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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Am Se. Gotthard

Völker recken und strecken sich, ihren Anteil an der Welt zu erobern, und
führen im Innern erbitterte Kriege um große Ziele, aber die Dichtung aller
Länder schildert mit Vorliebe das Schwächliche und das Krankhafte, als ob nur
dieses darstelleuswert sei; die Nationalität macht hier gar keinen Unterschied,
ein Beweis mehr dafür, daß die künstlerische Produktion der Neuzeit weniger
von der nationalen Verschiedenheit als von der gemeinsamen Entwicklungs¬
stufe abhängt. Das ist das natürliche Ergebnis, aber auch zugleich der
Bankrott der modernsten Philosophen, die den Menschen bald zu einem willen¬
losen, unfreien Spielzeug seiner Eigenschaften und seiner Umgebung, bald zum
Übermenschen, also zum brutalen Egoisten machen. Alle wirkliche Sittlichkeit
aber -- nicht nur die "herkömmliche" Sittlichkeit -- beruht auf der Willens¬
freih O. A. eit und auf der Einschränkung der Selbstsucht.




Am ^>t. Gotthard
Gelo Kaemmel von(Fortsetzung)

er Gotthcirdstraße hat die Natur ihre Richtung so bestimmt vor-
gezeichnet, daß nur im einzelnen Abweichungen von der einmal
eingcschlagnen Linie möglich sind. Von Flüelen, wo sie am
flachen Gestade des Urner Sees beginnt, durchzieht sie bis
Amstcg in fast umuerklicher Steigung von 347 zu 522 Meter
^ einer Länge von 16 Kilometern die breite, nur allmählich sich verengende
^hnlebne der Reuß, ihren flachen Alluvialboden, den wirtschaftlichen und
historischen Kern des Kantons Uri, wo sich die sagenberühmten Örtlich¬
eren Altdorf, Bürgem, Attlinghauseu, Zwinguri auf kurze Entfernung zn-
Mnmendrüngen. Nur die Umgebung trägt den großartigen Charakter des
Hochgebirges: hohe, schroffe, wasserzerrissene, nur unten bewaldete Wände,
Drüber dann und wann hinter einem Querthale ein Glctscherrand oder ein
^chneehaupt, wie vor allem die prachtvolle Granitpyramide des Bristenstocks,
le das ganze Thal beherrscht und sich immer höher in den Himmel hinein
^de, je weiter man aufwärts steigt. Bei Amsteg geht die Thalebne in einen
^'^en Thalspalt über, die Neuß verwandelt sich in einen stürzenden, schau-
'uenden, tosenden Gießbach, die Thalsohle verschwindet, und Straße wie
Seilbahn muß sich mühsam hoch über dem Flusse, bald rechts, bald links,
^'f den darüber ansteigenden beruften Terrassen den Weg suchen. Der alte
Saumpfad ist vielfach anders gegangen als die moderne, erst 1820/30 erbaute
-poststraße; er lief unter den drei schlimmsten Lawinenzügen des Bristenstocks,
" auf dem rechte" Ufer, durch und mußte allein im Pfarrbezirk Waffen
^ "öls Holzbrncken überschreiten, war also häufigen Störungen ausgesetzt. Für
l^nen Unterhalt hatten die Thalgemeinden auszukommen, und zwar so, daß in


Grenzboten IV 1902 (N
Am Se. Gotthard

Völker recken und strecken sich, ihren Anteil an der Welt zu erobern, und
führen im Innern erbitterte Kriege um große Ziele, aber die Dichtung aller
Länder schildert mit Vorliebe das Schwächliche und das Krankhafte, als ob nur
dieses darstelleuswert sei; die Nationalität macht hier gar keinen Unterschied,
ein Beweis mehr dafür, daß die künstlerische Produktion der Neuzeit weniger
von der nationalen Verschiedenheit als von der gemeinsamen Entwicklungs¬
stufe abhängt. Das ist das natürliche Ergebnis, aber auch zugleich der
Bankrott der modernsten Philosophen, die den Menschen bald zu einem willen¬
losen, unfreien Spielzeug seiner Eigenschaften und seiner Umgebung, bald zum
Übermenschen, also zum brutalen Egoisten machen. Alle wirkliche Sittlichkeit
aber — nicht nur die „herkömmliche" Sittlichkeit — beruht auf der Willens¬
freih O. A. eit und auf der Einschränkung der Selbstsucht.




Am ^>t. Gotthard
Gelo Kaemmel von(Fortsetzung)

er Gotthcirdstraße hat die Natur ihre Richtung so bestimmt vor-
gezeichnet, daß nur im einzelnen Abweichungen von der einmal
eingcschlagnen Linie möglich sind. Von Flüelen, wo sie am
flachen Gestade des Urner Sees beginnt, durchzieht sie bis
Amstcg in fast umuerklicher Steigung von 347 zu 522 Meter
^ einer Länge von 16 Kilometern die breite, nur allmählich sich verengende
^hnlebne der Reuß, ihren flachen Alluvialboden, den wirtschaftlichen und
historischen Kern des Kantons Uri, wo sich die sagenberühmten Örtlich¬
eren Altdorf, Bürgem, Attlinghauseu, Zwinguri auf kurze Entfernung zn-
Mnmendrüngen. Nur die Umgebung trägt den großartigen Charakter des
Hochgebirges: hohe, schroffe, wasserzerrissene, nur unten bewaldete Wände,
Drüber dann und wann hinter einem Querthale ein Glctscherrand oder ein
^chneehaupt, wie vor allem die prachtvolle Granitpyramide des Bristenstocks,
le das ganze Thal beherrscht und sich immer höher in den Himmel hinein
^de, je weiter man aufwärts steigt. Bei Amsteg geht die Thalebne in einen
^'^en Thalspalt über, die Neuß verwandelt sich in einen stürzenden, schau-
'uenden, tosenden Gießbach, die Thalsohle verschwindet, und Straße wie
Seilbahn muß sich mühsam hoch über dem Flusse, bald rechts, bald links,
^'f den darüber ansteigenden beruften Terrassen den Weg suchen. Der alte
Saumpfad ist vielfach anders gegangen als die moderne, erst 1820/30 erbaute
-poststraße; er lief unter den drei schlimmsten Lawinenzügen des Bristenstocks,
" auf dem rechte» Ufer, durch und mußte allein im Pfarrbezirk Waffen
^ "öls Holzbrncken überschreiten, war also häufigen Störungen ausgesetzt. Für
l^nen Unterhalt hatten die Thalgemeinden auszukommen, und zwar so, daß in


Grenzboten IV 1902 (N
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[0491] Am Se. Gotthard Völker recken und strecken sich, ihren Anteil an der Welt zu erobern, und führen im Innern erbitterte Kriege um große Ziele, aber die Dichtung aller Länder schildert mit Vorliebe das Schwächliche und das Krankhafte, als ob nur dieses darstelleuswert sei; die Nationalität macht hier gar keinen Unterschied, ein Beweis mehr dafür, daß die künstlerische Produktion der Neuzeit weniger von der nationalen Verschiedenheit als von der gemeinsamen Entwicklungs¬ stufe abhängt. Das ist das natürliche Ergebnis, aber auch zugleich der Bankrott der modernsten Philosophen, die den Menschen bald zu einem willen¬ losen, unfreien Spielzeug seiner Eigenschaften und seiner Umgebung, bald zum Übermenschen, also zum brutalen Egoisten machen. Alle wirkliche Sittlichkeit aber — nicht nur die „herkömmliche" Sittlichkeit — beruht auf der Willens¬ freih O. A. eit und auf der Einschränkung der Selbstsucht. Am ^>t. Gotthard Gelo Kaemmel von(Fortsetzung) er Gotthcirdstraße hat die Natur ihre Richtung so bestimmt vor- gezeichnet, daß nur im einzelnen Abweichungen von der einmal eingcschlagnen Linie möglich sind. Von Flüelen, wo sie am flachen Gestade des Urner Sees beginnt, durchzieht sie bis Amstcg in fast umuerklicher Steigung von 347 zu 522 Meter ^ einer Länge von 16 Kilometern die breite, nur allmählich sich verengende ^hnlebne der Reuß, ihren flachen Alluvialboden, den wirtschaftlichen und historischen Kern des Kantons Uri, wo sich die sagenberühmten Örtlich¬ eren Altdorf, Bürgem, Attlinghauseu, Zwinguri auf kurze Entfernung zn- Mnmendrüngen. Nur die Umgebung trägt den großartigen Charakter des Hochgebirges: hohe, schroffe, wasserzerrissene, nur unten bewaldete Wände, Drüber dann und wann hinter einem Querthale ein Glctscherrand oder ein ^chneehaupt, wie vor allem die prachtvolle Granitpyramide des Bristenstocks, le das ganze Thal beherrscht und sich immer höher in den Himmel hinein ^de, je weiter man aufwärts steigt. Bei Amsteg geht die Thalebne in einen ^'^en Thalspalt über, die Neuß verwandelt sich in einen stürzenden, schau- 'uenden, tosenden Gießbach, die Thalsohle verschwindet, und Straße wie Seilbahn muß sich mühsam hoch über dem Flusse, bald rechts, bald links, ^'f den darüber ansteigenden beruften Terrassen den Weg suchen. Der alte Saumpfad ist vielfach anders gegangen als die moderne, erst 1820/30 erbaute -poststraße; er lief unter den drei schlimmsten Lawinenzügen des Bristenstocks, " auf dem rechte» Ufer, durch und mußte allein im Pfarrbezirk Waffen ^ "öls Holzbrncken überschreiten, war also häufigen Störungen ausgesetzt. Für l^nen Unterhalt hatten die Thalgemeinden auszukommen, und zwar so, daß in Grenzboten IV 1902 (N

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/491>, abgerufen am 01.09.2024.