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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Russische Kultur

ein Kulturgütern hat. Aber durch seine Darstellung schimmern überall die
zwei Charaktereigenschaften des russischen Volkes, auf die man alle seine weniger
lobenswürdigen Eigentümlichkeiten zurückführen kann: seine Passivität und seine
Gleichgiltigkeit gegen die Kulturgüter. Wie weit man diese beiden Temperaments¬
fehler selbst wiederum auf geographische und historische Verhältnisse zurück¬
führen kann, wird wohl niemals klar gemacht werden können; sicher ist nur,
daß diese Verhältnisse den Russen die Überwindung ihrer Fehler, wofern sie
überhaupt möglich fein sollte, bisher außerordentlich erschwert haben. Sollte
die moderne Verkchrstcchnik der Unwegsamkeit Rußlands eine Ende machen,
eine Gedankenzirkulation nach westeuropäischem Muster in Gang bringen, eine
vollständige Umwälzung des primitiven Bauernlebens zugleich ermöglichen
und erzwingen, so würde das wohl nicht ohne Einfluß auf den Volkscharakter
bleiben.

Jeder Geist bedarf, wenn er die Bahn der Kultur beschreiben soll, der
Weckung durch einen schon wachen Geist. Das gilt vom Volksgeist wie vom
Einzelgeist. Aber daß sich ein Volk nur auf Stöße von außen hin bewegt,
und daß die Bewegung ein Jahrtausend lang Raumbewegung bleibt, ohne
Kulturbewegung zu werden, dafür sind die Russen das einzige Beispiel in
Europa. Freilich, eine Art von Raumbewegung haben sie ohne Anstoß von
außen vollführt, denn der Hunger zwingt natürlich auch sie. In dem Maße,
wie entweder die bloß okkupatorische Aneignung der Naturgüter durch Jagd,
Fischfang und Honiggewiunung in einem Landstreifen aufhörte, oder der Acker
durch Raubbau ausgesogen war, wurde ein angrenzender wüster Landstreifen
nach dem andern besiedelt. In dieser Weise haben auch die Russen kolonisiert,
und der Verfasser stellt dar, wie diese zonenweis ausgeführte Kolonisation
Hand in Hand mit der Landesverteidigung süd- und ostwärts fortgeschritten
ist. Aber es ist eben nur der Zwang zur Landesverteidigung gewesen, was
die Fürsten zu Leitern des Kolonisationswerkes machte, und bis auf Peter den
Großen haben sie sich auf die militärische Organisation und die dafür nötige
finanzielle Ausbeutung des Stmnmlandcs und des stetig hinzuwachsenden Neu¬
erwerbs beschränkt. Von einer Kulturarbeit, wie sie Karl der Große, die
sächsischen Kaiser, der englische Alfred, unterstützt von den in klösterlichen Bil¬
dungsanstalten ihren Kulturdünger befriedigenden Söhnen und Töchtern des
Adels geleistet haben, ist bei den russischen Fürsten keine Spur zu bemerken.
Soldaten und die Mittel zu ihrem Unterhalt beschaffen, darauf beschränkt sich
ihre Regierungsthütigkeit; von Volksbildung, Pflege der Landwirtschaft und
der Gewerbe, ja sogar von Justiz wissen sie nichts. Und auch nach Peter
dem Großen, nach der philosophischen Katharina und dem humanen Alexander
ist der russischen Staatsverwaltung dieser Charakter geblieben; denn Militär,
Marine und die diesen beiden dienende Finanzverwnltung überwiegen in dem
Grade, daß für Kulturbestrebungen nur ein kümmerlicher Nest von Geld und
Beamtenarbeit übrig bleibt. Einigermaßen kann man ja diesen Charakter der
Kulturlosigkeit, dem die russische Geschichte tausend Jahre lang treu geblieben
ist, aus geographischen und historischen Verhältnissen erklären. Die Athener
haben zwar der Demeter in den Eleusinien einen großartigen Kult eingerichtet,


Russische Kultur

ein Kulturgütern hat. Aber durch seine Darstellung schimmern überall die
zwei Charaktereigenschaften des russischen Volkes, auf die man alle seine weniger
lobenswürdigen Eigentümlichkeiten zurückführen kann: seine Passivität und seine
Gleichgiltigkeit gegen die Kulturgüter. Wie weit man diese beiden Temperaments¬
fehler selbst wiederum auf geographische und historische Verhältnisse zurück¬
führen kann, wird wohl niemals klar gemacht werden können; sicher ist nur,
daß diese Verhältnisse den Russen die Überwindung ihrer Fehler, wofern sie
überhaupt möglich fein sollte, bisher außerordentlich erschwert haben. Sollte
die moderne Verkchrstcchnik der Unwegsamkeit Rußlands eine Ende machen,
eine Gedankenzirkulation nach westeuropäischem Muster in Gang bringen, eine
vollständige Umwälzung des primitiven Bauernlebens zugleich ermöglichen
und erzwingen, so würde das wohl nicht ohne Einfluß auf den Volkscharakter
bleiben.

Jeder Geist bedarf, wenn er die Bahn der Kultur beschreiben soll, der
Weckung durch einen schon wachen Geist. Das gilt vom Volksgeist wie vom
Einzelgeist. Aber daß sich ein Volk nur auf Stöße von außen hin bewegt,
und daß die Bewegung ein Jahrtausend lang Raumbewegung bleibt, ohne
Kulturbewegung zu werden, dafür sind die Russen das einzige Beispiel in
Europa. Freilich, eine Art von Raumbewegung haben sie ohne Anstoß von
außen vollführt, denn der Hunger zwingt natürlich auch sie. In dem Maße,
wie entweder die bloß okkupatorische Aneignung der Naturgüter durch Jagd,
Fischfang und Honiggewiunung in einem Landstreifen aufhörte, oder der Acker
durch Raubbau ausgesogen war, wurde ein angrenzender wüster Landstreifen
nach dem andern besiedelt. In dieser Weise haben auch die Russen kolonisiert,
und der Verfasser stellt dar, wie diese zonenweis ausgeführte Kolonisation
Hand in Hand mit der Landesverteidigung süd- und ostwärts fortgeschritten
ist. Aber es ist eben nur der Zwang zur Landesverteidigung gewesen, was
die Fürsten zu Leitern des Kolonisationswerkes machte, und bis auf Peter den
Großen haben sie sich auf die militärische Organisation und die dafür nötige
finanzielle Ausbeutung des Stmnmlandcs und des stetig hinzuwachsenden Neu¬
erwerbs beschränkt. Von einer Kulturarbeit, wie sie Karl der Große, die
sächsischen Kaiser, der englische Alfred, unterstützt von den in klösterlichen Bil¬
dungsanstalten ihren Kulturdünger befriedigenden Söhnen und Töchtern des
Adels geleistet haben, ist bei den russischen Fürsten keine Spur zu bemerken.
Soldaten und die Mittel zu ihrem Unterhalt beschaffen, darauf beschränkt sich
ihre Regierungsthütigkeit; von Volksbildung, Pflege der Landwirtschaft und
der Gewerbe, ja sogar von Justiz wissen sie nichts. Und auch nach Peter
dem Großen, nach der philosophischen Katharina und dem humanen Alexander
ist der russischen Staatsverwaltung dieser Charakter geblieben; denn Militär,
Marine und die diesen beiden dienende Finanzverwnltung überwiegen in dem
Grade, daß für Kulturbestrebungen nur ein kümmerlicher Nest von Geld und
Beamtenarbeit übrig bleibt. Einigermaßen kann man ja diesen Charakter der
Kulturlosigkeit, dem die russische Geschichte tausend Jahre lang treu geblieben
ist, aus geographischen und historischen Verhältnissen erklären. Die Athener
haben zwar der Demeter in den Eleusinien einen großartigen Kult eingerichtet,


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[0302] Russische Kultur ein Kulturgütern hat. Aber durch seine Darstellung schimmern überall die zwei Charaktereigenschaften des russischen Volkes, auf die man alle seine weniger lobenswürdigen Eigentümlichkeiten zurückführen kann: seine Passivität und seine Gleichgiltigkeit gegen die Kulturgüter. Wie weit man diese beiden Temperaments¬ fehler selbst wiederum auf geographische und historische Verhältnisse zurück¬ führen kann, wird wohl niemals klar gemacht werden können; sicher ist nur, daß diese Verhältnisse den Russen die Überwindung ihrer Fehler, wofern sie überhaupt möglich fein sollte, bisher außerordentlich erschwert haben. Sollte die moderne Verkchrstcchnik der Unwegsamkeit Rußlands eine Ende machen, eine Gedankenzirkulation nach westeuropäischem Muster in Gang bringen, eine vollständige Umwälzung des primitiven Bauernlebens zugleich ermöglichen und erzwingen, so würde das wohl nicht ohne Einfluß auf den Volkscharakter bleiben. Jeder Geist bedarf, wenn er die Bahn der Kultur beschreiben soll, der Weckung durch einen schon wachen Geist. Das gilt vom Volksgeist wie vom Einzelgeist. Aber daß sich ein Volk nur auf Stöße von außen hin bewegt, und daß die Bewegung ein Jahrtausend lang Raumbewegung bleibt, ohne Kulturbewegung zu werden, dafür sind die Russen das einzige Beispiel in Europa. Freilich, eine Art von Raumbewegung haben sie ohne Anstoß von außen vollführt, denn der Hunger zwingt natürlich auch sie. In dem Maße, wie entweder die bloß okkupatorische Aneignung der Naturgüter durch Jagd, Fischfang und Honiggewiunung in einem Landstreifen aufhörte, oder der Acker durch Raubbau ausgesogen war, wurde ein angrenzender wüster Landstreifen nach dem andern besiedelt. In dieser Weise haben auch die Russen kolonisiert, und der Verfasser stellt dar, wie diese zonenweis ausgeführte Kolonisation Hand in Hand mit der Landesverteidigung süd- und ostwärts fortgeschritten ist. Aber es ist eben nur der Zwang zur Landesverteidigung gewesen, was die Fürsten zu Leitern des Kolonisationswerkes machte, und bis auf Peter den Großen haben sie sich auf die militärische Organisation und die dafür nötige finanzielle Ausbeutung des Stmnmlandcs und des stetig hinzuwachsenden Neu¬ erwerbs beschränkt. Von einer Kulturarbeit, wie sie Karl der Große, die sächsischen Kaiser, der englische Alfred, unterstützt von den in klösterlichen Bil¬ dungsanstalten ihren Kulturdünger befriedigenden Söhnen und Töchtern des Adels geleistet haben, ist bei den russischen Fürsten keine Spur zu bemerken. Soldaten und die Mittel zu ihrem Unterhalt beschaffen, darauf beschränkt sich ihre Regierungsthütigkeit; von Volksbildung, Pflege der Landwirtschaft und der Gewerbe, ja sogar von Justiz wissen sie nichts. Und auch nach Peter dem Großen, nach der philosophischen Katharina und dem humanen Alexander ist der russischen Staatsverwaltung dieser Charakter geblieben; denn Militär, Marine und die diesen beiden dienende Finanzverwnltung überwiegen in dem Grade, daß für Kulturbestrebungen nur ein kümmerlicher Nest von Geld und Beamtenarbeit übrig bleibt. Einigermaßen kann man ja diesen Charakter der Kulturlosigkeit, dem die russische Geschichte tausend Jahre lang treu geblieben ist, aus geographischen und historischen Verhältnissen erklären. Die Athener haben zwar der Demeter in den Eleusinien einen großartigen Kult eingerichtet,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/302>, abgerufen am 01.09.2024.