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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Jörn Abt und Ricks Glambäk

losen Gewebe hängen, da lag das ganze Land im Rauhreif. Die Tannen
am Waldrande standen gerade und schlank, vom Scheitel bis zu den
Füßen in Silberbrokat, Bräute, bereit zur Hochzeit, und hinter ihnen in
fallenden, weißen Schleiern die dichte Schar der Jungfrauen. Halb schön er¬
schien ihnen der Zauber, halb schaurig, und erstaunt sah jedes auf seinen Nach¬
barn, so lange das geringe Tageslicht da war. Als es aber Abend wurde,
wandelte sich' die seltsame Herrlichkeit. Da sahen sie einer den andern im
Totenhemd, das war mit vielen weißen Spitzen kalt und steif besetzt; da
nahm das Grauen überhand. Das Dorf lag glänzend und neu, als wäre
es zu diesem Weihnachtsfeste als ein saubres Spielzeug wie in eine neue
Schachtel in dieses weiche, weiße Thal gelegt. Als kämen bald Riesen aus dem
Walde vom Meere her und setzten sich rund umher auf die Hügel und fingen
an mit den weißen Häusern und den schmucken weißen Bäumen zu spielen,
setzten die Häuser durcheinander und stellten die Menschen hin und her, und
stellten zwei zusammen und dann Kinder daneben und ließen sie alt werden,
und brächten sie nach dem Kirchhof und gruben ein kleines Loch im weißen
Schnee. Und dieses Spiel der Riesen dauerte schon tausend Jahre, und die
Menschen im Dorfe merkten es nicht.

Auf diese so originelle Verbildlichnng der Natur in ein Riesenspielzeug
folgt eine Betrachtung über das Weihnachtswunder: Man glaubt es ja jetzt
nicht mehr, weil man es nicht mehr sieht. Man sieht es nicht mehr, weil
man es nicht mehr glaubt. Wunderbare Dinge find aber nicht aus der Welt
^schafft, wenn die Menschen die Augen zuhalten und sagen: Ich sehe nichts,
oder die Augen aufreißen und sagen: Ich sehe alles. Es soll ja damals in
Bethlehem ein Engel gewesen sein, der war flink und vorlaut. Er sprach
einen Prolog, der nicht' vorgesehen war, und verwirrte das ganze Programm,
wie die Erzählung deutlich zeigt. Die andern, die nachkamen, waren mehr
aristokratisch, mehr himmlisch, mehr von der Sorte: da freien sie nicht und
lassen sich nicht freien. (Das ist aber weniger deutlich, Herr Pastor, wie auch
das folgende, das wir darum weglassen.)

Nun kommt Jörns kleine Schwester mit dem ermatteten Kinde über das
Feld gegangen durch die Winternacht, ein Mann hat ihr den Weg gezeigt
bis vor das Haus, wo sie den Weihnachtstisch richten. Jörns Frau legt
für jeden etwas hinauf, für ihn zwei wertvolle Bücher, die die Tante ge¬
stiftet hat. Ein junger Hilfslehrer der Mathematik hatte sie ihr empfohlen (em
recht philiströser Zusatz), der oft in den Laden gekommen war, nicht um em
Abenteuer zu haben, wie sie anfangs dachte, sondern weil er eine fühlende
Seele suchte, mit der er von seinem Liebesglück reden könnte usw. (also wieder
eine Ncbeugeschichte). Und endlich tritt die Verlorne ein, sie findet nach einem
bewegten Wiedersehen ihre Heimat, und alle feiern das Fest, in dessen tief-
empfundner Schildrung kein Wort zuviel gesagt ist.

In dem ersten Teil des Romans, dem wir uns nun zuwenden, ist die
Komposition zwar auch durch entbehrliche Episoden gelockert, aber die Fäden
haben ihren natürlichen Zusammenhalt in der biographieartigen Behandlung
^r Hauptperson, hinter der sich in kräftig gezeichneten Linien die westholsteinische


Jörn Abt und Ricks Glambäk

losen Gewebe hängen, da lag das ganze Land im Rauhreif. Die Tannen
am Waldrande standen gerade und schlank, vom Scheitel bis zu den
Füßen in Silberbrokat, Bräute, bereit zur Hochzeit, und hinter ihnen in
fallenden, weißen Schleiern die dichte Schar der Jungfrauen. Halb schön er¬
schien ihnen der Zauber, halb schaurig, und erstaunt sah jedes auf seinen Nach¬
barn, so lange das geringe Tageslicht da war. Als es aber Abend wurde,
wandelte sich' die seltsame Herrlichkeit. Da sahen sie einer den andern im
Totenhemd, das war mit vielen weißen Spitzen kalt und steif besetzt; da
nahm das Grauen überhand. Das Dorf lag glänzend und neu, als wäre
es zu diesem Weihnachtsfeste als ein saubres Spielzeug wie in eine neue
Schachtel in dieses weiche, weiße Thal gelegt. Als kämen bald Riesen aus dem
Walde vom Meere her und setzten sich rund umher auf die Hügel und fingen
an mit den weißen Häusern und den schmucken weißen Bäumen zu spielen,
setzten die Häuser durcheinander und stellten die Menschen hin und her, und
stellten zwei zusammen und dann Kinder daneben und ließen sie alt werden,
und brächten sie nach dem Kirchhof und gruben ein kleines Loch im weißen
Schnee. Und dieses Spiel der Riesen dauerte schon tausend Jahre, und die
Menschen im Dorfe merkten es nicht.

Auf diese so originelle Verbildlichnng der Natur in ein Riesenspielzeug
folgt eine Betrachtung über das Weihnachtswunder: Man glaubt es ja jetzt
nicht mehr, weil man es nicht mehr sieht. Man sieht es nicht mehr, weil
man es nicht mehr glaubt. Wunderbare Dinge find aber nicht aus der Welt
^schafft, wenn die Menschen die Augen zuhalten und sagen: Ich sehe nichts,
oder die Augen aufreißen und sagen: Ich sehe alles. Es soll ja damals in
Bethlehem ein Engel gewesen sein, der war flink und vorlaut. Er sprach
einen Prolog, der nicht' vorgesehen war, und verwirrte das ganze Programm,
wie die Erzählung deutlich zeigt. Die andern, die nachkamen, waren mehr
aristokratisch, mehr himmlisch, mehr von der Sorte: da freien sie nicht und
lassen sich nicht freien. (Das ist aber weniger deutlich, Herr Pastor, wie auch
das folgende, das wir darum weglassen.)

Nun kommt Jörns kleine Schwester mit dem ermatteten Kinde über das
Feld gegangen durch die Winternacht, ein Mann hat ihr den Weg gezeigt
bis vor das Haus, wo sie den Weihnachtstisch richten. Jörns Frau legt
für jeden etwas hinauf, für ihn zwei wertvolle Bücher, die die Tante ge¬
stiftet hat. Ein junger Hilfslehrer der Mathematik hatte sie ihr empfohlen (em
recht philiströser Zusatz), der oft in den Laden gekommen war, nicht um em
Abenteuer zu haben, wie sie anfangs dachte, sondern weil er eine fühlende
Seele suchte, mit der er von seinem Liebesglück reden könnte usw. (also wieder
eine Ncbeugeschichte). Und endlich tritt die Verlorne ein, sie findet nach einem
bewegten Wiedersehen ihre Heimat, und alle feiern das Fest, in dessen tief-
empfundner Schildrung kein Wort zuviel gesagt ist.

In dem ersten Teil des Romans, dem wir uns nun zuwenden, ist die
Komposition zwar auch durch entbehrliche Episoden gelockert, aber die Fäden
haben ihren natürlichen Zusammenhalt in der biographieartigen Behandlung
^r Hauptperson, hinter der sich in kräftig gezeichneten Linien die westholsteinische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/39>, abgerufen am 01.09.2024.