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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Ver Dichter der griechischen Aufklärung

Guten mit dem Thun zusammenfüllt, kann bei Euripides der Mensch, anch
wenn er das Rechte erkannt hat, es doch vielfach nicht thun, weil ihm die
sittliche Fähigkeit fehlt. Vor allem wichtig ist also die Vererbung; vou guten
Eltern, mögen sie von vornehmer oder geringer Geburt, arm oder reich sein,
stammen gute Kinder ab, von schlechten schlechte. Die gute Erziehung, so
wünschenswert sie an sich ist, ist nicht imstande, den von Natur Schlechten
völlig umzuwandeln. Dagegen wird ein schlechter Umgang auch auf den von
Natur zum Guten Begabten verderblich einwirken.

Der oft, auch vou Paulus im 1. Korintherbrief 15 V. 33 zitierte Satz:
"Böse Gesellschaft verdirbt gute Sitten" geht auf Euripides zurück. Das Gute
identifiziert der Dichter mit dem Recht; jeder also, der von Natur überhaupt
dazu fähig ist, muß unbeirrt nach dem Rechte streben, wenn er tugendhaft
werden will. Das christliche Gebot der Feindesliebe ist dem Euripides wie
überhaupt dein Altertum unbekannt, die Wiedervergeltung für erlittnes Unrecht
ist auch dem Guten erlaubt, ebenso die Bevorzugung des eignen Ich, nur darf
die Selbstliebe nicht in niedrige Gewinn- und Genußsucht ausarten. Ungerecht
ist vor allein das Widerstreben gegen das Schicksal, und der Dichter wird nicht
milde, vor der Überhebung, der Hybris, zu warnen und andrerseits die demütige
Ergebung in den Willen des Schicksals als wahre Lebensweisheit anzuraten.
Ein Fragment z. B. lautet:

In den Bereich des Rechts fällt auch die von den Griechen zu allen
Zeiten so hochgehaltne Sophrosync, ein Begriff, den mau im Deutschen nicht
gut durch ein Wort wiedergeben kann, und der das besonnene Maßhalten in
allen Lebenslagen bezeichnet, ferner gehört uoch besonders dahin die Wahr¬
haftigkeit, die der Dichter zu seinem Schmerz durch die rhetorischen Künste der
Sophisten bedroht sieht. In einem Bruchstück aus dem ältern Hippolytus
heißt es:

Dagegen stimmt der Dichter mit den Sophisten überein in der Verurteilung
der einseitigen Ausbildung des Körpers, wie sie namentlich in Sparta üblich
war; er verwirft zwar die gymnastischen Übungen nicht gänzlich; aber auf die
Bildung des Geistes soll bei der Erziehung durchaus das Hauptgewicht ge¬
legt werde".

In dem Kapitel über Ethik spricht der Verfasser unsers Buches auch
über die Liebe bei Euripides. Der Tragiker unterscheidet eine sinnliche und
eine mehr geistige Liebe; diese, bei der das sinnliche Element zurücktritt'
berührt sich nahe mit dem platonischen Eros; sie befriedigt Gemüt und Geist
und gewährt dem Menschen das höchste Glück des Lebens:


Ver Dichter der griechischen Aufklärung

Guten mit dem Thun zusammenfüllt, kann bei Euripides der Mensch, anch
wenn er das Rechte erkannt hat, es doch vielfach nicht thun, weil ihm die
sittliche Fähigkeit fehlt. Vor allem wichtig ist also die Vererbung; vou guten
Eltern, mögen sie von vornehmer oder geringer Geburt, arm oder reich sein,
stammen gute Kinder ab, von schlechten schlechte. Die gute Erziehung, so
wünschenswert sie an sich ist, ist nicht imstande, den von Natur Schlechten
völlig umzuwandeln. Dagegen wird ein schlechter Umgang auch auf den von
Natur zum Guten Begabten verderblich einwirken.

Der oft, auch vou Paulus im 1. Korintherbrief 15 V. 33 zitierte Satz:
„Böse Gesellschaft verdirbt gute Sitten" geht auf Euripides zurück. Das Gute
identifiziert der Dichter mit dem Recht; jeder also, der von Natur überhaupt
dazu fähig ist, muß unbeirrt nach dem Rechte streben, wenn er tugendhaft
werden will. Das christliche Gebot der Feindesliebe ist dem Euripides wie
überhaupt dein Altertum unbekannt, die Wiedervergeltung für erlittnes Unrecht
ist auch dem Guten erlaubt, ebenso die Bevorzugung des eignen Ich, nur darf
die Selbstliebe nicht in niedrige Gewinn- und Genußsucht ausarten. Ungerecht
ist vor allein das Widerstreben gegen das Schicksal, und der Dichter wird nicht
milde, vor der Überhebung, der Hybris, zu warnen und andrerseits die demütige
Ergebung in den Willen des Schicksals als wahre Lebensweisheit anzuraten.
Ein Fragment z. B. lautet:

In den Bereich des Rechts fällt auch die von den Griechen zu allen
Zeiten so hochgehaltne Sophrosync, ein Begriff, den mau im Deutschen nicht
gut durch ein Wort wiedergeben kann, und der das besonnene Maßhalten in
allen Lebenslagen bezeichnet, ferner gehört uoch besonders dahin die Wahr¬
haftigkeit, die der Dichter zu seinem Schmerz durch die rhetorischen Künste der
Sophisten bedroht sieht. In einem Bruchstück aus dem ältern Hippolytus
heißt es:

Dagegen stimmt der Dichter mit den Sophisten überein in der Verurteilung
der einseitigen Ausbildung des Körpers, wie sie namentlich in Sparta üblich
war; er verwirft zwar die gymnastischen Übungen nicht gänzlich; aber auf die
Bildung des Geistes soll bei der Erziehung durchaus das Hauptgewicht ge¬
legt werde».

In dem Kapitel über Ethik spricht der Verfasser unsers Buches auch
über die Liebe bei Euripides. Der Tragiker unterscheidet eine sinnliche und
eine mehr geistige Liebe; diese, bei der das sinnliche Element zurücktritt'
berührt sich nahe mit dem platonischen Eros; sie befriedigt Gemüt und Geist
und gewährt dem Menschen das höchste Glück des Lebens:


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[0430] Ver Dichter der griechischen Aufklärung Guten mit dem Thun zusammenfüllt, kann bei Euripides der Mensch, anch wenn er das Rechte erkannt hat, es doch vielfach nicht thun, weil ihm die sittliche Fähigkeit fehlt. Vor allem wichtig ist also die Vererbung; vou guten Eltern, mögen sie von vornehmer oder geringer Geburt, arm oder reich sein, stammen gute Kinder ab, von schlechten schlechte. Die gute Erziehung, so wünschenswert sie an sich ist, ist nicht imstande, den von Natur Schlechten völlig umzuwandeln. Dagegen wird ein schlechter Umgang auch auf den von Natur zum Guten Begabten verderblich einwirken. Der oft, auch vou Paulus im 1. Korintherbrief 15 V. 33 zitierte Satz: „Böse Gesellschaft verdirbt gute Sitten" geht auf Euripides zurück. Das Gute identifiziert der Dichter mit dem Recht; jeder also, der von Natur überhaupt dazu fähig ist, muß unbeirrt nach dem Rechte streben, wenn er tugendhaft werden will. Das christliche Gebot der Feindesliebe ist dem Euripides wie überhaupt dein Altertum unbekannt, die Wiedervergeltung für erlittnes Unrecht ist auch dem Guten erlaubt, ebenso die Bevorzugung des eignen Ich, nur darf die Selbstliebe nicht in niedrige Gewinn- und Genußsucht ausarten. Ungerecht ist vor allein das Widerstreben gegen das Schicksal, und der Dichter wird nicht milde, vor der Überhebung, der Hybris, zu warnen und andrerseits die demütige Ergebung in den Willen des Schicksals als wahre Lebensweisheit anzuraten. Ein Fragment z. B. lautet: In den Bereich des Rechts fällt auch die von den Griechen zu allen Zeiten so hochgehaltne Sophrosync, ein Begriff, den mau im Deutschen nicht gut durch ein Wort wiedergeben kann, und der das besonnene Maßhalten in allen Lebenslagen bezeichnet, ferner gehört uoch besonders dahin die Wahr¬ haftigkeit, die der Dichter zu seinem Schmerz durch die rhetorischen Künste der Sophisten bedroht sieht. In einem Bruchstück aus dem ältern Hippolytus heißt es: Dagegen stimmt der Dichter mit den Sophisten überein in der Verurteilung der einseitigen Ausbildung des Körpers, wie sie namentlich in Sparta üblich war; er verwirft zwar die gymnastischen Übungen nicht gänzlich; aber auf die Bildung des Geistes soll bei der Erziehung durchaus das Hauptgewicht ge¬ legt werde». In dem Kapitel über Ethik spricht der Verfasser unsers Buches auch über die Liebe bei Euripides. Der Tragiker unterscheidet eine sinnliche und eine mehr geistige Liebe; diese, bei der das sinnliche Element zurücktritt' berührt sich nahe mit dem platonischen Eros; sie befriedigt Gemüt und Geist und gewährt dem Menschen das höchste Glück des Lebens:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/430>, abgerufen am 01.09.2024.