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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Räsonnieren über göttliche und menschliche Dinge entgegentönt. Unter diesen
Umständen hat sich W. Resele durch seine erfolgreiche Bemühung, die gesamte
Welt- und Lebensanschauung des Euripides in systematischer Übersicht darzu-
stellen, °'°) ein großes Verdienst um den Dichter erworben. Die Bedeutung
dieses nicht bloß für Gelehrte geschriebnen Buches, sowie besonders der Um¬
stand, daß sich die Ansichten des Dichters, mit dem es sich beschäftigt, oft
mit modernen Anschauungen berühren, dürfte eine kurze Inhaltsangabe in dieser
Zeitschrift rechtfertigen.

Der Verfasser beginnt, wie natürlich, mit den äußern Zeit- und Lebens¬
verhältnissen des Tragikers, die ja für die geistige Entwicklung jedes Menschen,
auch des größten Geistes, von Wichtigkeit sind. Geboren um die Zeit der
Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.), verbrachte Euripides den größten Teil
seines Lebens in seiner Vaterstadt Athen, deren Glanzzeit nach den Perser-
kriegen und deren Niedergang durch den peloponnesischen Krieg er miterlebte. Erst
gegen das Ende seines Lebens folgte er einer Einladung des Königs Archelaos
von Makedonien nach dessen Hauptstadt Pella, wo er nach anderthalbjährigem
Aufenthalt im Jahre 406 starb. Die äußern Verhältnisse des Dichters waren
günstig, sodasz es ihm vergönnt war, ganz seinen Neigungen zu leben; auch
von politischer Thätigkeit hat er sich im Gegensatz zu Äschylus und Sophokles
zeitlebens fern gehalten.' Das ganze Leben des Dichters war also der Dicht¬
kunst und philosophischen Studien gewidmet.


Mir nun gefällt es zu singen und ein kluges Wort zu sagen,
Nicht mich mengend in des Staats Tumult/")

sagt er in einem der uns erhaltnen Fragmente. Für seine Bestrebungen in der
Philosophie ist es, wie Resele mit Recht hervorhebt, charakteristisch, daß er sich
nicht an einen bestinnnten Philvsopheir völlig anschließt, sondern aus den ver-
schiednen Lehrgebäuden das ihn: Einleuchtende aufwühlt; aber seine Werke
zeigen -- wir haben noch siebzehn vollständige Tragödien und ein Satyr¬
spiel, daneben noch über tausend Bruchstücke aus den Verlornen Dramen --
in besondern: Maße den Einfluß von Heraklit, Xenophanes, Anaxagorcis und
Anaximenes. Wenig wahrscheinlich ist es, daß der Dichter von dem etwa zehn
Jahre jüngern Sokrates beeinflußt wurde; beide zeigen allerdings Überein¬
stimmung in der Verwerfung des Volksglaubens, dagegen die größte Ver¬
schiedenheit in den Ansichten über die Seele und über die Ethik, sowie in der
Schützung der geistigen Bildung.

Bevor der Verfasser die philosophische Weltanschauung des Tragikers un
einzelnen betrachtet, erörtert er zunächst seinen dichterischen Charakter. Wie
die Dichter des Altertums überhaupt verfolgte auch Euripides in seinen Tra¬
gödien vor allem den Zweck, seine Zuhörer zu bessern und zu belehren. Aber
in zwei Hauptpunkten unterscheidet er sich von seinen ältern Kunstgenossen
Äschylus und Sophokles. Während diese denselben Zweck durch Idealisierung der




*) Euripides, der Dichter der griechischen Aufklärung, von W. Resele. Stuttgart, Is" -
594 S.n
"") So übersetzt O. Ribbeck! in der Regel gebe ich die Zitate nach den bei Resele genannte
Übersetzungen.

Räsonnieren über göttliche und menschliche Dinge entgegentönt. Unter diesen
Umständen hat sich W. Resele durch seine erfolgreiche Bemühung, die gesamte
Welt- und Lebensanschauung des Euripides in systematischer Übersicht darzu-
stellen, °'°) ein großes Verdienst um den Dichter erworben. Die Bedeutung
dieses nicht bloß für Gelehrte geschriebnen Buches, sowie besonders der Um¬
stand, daß sich die Ansichten des Dichters, mit dem es sich beschäftigt, oft
mit modernen Anschauungen berühren, dürfte eine kurze Inhaltsangabe in dieser
Zeitschrift rechtfertigen.

Der Verfasser beginnt, wie natürlich, mit den äußern Zeit- und Lebens¬
verhältnissen des Tragikers, die ja für die geistige Entwicklung jedes Menschen,
auch des größten Geistes, von Wichtigkeit sind. Geboren um die Zeit der
Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.), verbrachte Euripides den größten Teil
seines Lebens in seiner Vaterstadt Athen, deren Glanzzeit nach den Perser-
kriegen und deren Niedergang durch den peloponnesischen Krieg er miterlebte. Erst
gegen das Ende seines Lebens folgte er einer Einladung des Königs Archelaos
von Makedonien nach dessen Hauptstadt Pella, wo er nach anderthalbjährigem
Aufenthalt im Jahre 406 starb. Die äußern Verhältnisse des Dichters waren
günstig, sodasz es ihm vergönnt war, ganz seinen Neigungen zu leben; auch
von politischer Thätigkeit hat er sich im Gegensatz zu Äschylus und Sophokles
zeitlebens fern gehalten.' Das ganze Leben des Dichters war also der Dicht¬
kunst und philosophischen Studien gewidmet.


Mir nun gefällt es zu singen und ein kluges Wort zu sagen,
Nicht mich mengend in des Staats Tumult/")

sagt er in einem der uns erhaltnen Fragmente. Für seine Bestrebungen in der
Philosophie ist es, wie Resele mit Recht hervorhebt, charakteristisch, daß er sich
nicht an einen bestinnnten Philvsopheir völlig anschließt, sondern aus den ver-
schiednen Lehrgebäuden das ihn: Einleuchtende aufwühlt; aber seine Werke
zeigen — wir haben noch siebzehn vollständige Tragödien und ein Satyr¬
spiel, daneben noch über tausend Bruchstücke aus den Verlornen Dramen —
in besondern: Maße den Einfluß von Heraklit, Xenophanes, Anaxagorcis und
Anaximenes. Wenig wahrscheinlich ist es, daß der Dichter von dem etwa zehn
Jahre jüngern Sokrates beeinflußt wurde; beide zeigen allerdings Überein¬
stimmung in der Verwerfung des Volksglaubens, dagegen die größte Ver¬
schiedenheit in den Ansichten über die Seele und über die Ethik, sowie in der
Schützung der geistigen Bildung.

Bevor der Verfasser die philosophische Weltanschauung des Tragikers un
einzelnen betrachtet, erörtert er zunächst seinen dichterischen Charakter. Wie
die Dichter des Altertums überhaupt verfolgte auch Euripides in seinen Tra¬
gödien vor allem den Zweck, seine Zuhörer zu bessern und zu belehren. Aber
in zwei Hauptpunkten unterscheidet er sich von seinen ältern Kunstgenossen
Äschylus und Sophokles. Während diese denselben Zweck durch Idealisierung der




*) Euripides, der Dichter der griechischen Aufklärung, von W. Resele. Stuttgart, Is" -
594 S.n
"") So übersetzt O. Ribbeck! in der Regel gebe ich die Zitate nach den bei Resele genannte
Übersetzungen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/426>, abgerufen am 01.09.2024.