Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Anfänge der Bildnere!

auch in damaliger Zeit schon Handwerk und Kunst gemacht haben. Je nach¬
dem die Werkzeuge mit Schlagsteinen zugeschlagen, durch Druck zurechtge-
schnitten, durch Absplitterung gemuschelt, retouchiert oder mehr oder weniger
symmetrisch zugespitzt, die Umrißzeichnungen eingeritzt oder halberhaben heraus¬
gearbeitet sind, gehören sie ältern oder jüngern Entwicklungsperioden an. Auch
in Bezug auf den Stoff treten diese Fortschritte hervor, wie es der Übergang
von dem härtern Gestein zu dem bildsamern Horn und Knochen beweist.

Allerdings war die Feindschaft zwischen der Natur und dem menschlichem
Geiste damals uoch zu groß, als daß eine Vermählung beider, eine Darstellung
des Subjekts im Objekt, wie sie sich im eigentlichen Kunstwerk vollzieht, hätte
erfolgen können. Der Vorstellungs- oder Bewußtseinsinhalt war auch noch
zu beschränkt, als daß die künstlerischen Produktionen Übersetzungen in eine
persönliche und neue Sprache Hütten werden können. Man wird aber seine
Bewunderung diesen ehrwürdigen Werken ebensowenig versagen wie die Ur¬
ahnen, deren ästhetisches Lustgefühl sie erweckten, wenn wir bedenken, daß der
künstlerische Standpunkt, auf den sich ihre Verfertiger geschwungen hatten,
durch unermeßliche Zeiträume hindurch nicht überschritten worden ist. In dem
ganzen neolithischen Zeitalter, wo der Mensch vom Jäger- zum Nomciden-
tum vorschritt, an dem Hunde Zühmungsversuche anstellte und sich mit Hilfe
der Zähmung eine immer größere Anzahl von Tieren dienstbar machte, hat
die Kunst, wenn mau von der Glüttung der Steine und der weitern Aus¬
bildung der Keramik absieht, keine Erhöhung erfahren. Auch als man an¬
fing, sich durch künstlichen Anbau Vorräte zu verschaffen, die allmählich die
Zwingherrschaft des Hungers brachen und den Geist für höhere Interessen als
die Befriedigung dieses Tyrannen freimachten, werden die Fortschritte kaum
merklich.

Gerade die Entwicklung, die die Religion in dieser Zeit erfuhr, indem
sie von dem Fetischismus oder dem Angriff auf die Gottheit zur Idolatrie
oder der Unterwerfung unter die Gottheit vorschritt, war der bildenden Kunst
günstig. Aber sogar im Orient, wo zuerst die Götter aus gestaltlosen, großen
Dämonen oder Schattenbildern in menschlich fühlende und menschlich handelnde
Wesen von bestimmtem Charakter umgedichtet wurden, erhob sich die bildende
Kunst nur wenig über die des Diluvialmenschen. Auch der Ägypter blieb an
dem Typischen der menschlichen Figur haften und vermochte sich nicht zur
vollen Freiheit der Kunst zu erheben trotz der Fortschritte, die die Technik
mit der Bearbeitung der Metalle gemacht hatte. Über den Teilen des Körpers
erkannte er das Ganze ebensowenig wie der Ureuropäer. Darum überraschen
auch bei ihm ebenso wie bei diesem die Lebendigkeit und die Naturwahrheit
der Tierdarstellungen gegenüber der mangelhaften Wiedergabe des menschlichen
Körpers. Seine Reliefs aber, die ausnahmlos nur Umrißzeichnungen sind
und zur Zeichenkunst gehören, stellen zwar einen größern Kreis von Er-
scheinungen der Wirklichkeit dar, setzen aber keine höhere Entwicklung der
Griffelkunst Voraus, als sie im Diluvialzeitaltcr schon vorhanden war.




Die Anfänge der Bildnere!

auch in damaliger Zeit schon Handwerk und Kunst gemacht haben. Je nach¬
dem die Werkzeuge mit Schlagsteinen zugeschlagen, durch Druck zurechtge-
schnitten, durch Absplitterung gemuschelt, retouchiert oder mehr oder weniger
symmetrisch zugespitzt, die Umrißzeichnungen eingeritzt oder halberhaben heraus¬
gearbeitet sind, gehören sie ältern oder jüngern Entwicklungsperioden an. Auch
in Bezug auf den Stoff treten diese Fortschritte hervor, wie es der Übergang
von dem härtern Gestein zu dem bildsamern Horn und Knochen beweist.

Allerdings war die Feindschaft zwischen der Natur und dem menschlichem
Geiste damals uoch zu groß, als daß eine Vermählung beider, eine Darstellung
des Subjekts im Objekt, wie sie sich im eigentlichen Kunstwerk vollzieht, hätte
erfolgen können. Der Vorstellungs- oder Bewußtseinsinhalt war auch noch
zu beschränkt, als daß die künstlerischen Produktionen Übersetzungen in eine
persönliche und neue Sprache Hütten werden können. Man wird aber seine
Bewunderung diesen ehrwürdigen Werken ebensowenig versagen wie die Ur¬
ahnen, deren ästhetisches Lustgefühl sie erweckten, wenn wir bedenken, daß der
künstlerische Standpunkt, auf den sich ihre Verfertiger geschwungen hatten,
durch unermeßliche Zeiträume hindurch nicht überschritten worden ist. In dem
ganzen neolithischen Zeitalter, wo der Mensch vom Jäger- zum Nomciden-
tum vorschritt, an dem Hunde Zühmungsversuche anstellte und sich mit Hilfe
der Zähmung eine immer größere Anzahl von Tieren dienstbar machte, hat
die Kunst, wenn mau von der Glüttung der Steine und der weitern Aus¬
bildung der Keramik absieht, keine Erhöhung erfahren. Auch als man an¬
fing, sich durch künstlichen Anbau Vorräte zu verschaffen, die allmählich die
Zwingherrschaft des Hungers brachen und den Geist für höhere Interessen als
die Befriedigung dieses Tyrannen freimachten, werden die Fortschritte kaum
merklich.

Gerade die Entwicklung, die die Religion in dieser Zeit erfuhr, indem
sie von dem Fetischismus oder dem Angriff auf die Gottheit zur Idolatrie
oder der Unterwerfung unter die Gottheit vorschritt, war der bildenden Kunst
günstig. Aber sogar im Orient, wo zuerst die Götter aus gestaltlosen, großen
Dämonen oder Schattenbildern in menschlich fühlende und menschlich handelnde
Wesen von bestimmtem Charakter umgedichtet wurden, erhob sich die bildende
Kunst nur wenig über die des Diluvialmenschen. Auch der Ägypter blieb an
dem Typischen der menschlichen Figur haften und vermochte sich nicht zur
vollen Freiheit der Kunst zu erheben trotz der Fortschritte, die die Technik
mit der Bearbeitung der Metalle gemacht hatte. Über den Teilen des Körpers
erkannte er das Ganze ebensowenig wie der Ureuropäer. Darum überraschen
auch bei ihm ebenso wie bei diesem die Lebendigkeit und die Naturwahrheit
der Tierdarstellungen gegenüber der mangelhaften Wiedergabe des menschlichen
Körpers. Seine Reliefs aber, die ausnahmlos nur Umrißzeichnungen sind
und zur Zeichenkunst gehören, stellen zwar einen größern Kreis von Er-
scheinungen der Wirklichkeit dar, setzen aber keine höhere Entwicklung der
Griffelkunst Voraus, als sie im Diluvialzeitaltcr schon vorhanden war.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0214" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239002"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Anfänge der Bildnere!</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_987" prev="#ID_986"> auch in damaliger Zeit schon Handwerk und Kunst gemacht haben. Je nach¬<lb/>
dem die Werkzeuge mit Schlagsteinen zugeschlagen, durch Druck zurechtge-<lb/>
schnitten, durch Absplitterung gemuschelt, retouchiert oder mehr oder weniger<lb/>
symmetrisch zugespitzt, die Umrißzeichnungen eingeritzt oder halberhaben heraus¬<lb/>
gearbeitet sind, gehören sie ältern oder jüngern Entwicklungsperioden an. Auch<lb/>
in Bezug auf den Stoff treten diese Fortschritte hervor, wie es der Übergang<lb/>
von dem härtern Gestein zu dem bildsamern Horn und Knochen beweist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_988"> Allerdings war die Feindschaft zwischen der Natur und dem menschlichem<lb/>
Geiste damals uoch zu groß, als daß eine Vermählung beider, eine Darstellung<lb/>
des Subjekts im Objekt, wie sie sich im eigentlichen Kunstwerk vollzieht, hätte<lb/>
erfolgen können. Der Vorstellungs- oder Bewußtseinsinhalt war auch noch<lb/>
zu beschränkt, als daß die künstlerischen Produktionen Übersetzungen in eine<lb/>
persönliche und neue Sprache Hütten werden können. Man wird aber seine<lb/>
Bewunderung diesen ehrwürdigen Werken ebensowenig versagen wie die Ur¬<lb/>
ahnen, deren ästhetisches Lustgefühl sie erweckten, wenn wir bedenken, daß der<lb/>
künstlerische Standpunkt, auf den sich ihre Verfertiger geschwungen hatten,<lb/>
durch unermeßliche Zeiträume hindurch nicht überschritten worden ist. In dem<lb/>
ganzen neolithischen Zeitalter, wo der Mensch vom Jäger- zum Nomciden-<lb/>
tum vorschritt, an dem Hunde Zühmungsversuche anstellte und sich mit Hilfe<lb/>
der Zähmung eine immer größere Anzahl von Tieren dienstbar machte, hat<lb/>
die Kunst, wenn mau von der Glüttung der Steine und der weitern Aus¬<lb/>
bildung der Keramik absieht, keine Erhöhung erfahren. Auch als man an¬<lb/>
fing, sich durch künstlichen Anbau Vorräte zu verschaffen, die allmählich die<lb/>
Zwingherrschaft des Hungers brachen und den Geist für höhere Interessen als<lb/>
die Befriedigung dieses Tyrannen freimachten, werden die Fortschritte kaum<lb/>
merklich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_989"> Gerade die Entwicklung, die die Religion in dieser Zeit erfuhr, indem<lb/>
sie von dem Fetischismus oder dem Angriff auf die Gottheit zur Idolatrie<lb/>
oder der Unterwerfung unter die Gottheit vorschritt, war der bildenden Kunst<lb/>
günstig. Aber sogar im Orient, wo zuerst die Götter aus gestaltlosen, großen<lb/>
Dämonen oder Schattenbildern in menschlich fühlende und menschlich handelnde<lb/>
Wesen von bestimmtem Charakter umgedichtet wurden, erhob sich die bildende<lb/>
Kunst nur wenig über die des Diluvialmenschen. Auch der Ägypter blieb an<lb/>
dem Typischen der menschlichen Figur haften und vermochte sich nicht zur<lb/>
vollen Freiheit der Kunst zu erheben trotz der Fortschritte, die die Technik<lb/>
mit der Bearbeitung der Metalle gemacht hatte. Über den Teilen des Körpers<lb/>
erkannte er das Ganze ebensowenig wie der Ureuropäer. Darum überraschen<lb/>
auch bei ihm ebenso wie bei diesem die Lebendigkeit und die Naturwahrheit<lb/>
der Tierdarstellungen gegenüber der mangelhaften Wiedergabe des menschlichen<lb/>
Körpers. Seine Reliefs aber, die ausnahmlos nur Umrißzeichnungen sind<lb/>
und zur Zeichenkunst gehören, stellen zwar einen größern Kreis von Er-<lb/>
scheinungen der Wirklichkeit dar, setzen aber keine höhere Entwicklung der<lb/>
Griffelkunst Voraus, als sie im Diluvialzeitaltcr schon vorhanden war.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0214] Die Anfänge der Bildnere! auch in damaliger Zeit schon Handwerk und Kunst gemacht haben. Je nach¬ dem die Werkzeuge mit Schlagsteinen zugeschlagen, durch Druck zurechtge- schnitten, durch Absplitterung gemuschelt, retouchiert oder mehr oder weniger symmetrisch zugespitzt, die Umrißzeichnungen eingeritzt oder halberhaben heraus¬ gearbeitet sind, gehören sie ältern oder jüngern Entwicklungsperioden an. Auch in Bezug auf den Stoff treten diese Fortschritte hervor, wie es der Übergang von dem härtern Gestein zu dem bildsamern Horn und Knochen beweist. Allerdings war die Feindschaft zwischen der Natur und dem menschlichem Geiste damals uoch zu groß, als daß eine Vermählung beider, eine Darstellung des Subjekts im Objekt, wie sie sich im eigentlichen Kunstwerk vollzieht, hätte erfolgen können. Der Vorstellungs- oder Bewußtseinsinhalt war auch noch zu beschränkt, als daß die künstlerischen Produktionen Übersetzungen in eine persönliche und neue Sprache Hütten werden können. Man wird aber seine Bewunderung diesen ehrwürdigen Werken ebensowenig versagen wie die Ur¬ ahnen, deren ästhetisches Lustgefühl sie erweckten, wenn wir bedenken, daß der künstlerische Standpunkt, auf den sich ihre Verfertiger geschwungen hatten, durch unermeßliche Zeiträume hindurch nicht überschritten worden ist. In dem ganzen neolithischen Zeitalter, wo der Mensch vom Jäger- zum Nomciden- tum vorschritt, an dem Hunde Zühmungsversuche anstellte und sich mit Hilfe der Zähmung eine immer größere Anzahl von Tieren dienstbar machte, hat die Kunst, wenn mau von der Glüttung der Steine und der weitern Aus¬ bildung der Keramik absieht, keine Erhöhung erfahren. Auch als man an¬ fing, sich durch künstlichen Anbau Vorräte zu verschaffen, die allmählich die Zwingherrschaft des Hungers brachen und den Geist für höhere Interessen als die Befriedigung dieses Tyrannen freimachten, werden die Fortschritte kaum merklich. Gerade die Entwicklung, die die Religion in dieser Zeit erfuhr, indem sie von dem Fetischismus oder dem Angriff auf die Gottheit zur Idolatrie oder der Unterwerfung unter die Gottheit vorschritt, war der bildenden Kunst günstig. Aber sogar im Orient, wo zuerst die Götter aus gestaltlosen, großen Dämonen oder Schattenbildern in menschlich fühlende und menschlich handelnde Wesen von bestimmtem Charakter umgedichtet wurden, erhob sich die bildende Kunst nur wenig über die des Diluvialmenschen. Auch der Ägypter blieb an dem Typischen der menschlichen Figur haften und vermochte sich nicht zur vollen Freiheit der Kunst zu erheben trotz der Fortschritte, die die Technik mit der Bearbeitung der Metalle gemacht hatte. Über den Teilen des Körpers erkannte er das Ganze ebensowenig wie der Ureuropäer. Darum überraschen auch bei ihm ebenso wie bei diesem die Lebendigkeit und die Naturwahrheit der Tierdarstellungen gegenüber der mangelhaften Wiedergabe des menschlichen Körpers. Seine Reliefs aber, die ausnahmlos nur Umrißzeichnungen sind und zur Zeichenkunst gehören, stellen zwar einen größern Kreis von Er- scheinungen der Wirklichkeit dar, setzen aber keine höhere Entwicklung der Griffelkunst Voraus, als sie im Diluvialzeitaltcr schon vorhanden war.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/214
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/214>, abgerufen am 01.09.2024.