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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Der Dichter der griechischen Aufklärung

Götter und Menschen zu erreichen suchen, stellt Euripides ganz seiner zur Schwer¬
mut und zum Grübeln geneigten Natur gemäß den Menschen, so wie er wirk¬
lich ist, mit allen seinen Leiden und Leidenschaften dar und knüpft daran ratio¬
nalistische Betrachtungen über die Götter, die das Leid und die Fehler der
Menschen zulassen oder gar veranlassen. Äußerlich zwar treten auch bei ihm
die handelnden Personen im Gewände von Heroen und Heroinen auf, aber
gerade dadurch, daß der Dichter es unterlassen hat, ihnen dieses Gewand ab¬
zustreifen und somit an die Stelle der mythologischen die historische oder die
bürgerliche Tragödie zu setzen, sind seine Dramen in einen gewissen innern
Zwiespalt geraten, den schon Aristophanes erkannt und mit scharfen Worten
gegeißelt hat. Der zweite Unterscheidungspunkt ist die kunstvolle, mitunter raffi¬
nierte Dialektik, mit der der Dichter durch den Mund seiner Helden seine eignen
Philosophischen und politischen Ansichten darlegt, und die ihm zuweilen sogar
zur Kritik von Werken oder einzelnen Stellen der ältern Meister oder auch
seines Gegners Aristophanes dienen muß. Die beiden Grundwurzeln aller
wahren Poesie, Freude und Leid, vor allem die Freude und das Leid der
Liebe, kommen aber auch bei Euripides zu ihren, Rechte, und daneben zeigt
sich überall das Bestreben, der Wahrheit, dem Recht und dein Guten zum
Siege zu verhelfen.

In der Erörterung der philosophischen Weltanschauung des Dichters
werden, wie billig, seine Ansichten über die Gottheit vorangestellt. Er beginnt
mit dem Zweifel, dem Ursprung aller Wisfenschcift. Im Gegensatz zu deu
Priestern der staatlich anerkannten Gottheiten, den Ornkeldiencrn und Sehern
ist Euripides mit dem Sophisten Protagoras der Ansicht, daß die menschliche
Einsicht unfähig sei, das eigentliche Wesen der Gottheit jemals zu erkennen.
An einem Bruchstück aus dem Philoktet heißt es:

Jedoch ist der Dichter weit davon entfernt, einen nackten Atheismus zu
Predigen, vielmehr empfiehlt er um zahlreichen Stellen die Tugend der Frömmig¬
keit, insofern sie ans dem Bewußtsein von der Macht und der Gerechtigkeit
"er Götter -- den Plural behält der Dichter ähnlich wie Svkrntes in der
Regel bei -- beruhe. Neben den Göttern, ja sogar über diesen steht auch
bei ihm die vielgestaltige und darum rätselhafte Macht des Schicksals oder der
Notwendigkeit. "Das Schicksal ist Herr über dich und über die Götter,"
sagt Athene zu Thors in der taurischen Iphigenie. Gegen den Frevler, ins¬
besondre den Übermütigen, wird das Schicksal zum Nachegeist (Alastor), dessen
Zorn nicht nur den einzelnen Menschen, sondern ganze Generationen, wie das
Geschlecht der Lnbdakidcn, vernichten kaun.

heißt es im Herakles. So sehr aber der Dichter von einer göttlichen Welt-


Grenzboten IV 1902 53
Der Dichter der griechischen Aufklärung

Götter und Menschen zu erreichen suchen, stellt Euripides ganz seiner zur Schwer¬
mut und zum Grübeln geneigten Natur gemäß den Menschen, so wie er wirk¬
lich ist, mit allen seinen Leiden und Leidenschaften dar und knüpft daran ratio¬
nalistische Betrachtungen über die Götter, die das Leid und die Fehler der
Menschen zulassen oder gar veranlassen. Äußerlich zwar treten auch bei ihm
die handelnden Personen im Gewände von Heroen und Heroinen auf, aber
gerade dadurch, daß der Dichter es unterlassen hat, ihnen dieses Gewand ab¬
zustreifen und somit an die Stelle der mythologischen die historische oder die
bürgerliche Tragödie zu setzen, sind seine Dramen in einen gewissen innern
Zwiespalt geraten, den schon Aristophanes erkannt und mit scharfen Worten
gegeißelt hat. Der zweite Unterscheidungspunkt ist die kunstvolle, mitunter raffi¬
nierte Dialektik, mit der der Dichter durch den Mund seiner Helden seine eignen
Philosophischen und politischen Ansichten darlegt, und die ihm zuweilen sogar
zur Kritik von Werken oder einzelnen Stellen der ältern Meister oder auch
seines Gegners Aristophanes dienen muß. Die beiden Grundwurzeln aller
wahren Poesie, Freude und Leid, vor allem die Freude und das Leid der
Liebe, kommen aber auch bei Euripides zu ihren, Rechte, und daneben zeigt
sich überall das Bestreben, der Wahrheit, dem Recht und dein Guten zum
Siege zu verhelfen.

In der Erörterung der philosophischen Weltanschauung des Dichters
werden, wie billig, seine Ansichten über die Gottheit vorangestellt. Er beginnt
mit dem Zweifel, dem Ursprung aller Wisfenschcift. Im Gegensatz zu deu
Priestern der staatlich anerkannten Gottheiten, den Ornkeldiencrn und Sehern
ist Euripides mit dem Sophisten Protagoras der Ansicht, daß die menschliche
Einsicht unfähig sei, das eigentliche Wesen der Gottheit jemals zu erkennen.
An einem Bruchstück aus dem Philoktet heißt es:

Jedoch ist der Dichter weit davon entfernt, einen nackten Atheismus zu
Predigen, vielmehr empfiehlt er um zahlreichen Stellen die Tugend der Frömmig¬
keit, insofern sie ans dem Bewußtsein von der Macht und der Gerechtigkeit
»er Götter — den Plural behält der Dichter ähnlich wie Svkrntes in der
Regel bei — beruhe. Neben den Göttern, ja sogar über diesen steht auch
bei ihm die vielgestaltige und darum rätselhafte Macht des Schicksals oder der
Notwendigkeit. „Das Schicksal ist Herr über dich und über die Götter,"
sagt Athene zu Thors in der taurischen Iphigenie. Gegen den Frevler, ins¬
besondre den Übermütigen, wird das Schicksal zum Nachegeist (Alastor), dessen
Zorn nicht nur den einzelnen Menschen, sondern ganze Generationen, wie das
Geschlecht der Lnbdakidcn, vernichten kaun.

heißt es im Herakles. So sehr aber der Dichter von einer göttlichen Welt-


Grenzboten IV 1902 53
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[0427] Der Dichter der griechischen Aufklärung Götter und Menschen zu erreichen suchen, stellt Euripides ganz seiner zur Schwer¬ mut und zum Grübeln geneigten Natur gemäß den Menschen, so wie er wirk¬ lich ist, mit allen seinen Leiden und Leidenschaften dar und knüpft daran ratio¬ nalistische Betrachtungen über die Götter, die das Leid und die Fehler der Menschen zulassen oder gar veranlassen. Äußerlich zwar treten auch bei ihm die handelnden Personen im Gewände von Heroen und Heroinen auf, aber gerade dadurch, daß der Dichter es unterlassen hat, ihnen dieses Gewand ab¬ zustreifen und somit an die Stelle der mythologischen die historische oder die bürgerliche Tragödie zu setzen, sind seine Dramen in einen gewissen innern Zwiespalt geraten, den schon Aristophanes erkannt und mit scharfen Worten gegeißelt hat. Der zweite Unterscheidungspunkt ist die kunstvolle, mitunter raffi¬ nierte Dialektik, mit der der Dichter durch den Mund seiner Helden seine eignen Philosophischen und politischen Ansichten darlegt, und die ihm zuweilen sogar zur Kritik von Werken oder einzelnen Stellen der ältern Meister oder auch seines Gegners Aristophanes dienen muß. Die beiden Grundwurzeln aller wahren Poesie, Freude und Leid, vor allem die Freude und das Leid der Liebe, kommen aber auch bei Euripides zu ihren, Rechte, und daneben zeigt sich überall das Bestreben, der Wahrheit, dem Recht und dein Guten zum Siege zu verhelfen. In der Erörterung der philosophischen Weltanschauung des Dichters werden, wie billig, seine Ansichten über die Gottheit vorangestellt. Er beginnt mit dem Zweifel, dem Ursprung aller Wisfenschcift. Im Gegensatz zu deu Priestern der staatlich anerkannten Gottheiten, den Ornkeldiencrn und Sehern ist Euripides mit dem Sophisten Protagoras der Ansicht, daß die menschliche Einsicht unfähig sei, das eigentliche Wesen der Gottheit jemals zu erkennen. An einem Bruchstück aus dem Philoktet heißt es: Jedoch ist der Dichter weit davon entfernt, einen nackten Atheismus zu Predigen, vielmehr empfiehlt er um zahlreichen Stellen die Tugend der Frömmig¬ keit, insofern sie ans dem Bewußtsein von der Macht und der Gerechtigkeit »er Götter — den Plural behält der Dichter ähnlich wie Svkrntes in der Regel bei — beruhe. Neben den Göttern, ja sogar über diesen steht auch bei ihm die vielgestaltige und darum rätselhafte Macht des Schicksals oder der Notwendigkeit. „Das Schicksal ist Herr über dich und über die Götter," sagt Athene zu Thors in der taurischen Iphigenie. Gegen den Frevler, ins¬ besondre den Übermütigen, wird das Schicksal zum Nachegeist (Alastor), dessen Zorn nicht nur den einzelnen Menschen, sondern ganze Generationen, wie das Geschlecht der Lnbdakidcn, vernichten kaun. heißt es im Herakles. So sehr aber der Dichter von einer göttlichen Welt- Grenzboten IV 1902 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/427>, abgerufen am 01.09.2024.