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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

zusammenhing. Herr Alfred Sanerbrei war mich nicht ein Vertreter der reinen
Rasse, sondern war schon etwas degeneriert. Er war Handschnhfabrikant in zweiter
Generation. Er hatte nicht nötig gehabt, unter Sorgen und Schinder das Ge¬
schäft in die Höhe zu bringen, er war ans dem Gymnasium gewesen, hatte sich
Tertianerbildung erworben und hatte dabei, wie er zu sagen Pflegte, am Golde
des grünen Lebensbaumes genascht. Darauf hatte er seines Vaters Geschäft geerbt,
war sogar Stadtrat geworden und hatte das Dezernat für städtische Kunst und
Wissenschaft übernommen, nämlich das Schulwesen und die künstlerische Überwachung
der Leierkasten und Schaubuden. Aber seine stille Sehnsucht ging höher hinauf,
nach einem Plätzchen auf dem Parnaß. Da nun ein solcher Platz in Polkenrvda
nicht zu haben war, so mußte er sich auf seinen photographischen Knipskasten und
daraus beschränken, bei gegebner Gelegenheit ein schwungvolles Gedicht zu machen.

Herr Alfred Sauerbrei dichtete. Die Gelegenheit forderte es, und dies war
keine geringere als die silberne Hochzeit des Herrn Bürgermeisters. Selbstver¬
ständlich durfte man die Gelegenheit, ein Jubelfest zu begehn, nicht ungenützt vor-
übergehn lassen. Man hatte beabsichtigt, dem Herrn Bürgermeister wegen seiner
hohen Verdienste um die Stadt ein Ehrengeschenk in Gestalt eines Lehnstuhls zu
überreichen? aber die Majorität der Stadtverordneten, Leute, die von den nller-
niedrigsten Instinkten erfüllt waren, hatten die Bewilligung der Gelder abgelehnt.
Verdienste? hatte man gesagt, wo hat denn der Bürgermeister Verdienste? Er
Wird bezahlt, thut seine Schuldigkeit, und damit hotta. Ihnen schenkte man auch
keine Lehnstühle, denn zum Faulenzen habe die Neuzeit keine Zeit. Darüber hatten
s'es die Optimaten von Pollenroda sehr entrüstet. Es war aber nichts zu machen
gewesen, und man mußte sich darauf beschränken, eine Familienfeier zu veranstalten
und dieser einen besondern Glanz zu geben. Also: Ständchen, Deputationen,
Gratulationen, Toaste, Tischlicdcr, und was sonst festliche Tage zu zieren Pflegt.

Schön. Aber wer sollte die Tischlieder machen? Es war in Pollenroda, den
Herrn Rektor und deu Herrn Oberprediger einbegriffen, schlechterdings keiner im¬
stande, ein schwungvolles Tifchlicd zu bauen, außer Herrn Stadtrat Alfred Sauer-
°rei. Dieser also setzte sich hin und dichtete nach der einzigen hierfür in Betracht
kommenden Melodie "Kommt herbei, ihr Völkerscharcn" im Schweiße seines An¬
gesichts:

Das Lied hatte dreizehn Verse. Man fürchte nicht, daß ich sie alle hier
wiedergebe. Nur der letzte möge noch dastehn.


Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

zusammenhing. Herr Alfred Sanerbrei war mich nicht ein Vertreter der reinen
Rasse, sondern war schon etwas degeneriert. Er war Handschnhfabrikant in zweiter
Generation. Er hatte nicht nötig gehabt, unter Sorgen und Schinder das Ge¬
schäft in die Höhe zu bringen, er war ans dem Gymnasium gewesen, hatte sich
Tertianerbildung erworben und hatte dabei, wie er zu sagen Pflegte, am Golde
des grünen Lebensbaumes genascht. Darauf hatte er seines Vaters Geschäft geerbt,
war sogar Stadtrat geworden und hatte das Dezernat für städtische Kunst und
Wissenschaft übernommen, nämlich das Schulwesen und die künstlerische Überwachung
der Leierkasten und Schaubuden. Aber seine stille Sehnsucht ging höher hinauf,
nach einem Plätzchen auf dem Parnaß. Da nun ein solcher Platz in Polkenrvda
nicht zu haben war, so mußte er sich auf seinen photographischen Knipskasten und
daraus beschränken, bei gegebner Gelegenheit ein schwungvolles Gedicht zu machen.

Herr Alfred Sauerbrei dichtete. Die Gelegenheit forderte es, und dies war
keine geringere als die silberne Hochzeit des Herrn Bürgermeisters. Selbstver¬
ständlich durfte man die Gelegenheit, ein Jubelfest zu begehn, nicht ungenützt vor-
übergehn lassen. Man hatte beabsichtigt, dem Herrn Bürgermeister wegen seiner
hohen Verdienste um die Stadt ein Ehrengeschenk in Gestalt eines Lehnstuhls zu
überreichen? aber die Majorität der Stadtverordneten, Leute, die von den nller-
niedrigsten Instinkten erfüllt waren, hatten die Bewilligung der Gelder abgelehnt.
Verdienste? hatte man gesagt, wo hat denn der Bürgermeister Verdienste? Er
Wird bezahlt, thut seine Schuldigkeit, und damit hotta. Ihnen schenkte man auch
keine Lehnstühle, denn zum Faulenzen habe die Neuzeit keine Zeit. Darüber hatten
s'es die Optimaten von Pollenroda sehr entrüstet. Es war aber nichts zu machen
gewesen, und man mußte sich darauf beschränken, eine Familienfeier zu veranstalten
und dieser einen besondern Glanz zu geben. Also: Ständchen, Deputationen,
Gratulationen, Toaste, Tischlicdcr, und was sonst festliche Tage zu zieren Pflegt.

Schön. Aber wer sollte die Tischlieder machen? Es war in Pollenroda, den
Herrn Rektor und deu Herrn Oberprediger einbegriffen, schlechterdings keiner im¬
stande, ein schwungvolles Tifchlicd zu bauen, außer Herrn Stadtrat Alfred Sauer-
°rei. Dieser also setzte sich hin und dichtete nach der einzigen hierfür in Betracht
kommenden Melodie „Kommt herbei, ihr Völkerscharcn" im Schweiße seines An¬
gesichts:

Das Lied hatte dreizehn Verse. Man fürchte nicht, daß ich sie alle hier
wiedergebe. Nur der letzte möge noch dastehn.


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[0441] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben zusammenhing. Herr Alfred Sanerbrei war mich nicht ein Vertreter der reinen Rasse, sondern war schon etwas degeneriert. Er war Handschnhfabrikant in zweiter Generation. Er hatte nicht nötig gehabt, unter Sorgen und Schinder das Ge¬ schäft in die Höhe zu bringen, er war ans dem Gymnasium gewesen, hatte sich Tertianerbildung erworben und hatte dabei, wie er zu sagen Pflegte, am Golde des grünen Lebensbaumes genascht. Darauf hatte er seines Vaters Geschäft geerbt, war sogar Stadtrat geworden und hatte das Dezernat für städtische Kunst und Wissenschaft übernommen, nämlich das Schulwesen und die künstlerische Überwachung der Leierkasten und Schaubuden. Aber seine stille Sehnsucht ging höher hinauf, nach einem Plätzchen auf dem Parnaß. Da nun ein solcher Platz in Polkenrvda nicht zu haben war, so mußte er sich auf seinen photographischen Knipskasten und daraus beschränken, bei gegebner Gelegenheit ein schwungvolles Gedicht zu machen. Herr Alfred Sauerbrei dichtete. Die Gelegenheit forderte es, und dies war keine geringere als die silberne Hochzeit des Herrn Bürgermeisters. Selbstver¬ ständlich durfte man die Gelegenheit, ein Jubelfest zu begehn, nicht ungenützt vor- übergehn lassen. Man hatte beabsichtigt, dem Herrn Bürgermeister wegen seiner hohen Verdienste um die Stadt ein Ehrengeschenk in Gestalt eines Lehnstuhls zu überreichen? aber die Majorität der Stadtverordneten, Leute, die von den nller- niedrigsten Instinkten erfüllt waren, hatten die Bewilligung der Gelder abgelehnt. Verdienste? hatte man gesagt, wo hat denn der Bürgermeister Verdienste? Er Wird bezahlt, thut seine Schuldigkeit, und damit hotta. Ihnen schenkte man auch keine Lehnstühle, denn zum Faulenzen habe die Neuzeit keine Zeit. Darüber hatten s'es die Optimaten von Pollenroda sehr entrüstet. Es war aber nichts zu machen gewesen, und man mußte sich darauf beschränken, eine Familienfeier zu veranstalten und dieser einen besondern Glanz zu geben. Also: Ständchen, Deputationen, Gratulationen, Toaste, Tischlicdcr, und was sonst festliche Tage zu zieren Pflegt. Schön. Aber wer sollte die Tischlieder machen? Es war in Pollenroda, den Herrn Rektor und deu Herrn Oberprediger einbegriffen, schlechterdings keiner im¬ stande, ein schwungvolles Tifchlicd zu bauen, außer Herrn Stadtrat Alfred Sauer- °rei. Dieser also setzte sich hin und dichtete nach der einzigen hierfür in Betracht kommenden Melodie „Kommt herbei, ihr Völkerscharcn" im Schweiße seines An¬ gesichts: Das Lied hatte dreizehn Verse. Man fürchte nicht, daß ich sie alle hier wiedergebe. Nur der letzte möge noch dastehn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/441>, abgerufen am 01.09.2024.