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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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zweierlei ist so wichtig, daß dadurch die ausführliche Erwähnung Schmidts an
dieser Stelle gerechtfertigt erscheint. Seine Auffassung bedeutet die entschiedne
und endgiltige Absage der modernsten Wissenschaft an den "Weisen von Na-
zareth" der Nationalisten. Das Wesen des Christentums besteht nicht darin,
daß ein weiser Manu, der nur uoch ein wenig weiser und besser gewesen ist
als Sokrates, durch Wort und Beispiel als ein Lehrmeister künftiger Ge¬
schlechter bis heute wirkt, sondern darin, daß eine geheimnisvolle Persönlichkeit
durch ihren Tod der Menschheit eine neue Lebenskraft verliehen hat. Und
zweitens bedeutet diese Auffassung den entschiedensten Bruch mit dem prote¬
stantischen Schriftprinzip und die Rückkehr auf den katholischen Standpunkt;
die Rückkehr zu dem Glnubeu, daß der Geist Jesu in der Kirche lebt, ihr in
jedem Jahrhundert hilft, zu lehren und zu thun, was die Zeit erfordert, und
daß die Schrift selbst, wenn auch vielleicht das wertvollste, so doch eben mir
ein Produkt dieses in der Kirche waltenden Geistes ist. Selbstverständlich deckt
sich nicht etwa die Praxis der Papstkirche mit dieser katholischen Idee, denn
die Päpste und ihre Konzilien haben vieles gelehrt und angeordnet, was nicht
Ausfluß des göttlichen Geistes, sondern Volks- oder Zeitirrtum und dnrch das
hierarchische Interesse geboten war. Aber soweit sind wir heute, daß kein
protestantischer Philosoph und Theolog mehr nu die Buchstabeninspiration
glaubt oder das von der lebendigen Entwicklung der Menschheit losgelöste
tote Bibelwort für die alleinige Quelle aller Wahrheit hält. Vielmehr ist
man ganz allgemein, natürlich ohne es ausdrücklich zu sagen, zu der katho¬
lischen Idee zurückgekehrt, daß der göttliche Geist jeder Generation der Christen¬
heit zu der Erkenntnis verhilft, die sie braucht, ihren Glauben und ihre Liebes-
thätigkeit lebendig erhält und sie die den Zeitumständen angemessenen Ein¬
richtungen treffen lehrt. Und eben weil das Christentum die religiösen Be¬
dürfnisse der Völker auf jeder Stufe ihrer Entwicklung zu befriedigen vermagl
hat es von dieser Entwicklung nichts zu befürchten, und ist seine heutige Lage
der des griechischen Heidentums zur Zeit Julians nicht im mindesten ähnlich.


L. I-


Musikalische Zeitfragen
Hermann Krctzschinar von
8. Die Musik als dienende Auust

!s genügt nicht, die Musik breit und sicher zu fundieren; sie muß
auch richtig, d. h. so verwandt werden, daß sie ihre volle .Kraft
mach allen Seiten, wo sie gebraucht wird, und über das ganze
!Volk entfalten kann. Wir unterscheiden nach der Verwendung
Idie Musik als dienende und als freie Kunst. Sie dient überall,
wo sie sich außermusikalischen Zwecken unterordnet, sich in öffentliches und
bürgerliches Leben einfügt; sie ist frei, wo das musikalische Kunstwerk von allen
äußern Interessen gelöst rein und allein wirken soll. Zwischen diesen beide"


zweierlei ist so wichtig, daß dadurch die ausführliche Erwähnung Schmidts an
dieser Stelle gerechtfertigt erscheint. Seine Auffassung bedeutet die entschiedne
und endgiltige Absage der modernsten Wissenschaft an den „Weisen von Na-
zareth" der Nationalisten. Das Wesen des Christentums besteht nicht darin,
daß ein weiser Manu, der nur uoch ein wenig weiser und besser gewesen ist
als Sokrates, durch Wort und Beispiel als ein Lehrmeister künftiger Ge¬
schlechter bis heute wirkt, sondern darin, daß eine geheimnisvolle Persönlichkeit
durch ihren Tod der Menschheit eine neue Lebenskraft verliehen hat. Und
zweitens bedeutet diese Auffassung den entschiedensten Bruch mit dem prote¬
stantischen Schriftprinzip und die Rückkehr auf den katholischen Standpunkt;
die Rückkehr zu dem Glnubeu, daß der Geist Jesu in der Kirche lebt, ihr in
jedem Jahrhundert hilft, zu lehren und zu thun, was die Zeit erfordert, und
daß die Schrift selbst, wenn auch vielleicht das wertvollste, so doch eben mir
ein Produkt dieses in der Kirche waltenden Geistes ist. Selbstverständlich deckt
sich nicht etwa die Praxis der Papstkirche mit dieser katholischen Idee, denn
die Päpste und ihre Konzilien haben vieles gelehrt und angeordnet, was nicht
Ausfluß des göttlichen Geistes, sondern Volks- oder Zeitirrtum und dnrch das
hierarchische Interesse geboten war. Aber soweit sind wir heute, daß kein
protestantischer Philosoph und Theolog mehr nu die Buchstabeninspiration
glaubt oder das von der lebendigen Entwicklung der Menschheit losgelöste
tote Bibelwort für die alleinige Quelle aller Wahrheit hält. Vielmehr ist
man ganz allgemein, natürlich ohne es ausdrücklich zu sagen, zu der katho¬
lischen Idee zurückgekehrt, daß der göttliche Geist jeder Generation der Christen¬
heit zu der Erkenntnis verhilft, die sie braucht, ihren Glauben und ihre Liebes-
thätigkeit lebendig erhält und sie die den Zeitumständen angemessenen Ein¬
richtungen treffen lehrt. Und eben weil das Christentum die religiösen Be¬
dürfnisse der Völker auf jeder Stufe ihrer Entwicklung zu befriedigen vermagl
hat es von dieser Entwicklung nichts zu befürchten, und ist seine heutige Lage
der des griechischen Heidentums zur Zeit Julians nicht im mindesten ähnlich.


L. I-


Musikalische Zeitfragen
Hermann Krctzschinar von
8. Die Musik als dienende Auust

!s genügt nicht, die Musik breit und sicher zu fundieren; sie muß
auch richtig, d. h. so verwandt werden, daß sie ihre volle .Kraft
mach allen Seiten, wo sie gebraucht wird, und über das ganze
!Volk entfalten kann. Wir unterscheiden nach der Verwendung
Idie Musik als dienende und als freie Kunst. Sie dient überall,
wo sie sich außermusikalischen Zwecken unterordnet, sich in öffentliches und
bürgerliches Leben einfügt; sie ist frei, wo das musikalische Kunstwerk von allen
äußern Interessen gelöst rein und allein wirken soll. Zwischen diesen beide"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/200>, abgerufen am 01.09.2024.