; am 25. September drangen
seine Vortruppen unter Rosenberg, die Franzosen durch Umgehung zur Räumung
des Urnerlochs zwingend, bis an die Teufelsbrücke vor, von der der kleinere
Bogen auf der rechten Uferseite gesprengt war. Nun wird überall erzählt, die
Russen hätten einzeln unterhalb der stark besetzten Brücke im Feuer des Feindes
die Neuß durchwatet, Hütten ihn so wieder umgangen und zum Rückzug nach
Amsteg genötigt. Wer jemals an dieser Stelle gestanden hat, der wird die
Möglichkeit dieses verwegnen Manövers stark bezweifeln, denn die Uferstellen
fallen nach der Reus; hin zuletzt überall glatt ab, sodaß es zwar möglich sein
mag, an ihnen hinab ins Wasser zu gleiten, aber unmöglich scheint, an der
andern Seite wieder hinnufzukliminen; vor allem aber wäre Menschenkraft schwer¬
lich imstande gewesen, der ungeheuern Wucht des herabstürzenden Wassers in
diesen Katarakten zu widerstehn, deren Grund unregelmäßige, glatte Granit¬
blöcke bilden, die nirgends sichern Tritt gewähren. Auch bedürfte es eines so
abenteuerlichem Versuchs gar nicht. Ein schmales Grasband des rechten Ufers,
an dem jetzt das Nussendenkmal steht, genügte, russische Schützen soweit vor¬
zuschieben, daß sie die Brücke im Rücken fassen und den abwärts führenden Saum¬
pfad wirksam unter Feuer nehmen konnten, und darauf allein kam es an.

Hinter dein Nussenkreuz sperrt der vorspringende Tenfelsberg mit dein
Bützberg gegenüber die Straße derart, daß eben hier die „staubende Brücke" auf-
gehüugt werden mußte. Erst 1707 sprengte der italienische Ingenieur Pietro
Moretiui durch den grauschwarzen Schieferfelsen einen nur 2^ Meter breiten
und eben so hohen Stollen, das Urnerloch, und erst beim Neubau der Gott-
hardstraße wurde es zu einem Tunnel von fünf Metern Höhe und sechs Metern
Breite erweitert, der die Durchfahrt vou Wagen ermöglicht, jetzt übrigens auch
durch ein eisernes Thor jederzeit gesperrt werden kann. Begreiflich ebenso,
daß Goethen in diesem dunkeln engen Schlund am Ende eines so mühseligen
Wegs eine „verdrießliche" Stimmung überkam, wie daß er von dem Anblick
des Urserenthals anmutig überrascht wurde. Diesen seinen Eindruck spiegeln
auch Schillers Verse im „Berglied" wieder:

Und im „Tell" weist dieser dem flüchtigen Johann Parrieida, freilich mit starkem
Anachronismus, denselben Weg:

Heute ist der Gegensatz nicht mehr so schroff, weil die Anstrengung des
Wegs nnr gering ist, aber überraschend wirkt der Übergang aus der engen,
nackten Schlucht in das weite, grüne Thal dennoch. Die Reuß, die dort den
Reisenden fortwährend mit donnerndem Brausen begleitet hat, verwandelt sich
oberhalb des Urnerlochs mit einemmal in einen zwar rasch und stark aber


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0494" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239282"/>
          <fw type="header" place="top"> Am Se. Gotthard</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2375" prev="#ID_2374"> schreitend, bis an den Bodensee führte. Am 24. September 1799 hatte Suworvw<lb/>
unter beständigen Gefechten Hospenthal erreicht; am 25. September drangen<lb/>
seine Vortruppen unter Rosenberg, die Franzosen durch Umgehung zur Räumung<lb/>
des Urnerlochs zwingend, bis an die Teufelsbrücke vor, von der der kleinere<lb/>
Bogen auf der rechten Uferseite gesprengt war. Nun wird überall erzählt, die<lb/>
Russen hätten einzeln unterhalb der stark besetzten Brücke im Feuer des Feindes<lb/>
die Neuß durchwatet, Hütten ihn so wieder umgangen und zum Rückzug nach<lb/>
Amsteg genötigt. Wer jemals an dieser Stelle gestanden hat, der wird die<lb/>
Möglichkeit dieses verwegnen Manövers stark bezweifeln, denn die Uferstellen<lb/>
fallen nach der Reus; hin zuletzt überall glatt ab, sodaß es zwar möglich sein<lb/>
mag, an ihnen hinab ins Wasser zu gleiten, aber unmöglich scheint, an der<lb/>
andern Seite wieder hinnufzukliminen; vor allem aber wäre Menschenkraft schwer¬<lb/>
lich imstande gewesen, der ungeheuern Wucht des herabstürzenden Wassers in<lb/>
diesen Katarakten zu widerstehn, deren Grund unregelmäßige, glatte Granit¬<lb/>
blöcke bilden, die nirgends sichern Tritt gewähren. Auch bedürfte es eines so<lb/>
abenteuerlichem Versuchs gar nicht. Ein schmales Grasband des rechten Ufers,<lb/>
an dem jetzt das Nussendenkmal steht, genügte, russische Schützen soweit vor¬<lb/>
zuschieben, daß sie die Brücke im Rücken fassen und den abwärts führenden Saum¬<lb/>
pfad wirksam unter Feuer nehmen konnten, und darauf allein kam es an.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2376" next="#ID_2377"> Hinter dein Nussenkreuz sperrt der vorspringende Tenfelsberg mit dein<lb/>
Bützberg gegenüber die Straße derart, daß eben hier die &#x201E;staubende Brücke" auf-<lb/>
gehüugt werden mußte. Erst 1707 sprengte der italienische Ingenieur Pietro<lb/>
Moretiui durch den grauschwarzen Schieferfelsen einen nur 2^ Meter breiten<lb/>
und eben so hohen Stollen, das Urnerloch, und erst beim Neubau der Gott-<lb/>
hardstraße wurde es zu einem Tunnel von fünf Metern Höhe und sechs Metern<lb/>
Breite erweitert, der die Durchfahrt vou Wagen ermöglicht, jetzt übrigens auch<lb/>
durch ein eisernes Thor jederzeit gesperrt werden kann. Begreiflich ebenso,<lb/>
daß Goethen in diesem dunkeln engen Schlund am Ende eines so mühseligen<lb/>
Wegs eine &#x201E;verdrießliche" Stimmung überkam, wie daß er von dem Anblick<lb/>
des Urserenthals anmutig überrascht wurde. Diesen seinen Eindruck spiegeln<lb/>
auch Schillers Verse im &#x201E;Berglied" wieder:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_36" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_2377" prev="#ID_2376"> Und im &#x201E;Tell" weist dieser dem flüchtigen Johann Parrieida, freilich mit starkem<lb/>
Anachronismus, denselben Weg:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_37" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_2378" next="#ID_2379"> Heute ist der Gegensatz nicht mehr so schroff, weil die Anstrengung des<lb/>
Wegs nnr gering ist, aber überraschend wirkt der Übergang aus der engen,<lb/>
nackten Schlucht in das weite, grüne Thal dennoch. Die Reuß, die dort den<lb/>
Reisenden fortwährend mit donnerndem Brausen begleitet hat, verwandelt sich<lb/>
oberhalb des Urnerlochs mit einemmal in einen zwar rasch und stark aber</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0494] Am Se. Gotthard schreitend, bis an den Bodensee führte. Am 24. September 1799 hatte Suworvw unter beständigen Gefechten Hospenthal erreicht; am 25. September drangen seine Vortruppen unter Rosenberg, die Franzosen durch Umgehung zur Räumung des Urnerlochs zwingend, bis an die Teufelsbrücke vor, von der der kleinere Bogen auf der rechten Uferseite gesprengt war. Nun wird überall erzählt, die Russen hätten einzeln unterhalb der stark besetzten Brücke im Feuer des Feindes die Neuß durchwatet, Hütten ihn so wieder umgangen und zum Rückzug nach Amsteg genötigt. Wer jemals an dieser Stelle gestanden hat, der wird die Möglichkeit dieses verwegnen Manövers stark bezweifeln, denn die Uferstellen fallen nach der Reus; hin zuletzt überall glatt ab, sodaß es zwar möglich sein mag, an ihnen hinab ins Wasser zu gleiten, aber unmöglich scheint, an der andern Seite wieder hinnufzukliminen; vor allem aber wäre Menschenkraft schwer¬ lich imstande gewesen, der ungeheuern Wucht des herabstürzenden Wassers in diesen Katarakten zu widerstehn, deren Grund unregelmäßige, glatte Granit¬ blöcke bilden, die nirgends sichern Tritt gewähren. Auch bedürfte es eines so abenteuerlichem Versuchs gar nicht. Ein schmales Grasband des rechten Ufers, an dem jetzt das Nussendenkmal steht, genügte, russische Schützen soweit vor¬ zuschieben, daß sie die Brücke im Rücken fassen und den abwärts führenden Saum¬ pfad wirksam unter Feuer nehmen konnten, und darauf allein kam es an. Hinter dein Nussenkreuz sperrt der vorspringende Tenfelsberg mit dein Bützberg gegenüber die Straße derart, daß eben hier die „staubende Brücke" auf- gehüugt werden mußte. Erst 1707 sprengte der italienische Ingenieur Pietro Moretiui durch den grauschwarzen Schieferfelsen einen nur 2^ Meter breiten und eben so hohen Stollen, das Urnerloch, und erst beim Neubau der Gott- hardstraße wurde es zu einem Tunnel von fünf Metern Höhe und sechs Metern Breite erweitert, der die Durchfahrt vou Wagen ermöglicht, jetzt übrigens auch durch ein eisernes Thor jederzeit gesperrt werden kann. Begreiflich ebenso, daß Goethen in diesem dunkeln engen Schlund am Ende eines so mühseligen Wegs eine „verdrießliche" Stimmung überkam, wie daß er von dem Anblick des Urserenthals anmutig überrascht wurde. Diesen seinen Eindruck spiegeln auch Schillers Verse im „Berglied" wieder: Und im „Tell" weist dieser dem flüchtigen Johann Parrieida, freilich mit starkem Anachronismus, denselben Weg: Heute ist der Gegensatz nicht mehr so schroff, weil die Anstrengung des Wegs nnr gering ist, aber überraschend wirkt der Übergang aus der engen, nackten Schlucht in das weite, grüne Thal dennoch. Die Reuß, die dort den Reisenden fortwährend mit donnerndem Brausen begleitet hat, verwandelt sich oberhalb des Urnerlochs mit einemmal in einen zwar rasch und stark aber

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/494
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/494>, abgerufen am 01.09.2024.