Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

sächlich ist nun freilich der große Doppelstaat unter dem Geschlecht der Habs¬
burger noch das ungelöste Problem aus einen: Restbetrag der hier zur Er¬
starrung gelangten Völkerwanderung, Man mag es auch vom deutschen Stand¬
punkt aus beklagen, daß den Deutschen im Süden die Germnnisieruug der
östlichen Völkerschaften, wie sie im Norden geglückt ist, uicht gelang, vielleicht
konnte sie bei dem Maße der den Deutschen und den Fremden dort zu Ge¬
bote stehenden politischen Kräfte nicht geschehn, kurzum heute haust in dem
weiten Donaugebiete, ähnlich wie auf der Balkanhalbinsel, ein buntes Völker-
gemisch, kein Volk darunter stark genug, sich abzusondern und die andern zu
verschlingen, und darum allesamt darauf angewiesen, sich friedlich zu vertragen.
Damit scheint es freilich augenblicklich sehr windig auszusehen. Aber was
wollen drei, vier Jahrzehnte verfehlter Politik (seit dem Verluste der italienischen
Provinzen und der Lostrennung von Deutschland) für ein altes Staatengebilde
bedeuten? Deutschland hat sich nach einem jahrhundertelang dauernden Un¬
glück doch wieder zu dem mächtigen Zentralstaate zusammengefunden, und wenn
man das ausschließlich auf die Einheit der Nation schieben wollte, so würde
man einen schweren Irrtum begehn. Fassen wir dem gegenüber den Widerstreit der
Nationalitäten in Österreich von dem Standpunkt eiuer allgemeinen philosophischen
Politik, so bezeichnet er eine Entwicklungsstufe, die vor der liegt, die wir als
die eines Staates zu betrachten gewöhnt sind. Osterreich ist eigentlich noch
kein Staat, sondern nur ein Reich, worin allerdings die stciatenbildenden Ten¬
denzen rege geworden sind und zum Teil mächtig gegen einander wogen. Darum
aber hauptsächlich -- und nicht etwa zunächst infolge des in unsern Tagen
überall geschürften nationalen Bewußtseins -- strebt in Österreich jede, auch
die unbedeutendste Nationalität danach, mehr in den Mittelpunkt des Gnuzeu
zu treten und als dessen Kern zu erscheinen, um den sich die übrigen Völker¬
schaften herumlegen und fo allmählich alle zu einer Einheit verbunden werden
sollen. Eigentlich zentrifugale Tendenzen sind doch nur in einem Teile der
österreichischen Italiener und der ungarischen Rumänen, neuerdings much bei
den der großpolnischen Idee wieder nachjagenden Galiziern zu bemerken. Die
"Hohenzollerngelüste" der Schvnerericmer nimmt innerhalb wie außerhalb
Österreichs niemand für ernst. I" dem feindlichen Widerstreben der Nationen
gegeneinander liegt demnach auch noch keine Ursache für den möglichen Zer¬
fall Österreichs.

Staatspolitisch aufgefaßt stellt das heutige Österreich im wesentlichen un¬
gefähr noch deu Zustand dar, der in Frankreich vor Ludwig XI., in Preußen
vor dem Großen Kurfürsten bestand. Diese Länder haben seitdem eine lange
Entwicklung der absoluten und der bureaukratischen Monarchie durchlaufen,
sind dadurch innerlich geeinigt worden und sind mit einem Worte wirkliche
Staaten; der Franzose ist in jedem Falle Franzose, der Preuße fühlt sich zu
allererst als Preuße. Offenbar kann erst dann von einer Staatsverfassung
die Rede sein, wenn man es zu einem wirklichen Staate gebracht hat. Ju
Österreich könnte somit eigentlich nur eine Reichsverfassung am Platze sein-
Aber eine solche muß den Dienst versagen in einer Zeit, die längst den Staat
als die für das Leben der Völker geeignetste Form erkannt hat. Auch Oster-


sächlich ist nun freilich der große Doppelstaat unter dem Geschlecht der Habs¬
burger noch das ungelöste Problem aus einen: Restbetrag der hier zur Er¬
starrung gelangten Völkerwanderung, Man mag es auch vom deutschen Stand¬
punkt aus beklagen, daß den Deutschen im Süden die Germnnisieruug der
östlichen Völkerschaften, wie sie im Norden geglückt ist, uicht gelang, vielleicht
konnte sie bei dem Maße der den Deutschen und den Fremden dort zu Ge¬
bote stehenden politischen Kräfte nicht geschehn, kurzum heute haust in dem
weiten Donaugebiete, ähnlich wie auf der Balkanhalbinsel, ein buntes Völker-
gemisch, kein Volk darunter stark genug, sich abzusondern und die andern zu
verschlingen, und darum allesamt darauf angewiesen, sich friedlich zu vertragen.
Damit scheint es freilich augenblicklich sehr windig auszusehen. Aber was
wollen drei, vier Jahrzehnte verfehlter Politik (seit dem Verluste der italienischen
Provinzen und der Lostrennung von Deutschland) für ein altes Staatengebilde
bedeuten? Deutschland hat sich nach einem jahrhundertelang dauernden Un¬
glück doch wieder zu dem mächtigen Zentralstaate zusammengefunden, und wenn
man das ausschließlich auf die Einheit der Nation schieben wollte, so würde
man einen schweren Irrtum begehn. Fassen wir dem gegenüber den Widerstreit der
Nationalitäten in Österreich von dem Standpunkt eiuer allgemeinen philosophischen
Politik, so bezeichnet er eine Entwicklungsstufe, die vor der liegt, die wir als
die eines Staates zu betrachten gewöhnt sind. Osterreich ist eigentlich noch
kein Staat, sondern nur ein Reich, worin allerdings die stciatenbildenden Ten¬
denzen rege geworden sind und zum Teil mächtig gegen einander wogen. Darum
aber hauptsächlich — und nicht etwa zunächst infolge des in unsern Tagen
überall geschürften nationalen Bewußtseins — strebt in Österreich jede, auch
die unbedeutendste Nationalität danach, mehr in den Mittelpunkt des Gnuzeu
zu treten und als dessen Kern zu erscheinen, um den sich die übrigen Völker¬
schaften herumlegen und fo allmählich alle zu einer Einheit verbunden werden
sollen. Eigentlich zentrifugale Tendenzen sind doch nur in einem Teile der
österreichischen Italiener und der ungarischen Rumänen, neuerdings much bei
den der großpolnischen Idee wieder nachjagenden Galiziern zu bemerken. Die
„Hohenzollerngelüste" der Schvnerericmer nimmt innerhalb wie außerhalb
Österreichs niemand für ernst. I» dem feindlichen Widerstreben der Nationen
gegeneinander liegt demnach auch noch keine Ursache für den möglichen Zer¬
fall Österreichs.

Staatspolitisch aufgefaßt stellt das heutige Österreich im wesentlichen un¬
gefähr noch deu Zustand dar, der in Frankreich vor Ludwig XI., in Preußen
vor dem Großen Kurfürsten bestand. Diese Länder haben seitdem eine lange
Entwicklung der absoluten und der bureaukratischen Monarchie durchlaufen,
sind dadurch innerlich geeinigt worden und sind mit einem Worte wirkliche
Staaten; der Franzose ist in jedem Falle Franzose, der Preuße fühlt sich zu
allererst als Preuße. Offenbar kann erst dann von einer Staatsverfassung
die Rede sein, wenn man es zu einem wirklichen Staate gebracht hat. Ju
Österreich könnte somit eigentlich nur eine Reichsverfassung am Platze sein-
Aber eine solche muß den Dienst versagen in einer Zeit, die längst den Staat
als die für das Leben der Völker geeignetste Form erkannt hat. Auch Oster-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/238968"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_879" prev="#ID_878"> sächlich ist nun freilich der große Doppelstaat unter dem Geschlecht der Habs¬<lb/>
burger noch das ungelöste Problem aus einen: Restbetrag der hier zur Er¬<lb/>
starrung gelangten Völkerwanderung, Man mag es auch vom deutschen Stand¬<lb/>
punkt aus beklagen, daß den Deutschen im Süden die Germnnisieruug der<lb/>
östlichen Völkerschaften, wie sie im Norden geglückt ist, uicht gelang, vielleicht<lb/>
konnte sie bei dem Maße der den Deutschen und den Fremden dort zu Ge¬<lb/>
bote stehenden politischen Kräfte nicht geschehn, kurzum heute haust in dem<lb/>
weiten Donaugebiete, ähnlich wie auf der Balkanhalbinsel, ein buntes Völker-<lb/>
gemisch, kein Volk darunter stark genug, sich abzusondern und die andern zu<lb/>
verschlingen, und darum allesamt darauf angewiesen, sich friedlich zu vertragen.<lb/>
Damit scheint es freilich augenblicklich sehr windig auszusehen. Aber was<lb/>
wollen drei, vier Jahrzehnte verfehlter Politik (seit dem Verluste der italienischen<lb/>
Provinzen und der Lostrennung von Deutschland) für ein altes Staatengebilde<lb/>
bedeuten? Deutschland hat sich nach einem jahrhundertelang dauernden Un¬<lb/>
glück doch wieder zu dem mächtigen Zentralstaate zusammengefunden, und wenn<lb/>
man das ausschließlich auf die Einheit der Nation schieben wollte, so würde<lb/>
man einen schweren Irrtum begehn. Fassen wir dem gegenüber den Widerstreit der<lb/>
Nationalitäten in Österreich von dem Standpunkt eiuer allgemeinen philosophischen<lb/>
Politik, so bezeichnet er eine Entwicklungsstufe, die vor der liegt, die wir als<lb/>
die eines Staates zu betrachten gewöhnt sind. Osterreich ist eigentlich noch<lb/>
kein Staat, sondern nur ein Reich, worin allerdings die stciatenbildenden Ten¬<lb/>
denzen rege geworden sind und zum Teil mächtig gegen einander wogen. Darum<lb/>
aber hauptsächlich &#x2014; und nicht etwa zunächst infolge des in unsern Tagen<lb/>
überall geschürften nationalen Bewußtseins &#x2014; strebt in Österreich jede, auch<lb/>
die unbedeutendste Nationalität danach, mehr in den Mittelpunkt des Gnuzeu<lb/>
zu treten und als dessen Kern zu erscheinen, um den sich die übrigen Völker¬<lb/>
schaften herumlegen und fo allmählich alle zu einer Einheit verbunden werden<lb/>
sollen. Eigentlich zentrifugale Tendenzen sind doch nur in einem Teile der<lb/>
österreichischen Italiener und der ungarischen Rumänen, neuerdings much bei<lb/>
den der großpolnischen Idee wieder nachjagenden Galiziern zu bemerken. Die<lb/>
&#x201E;Hohenzollerngelüste" der Schvnerericmer nimmt innerhalb wie außerhalb<lb/>
Österreichs niemand für ernst. I» dem feindlichen Widerstreben der Nationen<lb/>
gegeneinander liegt demnach auch noch keine Ursache für den möglichen Zer¬<lb/>
fall Österreichs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_880" next="#ID_881"> Staatspolitisch aufgefaßt stellt das heutige Österreich im wesentlichen un¬<lb/>
gefähr noch deu Zustand dar, der in Frankreich vor Ludwig XI., in Preußen<lb/>
vor dem Großen Kurfürsten bestand. Diese Länder haben seitdem eine lange<lb/>
Entwicklung der absoluten und der bureaukratischen Monarchie durchlaufen,<lb/>
sind dadurch innerlich geeinigt worden und sind mit einem Worte wirkliche<lb/>
Staaten; der Franzose ist in jedem Falle Franzose, der Preuße fühlt sich zu<lb/>
allererst als Preuße. Offenbar kann erst dann von einer Staatsverfassung<lb/>
die Rede sein, wenn man es zu einem wirklichen Staate gebracht hat. Ju<lb/>
Österreich könnte somit eigentlich nur eine Reichsverfassung am Platze sein-<lb/>
Aber eine solche muß den Dienst versagen in einer Zeit, die längst den Staat<lb/>
als die für das Leben der Völker geeignetste Form erkannt hat. Auch Oster-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] sächlich ist nun freilich der große Doppelstaat unter dem Geschlecht der Habs¬ burger noch das ungelöste Problem aus einen: Restbetrag der hier zur Er¬ starrung gelangten Völkerwanderung, Man mag es auch vom deutschen Stand¬ punkt aus beklagen, daß den Deutschen im Süden die Germnnisieruug der östlichen Völkerschaften, wie sie im Norden geglückt ist, uicht gelang, vielleicht konnte sie bei dem Maße der den Deutschen und den Fremden dort zu Ge¬ bote stehenden politischen Kräfte nicht geschehn, kurzum heute haust in dem weiten Donaugebiete, ähnlich wie auf der Balkanhalbinsel, ein buntes Völker- gemisch, kein Volk darunter stark genug, sich abzusondern und die andern zu verschlingen, und darum allesamt darauf angewiesen, sich friedlich zu vertragen. Damit scheint es freilich augenblicklich sehr windig auszusehen. Aber was wollen drei, vier Jahrzehnte verfehlter Politik (seit dem Verluste der italienischen Provinzen und der Lostrennung von Deutschland) für ein altes Staatengebilde bedeuten? Deutschland hat sich nach einem jahrhundertelang dauernden Un¬ glück doch wieder zu dem mächtigen Zentralstaate zusammengefunden, und wenn man das ausschließlich auf die Einheit der Nation schieben wollte, so würde man einen schweren Irrtum begehn. Fassen wir dem gegenüber den Widerstreit der Nationalitäten in Österreich von dem Standpunkt eiuer allgemeinen philosophischen Politik, so bezeichnet er eine Entwicklungsstufe, die vor der liegt, die wir als die eines Staates zu betrachten gewöhnt sind. Osterreich ist eigentlich noch kein Staat, sondern nur ein Reich, worin allerdings die stciatenbildenden Ten¬ denzen rege geworden sind und zum Teil mächtig gegen einander wogen. Darum aber hauptsächlich — und nicht etwa zunächst infolge des in unsern Tagen überall geschürften nationalen Bewußtseins — strebt in Österreich jede, auch die unbedeutendste Nationalität danach, mehr in den Mittelpunkt des Gnuzeu zu treten und als dessen Kern zu erscheinen, um den sich die übrigen Völker¬ schaften herumlegen und fo allmählich alle zu einer Einheit verbunden werden sollen. Eigentlich zentrifugale Tendenzen sind doch nur in einem Teile der österreichischen Italiener und der ungarischen Rumänen, neuerdings much bei den der großpolnischen Idee wieder nachjagenden Galiziern zu bemerken. Die „Hohenzollerngelüste" der Schvnerericmer nimmt innerhalb wie außerhalb Österreichs niemand für ernst. I» dem feindlichen Widerstreben der Nationen gegeneinander liegt demnach auch noch keine Ursache für den möglichen Zer¬ fall Österreichs. Staatspolitisch aufgefaßt stellt das heutige Österreich im wesentlichen un¬ gefähr noch deu Zustand dar, der in Frankreich vor Ludwig XI., in Preußen vor dem Großen Kurfürsten bestand. Diese Länder haben seitdem eine lange Entwicklung der absoluten und der bureaukratischen Monarchie durchlaufen, sind dadurch innerlich geeinigt worden und sind mit einem Worte wirkliche Staaten; der Franzose ist in jedem Falle Franzose, der Preuße fühlt sich zu allererst als Preuße. Offenbar kann erst dann von einer Staatsverfassung die Rede sein, wenn man es zu einem wirklichen Staate gebracht hat. Ju Österreich könnte somit eigentlich nur eine Reichsverfassung am Platze sein- Aber eine solche muß den Dienst versagen in einer Zeit, die längst den Staat als die für das Leben der Völker geeignetste Form erkannt hat. Auch Oster-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/180
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/180>, abgerufen am 01.09.2024.