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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Der Dichter der griechische" Aufklärung

Die sinnliche Leidenschaft dagegen führt den Menschen ins Verderben,
wie sie die Phädra im Hippolytos vernichtet. Freilich ist der Eros eine ge¬
waltige Macht, und wen er erfaßt, der ist ihm verfallen, dem Herrscher über
Götter und Menschen, und nnr der kommt glücklich davon, der es versteht,
auch in diesem Punkte das rechte Maß innezuhalten.

Ich übergehe den folgenden Abschnitt des Buches, der vom Menschen¬
leben handelt, also von den Ansichten des Dichters über den Wechsel von
Glück und Unglück, Freude und Leid, über Krankheiten, Alter und Sterben.
Nur der Umstand sei erwähnt, daß der im Altertum so vielfach wiederkehrende
Gedanke "Niemand ist vor dem Tode glücklich zu preisen" auch bei Euripides
mehrfach vorkommt, so z. B, in den Troerinnen 509 ff.:

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der menschlichen Gesellschaft,
zunächst mit dem Familienleben. Bei der Ehe, das heißt bei der Einzelehe
die Polygamie wird durchaus verworfen -- betont der Dichter vor allem
das Sittliche'; eine glückliche Ehe gehört zu dem Schönsten und Besten, was
der Mensch sich wünschen kann.

Im Orestes V. 602 f. heißt es:

Das Glück der Ehe liegt hauptsächlich in der Hand der Frau, die ein
mitfühlendes Herz für die Freuden und Leiden des Gatten haben und treu
und züchtig im Hause walten soll. Aber solche Frauen sind selten, viel häufiger
ist die böse Frau, und diese wird deshalb von dem Dichter, der nach der Über-
Lieferung durch persönliche üble Erfahrungen in seiner Ehe verbittert war, mit
herbem Tadel bedacht, ja an einzelnen Stellen wendet sich sein Groll gegen
das ganze weibliche Geschlecht ohne Unterschied, sodaß er schon im Altertum
als ausgesprochner Weiberfeind galt. Dagegen zeigt nun Resele, daß dieser
Vorwurf doch nicht ganz berechtigt ist; er stimmt nicht zu dem doch auch nicht
seltenen Lob des guten Weibes und vor allem nicht zu den von Euripides
geschaffnen herrlichen Frnnengestnlteu, wie Alkestis, die für den Gatten stirbt,
Eucidne, die dem Gemahl in den Tod folgt, Malaria, die sich für ihre Brüder
opfert, und Iphigenie, die ihr Leben für das Vaterland hingeben will. "Genau
besehen, hat Euripides den Frauen uicht schlimmer mitgespielt als mancher
Dichter vor, mit und nach ihm; im Gegenteil, er hat sich entschieden bemüht,
ein möglichst objektives Urteil über sie abzugeben. Euripides erkennt nicht
einmal die sonst allgemeine Anschauung des Altertums, daß der Mann als
solcher mehr wert sei als die Frau, unbedingt an, indem er individualisiert
und zugiebt, daß eine bestimmte einzelne Frau besser sein könne als ein be¬
stimmter einzelner Mann."*)



Vergl. auch v. Wilamomitz, Einleitung zur Ausgabe des Herakles S, 10: "Es muh
geradezu gesagt werden, daß Euripides das Weib und die durch das Verhältnis der Geschlechter
Der Dichter der griechische» Aufklärung

Die sinnliche Leidenschaft dagegen führt den Menschen ins Verderben,
wie sie die Phädra im Hippolytos vernichtet. Freilich ist der Eros eine ge¬
waltige Macht, und wen er erfaßt, der ist ihm verfallen, dem Herrscher über
Götter und Menschen, und nnr der kommt glücklich davon, der es versteht,
auch in diesem Punkte das rechte Maß innezuhalten.

Ich übergehe den folgenden Abschnitt des Buches, der vom Menschen¬
leben handelt, also von den Ansichten des Dichters über den Wechsel von
Glück und Unglück, Freude und Leid, über Krankheiten, Alter und Sterben.
Nur der Umstand sei erwähnt, daß der im Altertum so vielfach wiederkehrende
Gedanke „Niemand ist vor dem Tode glücklich zu preisen" auch bei Euripides
mehrfach vorkommt, so z. B, in den Troerinnen 509 ff.:

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der menschlichen Gesellschaft,
zunächst mit dem Familienleben. Bei der Ehe, das heißt bei der Einzelehe
die Polygamie wird durchaus verworfen — betont der Dichter vor allem
das Sittliche'; eine glückliche Ehe gehört zu dem Schönsten und Besten, was
der Mensch sich wünschen kann.

Im Orestes V. 602 f. heißt es:

Das Glück der Ehe liegt hauptsächlich in der Hand der Frau, die ein
mitfühlendes Herz für die Freuden und Leiden des Gatten haben und treu
und züchtig im Hause walten soll. Aber solche Frauen sind selten, viel häufiger
ist die böse Frau, und diese wird deshalb von dem Dichter, der nach der Über-
Lieferung durch persönliche üble Erfahrungen in seiner Ehe verbittert war, mit
herbem Tadel bedacht, ja an einzelnen Stellen wendet sich sein Groll gegen
das ganze weibliche Geschlecht ohne Unterschied, sodaß er schon im Altertum
als ausgesprochner Weiberfeind galt. Dagegen zeigt nun Resele, daß dieser
Vorwurf doch nicht ganz berechtigt ist; er stimmt nicht zu dem doch auch nicht
seltenen Lob des guten Weibes und vor allem nicht zu den von Euripides
geschaffnen herrlichen Frnnengestnlteu, wie Alkestis, die für den Gatten stirbt,
Eucidne, die dem Gemahl in den Tod folgt, Malaria, die sich für ihre Brüder
opfert, und Iphigenie, die ihr Leben für das Vaterland hingeben will. „Genau
besehen, hat Euripides den Frauen uicht schlimmer mitgespielt als mancher
Dichter vor, mit und nach ihm; im Gegenteil, er hat sich entschieden bemüht,
ein möglichst objektives Urteil über sie abzugeben. Euripides erkennt nicht
einmal die sonst allgemeine Anschauung des Altertums, daß der Mann als
solcher mehr wert sei als die Frau, unbedingt an, indem er individualisiert
und zugiebt, daß eine bestimmte einzelne Frau besser sein könne als ein be¬
stimmter einzelner Mann."*)



Vergl. auch v. Wilamomitz, Einleitung zur Ausgabe des Herakles S, 10: „Es muh
geradezu gesagt werden, daß Euripides das Weib und die durch das Verhältnis der Geschlechter
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[0431] Der Dichter der griechische» Aufklärung Die sinnliche Leidenschaft dagegen führt den Menschen ins Verderben, wie sie die Phädra im Hippolytos vernichtet. Freilich ist der Eros eine ge¬ waltige Macht, und wen er erfaßt, der ist ihm verfallen, dem Herrscher über Götter und Menschen, und nnr der kommt glücklich davon, der es versteht, auch in diesem Punkte das rechte Maß innezuhalten. Ich übergehe den folgenden Abschnitt des Buches, der vom Menschen¬ leben handelt, also von den Ansichten des Dichters über den Wechsel von Glück und Unglück, Freude und Leid, über Krankheiten, Alter und Sterben. Nur der Umstand sei erwähnt, daß der im Altertum so vielfach wiederkehrende Gedanke „Niemand ist vor dem Tode glücklich zu preisen" auch bei Euripides mehrfach vorkommt, so z. B, in den Troerinnen 509 ff.: Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der menschlichen Gesellschaft, zunächst mit dem Familienleben. Bei der Ehe, das heißt bei der Einzelehe die Polygamie wird durchaus verworfen — betont der Dichter vor allem das Sittliche'; eine glückliche Ehe gehört zu dem Schönsten und Besten, was der Mensch sich wünschen kann. Im Orestes V. 602 f. heißt es: Das Glück der Ehe liegt hauptsächlich in der Hand der Frau, die ein mitfühlendes Herz für die Freuden und Leiden des Gatten haben und treu und züchtig im Hause walten soll. Aber solche Frauen sind selten, viel häufiger ist die böse Frau, und diese wird deshalb von dem Dichter, der nach der Über- Lieferung durch persönliche üble Erfahrungen in seiner Ehe verbittert war, mit herbem Tadel bedacht, ja an einzelnen Stellen wendet sich sein Groll gegen das ganze weibliche Geschlecht ohne Unterschied, sodaß er schon im Altertum als ausgesprochner Weiberfeind galt. Dagegen zeigt nun Resele, daß dieser Vorwurf doch nicht ganz berechtigt ist; er stimmt nicht zu dem doch auch nicht seltenen Lob des guten Weibes und vor allem nicht zu den von Euripides geschaffnen herrlichen Frnnengestnlteu, wie Alkestis, die für den Gatten stirbt, Eucidne, die dem Gemahl in den Tod folgt, Malaria, die sich für ihre Brüder opfert, und Iphigenie, die ihr Leben für das Vaterland hingeben will. „Genau besehen, hat Euripides den Frauen uicht schlimmer mitgespielt als mancher Dichter vor, mit und nach ihm; im Gegenteil, er hat sich entschieden bemüht, ein möglichst objektives Urteil über sie abzugeben. Euripides erkennt nicht einmal die sonst allgemeine Anschauung des Altertums, daß der Mann als solcher mehr wert sei als die Frau, unbedingt an, indem er individualisiert und zugiebt, daß eine bestimmte einzelne Frau besser sein könne als ein be¬ stimmter einzelner Mann."*) Vergl. auch v. Wilamomitz, Einleitung zur Ausgabe des Herakles S, 10: „Es muh geradezu gesagt werden, daß Euripides das Weib und die durch das Verhältnis der Geschlechter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/431>, abgerufen am 01.09.2024.