Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russisch,,' Rnltnr

In plebejisch nüchternen Seelen entwickelte sich dieser Geist (wie denn auch
die Fugger von niedrer Abkunft waren), und zuerst an Stammfremden, die
auszubeuten mau sich kein Gewissen machte, wie bei den Juden und in
Kolonien. Die kaltblütige Verständigkeit der Nordländer begünstigte seine Ent¬
wicklung. Calvin hatte, im Gegensatz zu dem altmodischen Luther, den Satz auf¬
gestellt: "mis clnbitat, xstmumiri verum inrckils esse-?, hatte also gemeint, das
Geld dürfe nicht müßig liegen, müsse sich vermehren, und diese Meinung wurde
gewissermaßen ein Gruudbestandteil der kalvinistischen Religion. Gothein be¬
merkt in der Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds: "Wer den Spuren kapi¬
talistischer Entwicklung nachgeht, in welchem Lande Europas es auch sei, immer
wird sich ihm dieselbe Thatsache aufdrängen: die kalvinistische Diaspora ist
zugleich die Pflanzschule der Kapitalwirtschaft. Die Spanier drückten sie mit
bittrer Resignation dahin aus: die Ketzerei befördert den Handelsgeist." Der
Handel wird nun kapitalistisch, schon bei den italienischen Großhändlern des
vierzehnten Jahrhunderts. "Mehr und mehr tritt die persönlich-technische Arbeit
des Kaufmanns zurück; er hört auf, seine Warenzüge selbst zu begleiten; die
Vermögensdisposition wird Inhalt seiner Thätigkeit." Eine Klasse von Hand¬
werkern nach der andern sinkt zu Hausindustrielleu herab, die für große Ver¬
leger arbeiten.

Trotzdem aber, daß die beiden Voraussetzungen des Kapitalismus schon im
sechzehnten Jahrhundert vorhanden sind, gelaugt er erst im neunzehnten zum
Dasein, u. a. darum, weil bis dahin die Edclmetallschätze unproduktiv angelegt
werden -- die Geldleute leihen den Päpsten ans Kreuzzüge, den Städten auf
ihre unzähligen Fehden, dann vom sechzehnten Jahrhundert ab den Großmächten
auf ihre dynastischen und ihre Handelskriege, und all dieses Geld geht verloren,
das vielmal akkumulierte Kapital wird immer wieder zerstreut --, und weil
die konkurrierenden Völker einander den Raub abjagen: vom italienischen,
portugiesische", spanischen und deutschen Reichtum bleibt gar nichts, vom fran¬
zösischen und holländischen wenig übrig.

(Schluß folgt)




Russische Kultur

le faulige Gärung, die deu ungeheuern russischen Volkskörper
ergriffen hat, ist ein so merkwürdiges Schauspiel, daß sie auch
denn unsre Aufmerksamkeit fesseln würde, wenn sie nicht von so
großer praktischer Bedeutung für uns Nachbarn wäre. Zwar sind
die geographisch-ethnologischen Ursachen der Fäulnis so allgemein
bekannt, wie die geographischen Ursachen der mit dein innern Zustande so auf¬
fallend kontrastierenden internationalen Machtstellung Rußlands, aber wir sind
doch dankbar für jeden Veitrag, der uns eine tiefere Einsicht in diesen Zustand
erschließt und im einzelnen zeigt, wie er geworden ist. Russen sozialistischer


Russisch,,' Rnltnr

In plebejisch nüchternen Seelen entwickelte sich dieser Geist (wie denn auch
die Fugger von niedrer Abkunft waren), und zuerst an Stammfremden, die
auszubeuten mau sich kein Gewissen machte, wie bei den Juden und in
Kolonien. Die kaltblütige Verständigkeit der Nordländer begünstigte seine Ent¬
wicklung. Calvin hatte, im Gegensatz zu dem altmodischen Luther, den Satz auf¬
gestellt: «mis clnbitat, xstmumiri verum inrckils esse-?, hatte also gemeint, das
Geld dürfe nicht müßig liegen, müsse sich vermehren, und diese Meinung wurde
gewissermaßen ein Gruudbestandteil der kalvinistischen Religion. Gothein be¬
merkt in der Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds: „Wer den Spuren kapi¬
talistischer Entwicklung nachgeht, in welchem Lande Europas es auch sei, immer
wird sich ihm dieselbe Thatsache aufdrängen: die kalvinistische Diaspora ist
zugleich die Pflanzschule der Kapitalwirtschaft. Die Spanier drückten sie mit
bittrer Resignation dahin aus: die Ketzerei befördert den Handelsgeist." Der
Handel wird nun kapitalistisch, schon bei den italienischen Großhändlern des
vierzehnten Jahrhunderts. „Mehr und mehr tritt die persönlich-technische Arbeit
des Kaufmanns zurück; er hört auf, seine Warenzüge selbst zu begleiten; die
Vermögensdisposition wird Inhalt seiner Thätigkeit." Eine Klasse von Hand¬
werkern nach der andern sinkt zu Hausindustrielleu herab, die für große Ver¬
leger arbeiten.

Trotzdem aber, daß die beiden Voraussetzungen des Kapitalismus schon im
sechzehnten Jahrhundert vorhanden sind, gelaugt er erst im neunzehnten zum
Dasein, u. a. darum, weil bis dahin die Edclmetallschätze unproduktiv angelegt
werden — die Geldleute leihen den Päpsten ans Kreuzzüge, den Städten auf
ihre unzähligen Fehden, dann vom sechzehnten Jahrhundert ab den Großmächten
auf ihre dynastischen und ihre Handelskriege, und all dieses Geld geht verloren,
das vielmal akkumulierte Kapital wird immer wieder zerstreut —, und weil
die konkurrierenden Völker einander den Raub abjagen: vom italienischen,
portugiesische», spanischen und deutschen Reichtum bleibt gar nichts, vom fran¬
zösischen und holländischen wenig übrig.

(Schluß folgt)




Russische Kultur

le faulige Gärung, die deu ungeheuern russischen Volkskörper
ergriffen hat, ist ein so merkwürdiges Schauspiel, daß sie auch
denn unsre Aufmerksamkeit fesseln würde, wenn sie nicht von so
großer praktischer Bedeutung für uns Nachbarn wäre. Zwar sind
die geographisch-ethnologischen Ursachen der Fäulnis so allgemein
bekannt, wie die geographischen Ursachen der mit dein innern Zustande so auf¬
fallend kontrastierenden internationalen Machtstellung Rußlands, aber wir sind
doch dankbar für jeden Veitrag, der uns eine tiefere Einsicht in diesen Zustand
erschließt und im einzelnen zeigt, wie er geworden ist. Russen sozialistischer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0300" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239088"/>
          <fw type="header" place="top"> Russisch,,' Rnltnr</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1458"> In plebejisch nüchternen Seelen entwickelte sich dieser Geist (wie denn auch<lb/>
die Fugger von niedrer Abkunft waren), und zuerst an Stammfremden, die<lb/>
auszubeuten mau sich kein Gewissen machte, wie bei den Juden und in<lb/>
Kolonien. Die kaltblütige Verständigkeit der Nordländer begünstigte seine Ent¬<lb/>
wicklung. Calvin hatte, im Gegensatz zu dem altmodischen Luther, den Satz auf¬<lb/>
gestellt: «mis clnbitat, xstmumiri verum inrckils esse-?, hatte also gemeint, das<lb/>
Geld dürfe nicht müßig liegen, müsse sich vermehren, und diese Meinung wurde<lb/>
gewissermaßen ein Gruudbestandteil der kalvinistischen Religion. Gothein be¬<lb/>
merkt in der Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds: &#x201E;Wer den Spuren kapi¬<lb/>
talistischer Entwicklung nachgeht, in welchem Lande Europas es auch sei, immer<lb/>
wird sich ihm dieselbe Thatsache aufdrängen: die kalvinistische Diaspora ist<lb/>
zugleich die Pflanzschule der Kapitalwirtschaft. Die Spanier drückten sie mit<lb/>
bittrer Resignation dahin aus: die Ketzerei befördert den Handelsgeist." Der<lb/>
Handel wird nun kapitalistisch, schon bei den italienischen Großhändlern des<lb/>
vierzehnten Jahrhunderts. &#x201E;Mehr und mehr tritt die persönlich-technische Arbeit<lb/>
des Kaufmanns zurück; er hört auf, seine Warenzüge selbst zu begleiten; die<lb/>
Vermögensdisposition wird Inhalt seiner Thätigkeit." Eine Klasse von Hand¬<lb/>
werkern nach der andern sinkt zu Hausindustrielleu herab, die für große Ver¬<lb/>
leger arbeiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1459"> Trotzdem aber, daß die beiden Voraussetzungen des Kapitalismus schon im<lb/>
sechzehnten Jahrhundert vorhanden sind, gelaugt er erst im neunzehnten zum<lb/>
Dasein, u. a. darum, weil bis dahin die Edclmetallschätze unproduktiv angelegt<lb/>
werden &#x2014; die Geldleute leihen den Päpsten ans Kreuzzüge, den Städten auf<lb/>
ihre unzähligen Fehden, dann vom sechzehnten Jahrhundert ab den Großmächten<lb/>
auf ihre dynastischen und ihre Handelskriege, und all dieses Geld geht verloren,<lb/>
das vielmal akkumulierte Kapital wird immer wieder zerstreut &#x2014;, und weil<lb/>
die konkurrierenden Völker einander den Raub abjagen: vom italienischen,<lb/>
portugiesische», spanischen und deutschen Reichtum bleibt gar nichts, vom fran¬<lb/>
zösischen und holländischen wenig übrig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1460"> (Schluß folgt)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Russische Kultur</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1461" next="#ID_1462"> le faulige Gärung, die deu ungeheuern russischen Volkskörper<lb/>
ergriffen hat, ist ein so merkwürdiges Schauspiel, daß sie auch<lb/>
denn unsre Aufmerksamkeit fesseln würde, wenn sie nicht von so<lb/>
großer praktischer Bedeutung für uns Nachbarn wäre. Zwar sind<lb/>
die geographisch-ethnologischen Ursachen der Fäulnis so allgemein<lb/>
bekannt, wie die geographischen Ursachen der mit dein innern Zustande so auf¬<lb/>
fallend kontrastierenden internationalen Machtstellung Rußlands, aber wir sind<lb/>
doch dankbar für jeden Veitrag, der uns eine tiefere Einsicht in diesen Zustand<lb/>
erschließt und im einzelnen zeigt, wie er geworden ist.  Russen sozialistischer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0300] Russisch,,' Rnltnr In plebejisch nüchternen Seelen entwickelte sich dieser Geist (wie denn auch die Fugger von niedrer Abkunft waren), und zuerst an Stammfremden, die auszubeuten mau sich kein Gewissen machte, wie bei den Juden und in Kolonien. Die kaltblütige Verständigkeit der Nordländer begünstigte seine Ent¬ wicklung. Calvin hatte, im Gegensatz zu dem altmodischen Luther, den Satz auf¬ gestellt: «mis clnbitat, xstmumiri verum inrckils esse-?, hatte also gemeint, das Geld dürfe nicht müßig liegen, müsse sich vermehren, und diese Meinung wurde gewissermaßen ein Gruudbestandteil der kalvinistischen Religion. Gothein be¬ merkt in der Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds: „Wer den Spuren kapi¬ talistischer Entwicklung nachgeht, in welchem Lande Europas es auch sei, immer wird sich ihm dieselbe Thatsache aufdrängen: die kalvinistische Diaspora ist zugleich die Pflanzschule der Kapitalwirtschaft. Die Spanier drückten sie mit bittrer Resignation dahin aus: die Ketzerei befördert den Handelsgeist." Der Handel wird nun kapitalistisch, schon bei den italienischen Großhändlern des vierzehnten Jahrhunderts. „Mehr und mehr tritt die persönlich-technische Arbeit des Kaufmanns zurück; er hört auf, seine Warenzüge selbst zu begleiten; die Vermögensdisposition wird Inhalt seiner Thätigkeit." Eine Klasse von Hand¬ werkern nach der andern sinkt zu Hausindustrielleu herab, die für große Ver¬ leger arbeiten. Trotzdem aber, daß die beiden Voraussetzungen des Kapitalismus schon im sechzehnten Jahrhundert vorhanden sind, gelaugt er erst im neunzehnten zum Dasein, u. a. darum, weil bis dahin die Edclmetallschätze unproduktiv angelegt werden — die Geldleute leihen den Päpsten ans Kreuzzüge, den Städten auf ihre unzähligen Fehden, dann vom sechzehnten Jahrhundert ab den Großmächten auf ihre dynastischen und ihre Handelskriege, und all dieses Geld geht verloren, das vielmal akkumulierte Kapital wird immer wieder zerstreut —, und weil die konkurrierenden Völker einander den Raub abjagen: vom italienischen, portugiesische», spanischen und deutschen Reichtum bleibt gar nichts, vom fran¬ zösischen und holländischen wenig übrig. (Schluß folgt) Russische Kultur le faulige Gärung, die deu ungeheuern russischen Volkskörper ergriffen hat, ist ein so merkwürdiges Schauspiel, daß sie auch denn unsre Aufmerksamkeit fesseln würde, wenn sie nicht von so großer praktischer Bedeutung für uns Nachbarn wäre. Zwar sind die geographisch-ethnologischen Ursachen der Fäulnis so allgemein bekannt, wie die geographischen Ursachen der mit dein innern Zustande so auf¬ fallend kontrastierenden internationalen Machtstellung Rußlands, aber wir sind doch dankbar für jeden Veitrag, der uns eine tiefere Einsicht in diesen Zustand erschließt und im einzelnen zeigt, wie er geworden ist. Russen sozialistischer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/300
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/300>, abgerufen am 01.09.2024.